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Zum Heuchler werden. — Jeder Bettler wird zum Heuchler; wie jeder, der aus einem Mangel, aus einem Notstand (sei dies ein persönlicher oder ein öffentlicher) seinen Beruf macht. — Der Bettler empfindet den Mangel lange nicht so, als er ihn empfinden machen muß, wenn er vom Betteln leben will.

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Eine Art Kultus der Leidenschaften. — Ihr Düsterlinge und philosophischen Blindschleichen redet, um den Charakter des ganzen Weltwesens anzuklagen, von dem furchtbaren Charakter der menschlichen Leidenschaften. Als ob überall, wo es Leidenschaft gegeben hat, es auch Furchtbarkeit gegeben hätte! Als ob es immerfort in der Welt diese Art von Furchtbarkeit geben müßte! — Durch eine Vernachlässigung im kleinen, durch Mangel an Selbst-Beobachtung und Beobachtung derer, welche erzogen werden sollen, habt ihr selber erst die Leidenschaften zu solchen Untieren anwachsen lassen, daß euch jetzt schon beim Worte» Leidenschaft «Furcht befällt! Es stand bei euch und steht bei uns, den Leidenschaften ihren furchtbaren Charakter zu nehmen und dermaßen vorzubeugen, daß sie nicht zu verheerenden Wildwassern werden. — Man soll seine Versehen nicht zu ewigen Fatalitäten aufblasen; vielmehr wollen wir redlich mit an der Aufgabe arbeiten, die Leidenschaften der Menschheit allesamt in Freudenschaften umzuwandeln.

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Gewissensbiß. — Der Gewissensbiß ist, wie der Biß des Hundes gegen einen Stein, eine Dummheit.

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Ursprung der Rechte. — Die Rechte gehen zunächst auf Herkommen zurück, das Herkommen auf ein einmaliges Abkommen. Man war irgendwann einmal beiderseitig mit den Folgen des getroffenen Abkommens zufrieden und wiederum zu träge, um es förmlich zu erneuern; so lebte man fort, wie wenn es immer erneuert worden wäre, und allmählich, als die Vergessenheit ihre Nebel über den Ursprung breitete, glaubte man einen heiligen, unverrückbaren Zustand zu haben, auf dem jedes Geschlecht weiterbauen müsse. Das Herkommen war jetzt Zwang, auch wenn es den Nutzen nicht mehr brachte, dessentwegen man ursprünglich das Abkommen gemacht hatte. — Die Schwachen haben hier ihre feste Burg zu allen Zeiten gefunden: sie neigen dahin, das einmalige Abkommen, die Gnadenerweisung zu verewigen.

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Die Bedeutung des Vergessens in der moralischen Empfindung. — Dieselben Handlungen, welche innerhalb der ursprünglichen Gesellschaft zuerst die Absicht auf gemeinsamen Nutzen eingab, sind später von anderen Generationen auf andere Motive hin getan worden: aus Furcht oder Ehrfurcht vor denen, die sie forderten und anempfahlen, oder aus Gewohnheit, weil man sie von Kindheit an um sich hatte tun sehen, oder aus Wohlwollen, weil ihre Ausübung überall Freude und zustimmende Gesichter schuf, oder aus Eitelkeit, weil sie gelobt wurden. Solche Handlungen, an denen das Grundmotiv, das der Nützlichkeit, vergessen worden ist, heißen dann moralische: nicht etwa weil sie aus jenen anderen Motiven, sondern weil sie nicht aus bewußter Nützlichkeit getan werden. — Woher dieser Haß gegen den Nutzen, der hier sichtbar wird, wo sich alles lobenswerte Handeln gegen das Handeln um des Nutzens willen förmlich abschließt? — Offenbar hat die Gesellschaft, der Herd aller Moral und aller Lobsprüche des moralischen Handelns, allzu lange und allzu hart mit dem Eigen-Nutzen und Eigen-Sinne des einzelnen zu kämpfen gehabt, um nicht zuletzt jedes andere Motiv sittlich höher zu taxieren als den Nutzen. So entsteht der Anschein, als ob die Moral nicht aus dem Nutzen herausgewachsen sei; während sie ursprünglich der Gesellschafts-Nutzen ist, der große Mühe hatte, sich gegen alle die Privat-Nützlichkeiten durchzusetzen und in höheres Ansehen zu bringen.

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Die Erbreichen der Moralität. — Es gibt auch im Moralischen einen Erb-Reichtum: ihn besitzen die Sanften, Gutmütigen, Mitleidigen, Mildtätigen, welche alle die gute Handlungsweise, aber nicht die Vernunft (die Quelle derselben) von ihren Vorfahren her mitbekommen haben. Das Angenehme an diesem Reichtum ist, daß man von ihm fortwährend darreichen und mitteilen muß, wenn er überhaupt empfunden werden soll, und daß er so unwillkürlich daran arbeitet, die Abstände zwischen moralisch-reich und — arm geringer zu machen: und zwar, was das merkwürdigste und beste ist, nicht zugunsten eines dereinstigen Mittelmaßes zwischen arm und reich, sondern zugunsten eines allgemeinen Reich- und Überreich-werdens. — So wie hier geschehen ist, läßt sich etwa die herrschende Ansicht über den moralischen Erbreichtum zusammenfassen: aber es scheint mir, daß dieselbe mehr in majorem gloriam der Moralität, als zu Ehren der Wahrheit aufrechterhalten wird. Die Erfahrung mindestens stellt einen Satz auf, welcher, wenn nicht als Widerlegung, jedenfalls als bedeutende Einschränkung jener Allgemeinheit zu gelten hat. Ohne den erlesensten Verstand, so sagt die Erfahrung, ohne die Fähigkeit der feinsten Wahl und einen starken Hang zum Maßhalten werden die Moralisch-Erbreichen zu Verschwendern der Moralität: indem sie haltlos sich ihren mitleidigen, mildtätigen, versöhnenden, beschwichtigenden Trieben überlassen, machen sie alle Welt um sich nachlässiger, begehrlicher und sentimentaler. Die Kinder solcher höchst moralischen Verschwender sind daher leicht und, wie leider zu sagen ist, bestenfalls — angenehme schwächliche Taugenichtse.

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Der Richter und die Milderungsgründe. — »Man soll auch gegen den Teufel honett sein und seine Schulden bezahlen«, sagte ein alter Soldat, als man ihm die Geschichte Faustens etwas genauer erzählt hatte,»Faust gehört in die Hölle!«—»O ihr schrecklichen Männer!«rief seine Gattin aus,»wie ist das nur möglich! Er hat ja nichts getan, als keine Tinte im Tintenfaß gehabt! Mit Blut schreiben ist freilich eine Sünde, aber deshalb soll ein so schöner Mann doch nicht brennen?»

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Problem der Pflicht zur Wahrheit. — Pflicht ist ein zwingendes, zur Tat drängendes Gefühl, das wir gut nennen und für undiskutierbar halten (- über Ursprung, Grenze und Berechtigung desselben wollen wir nicht reden und nicht geredet haben). Der Denker hält aber alles für geworden und alles Gewordene für diskutierbar, ist also der Mann ohne Pflicht, — solange er eben nur Denker ist. Als solcher würde er also auch die Pflicht, die Wahrheit zu sehen und zu sagen, nicht anerkennen und dies Gefühl nicht fühlen, er fragt: woher kommt sie? wohin will sie? aber dies Fragen selber wird von ihm als fragwürdig angesehen. Hätte dies aber nicht zur Folge, daß die Maschine des Denkers nicht mehr recht arbeitet, wenn er sich beim Akte des Erkennens wirklich unverpflichtet fühlen könnte? Insofern scheint hier zur Heizung dasselbe Element nötig zu sein, das vermittelst der Maschine untersucht werden soll. — Die Formel würde vielleicht sein: angenommen es gäbe eine Pflicht, die Wahrheit zu erkennen, wie lautet die Wahrheit dann in bezug auf jede andere Art von Pflicht? — Aber ist ein hypothetisches Pflichtgefühl nicht ein Widersinn?

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Stufen der Moral. — Moral ist zunächst ein Mittel, die Gemeinde überhaupt zu erhalten und den Untergang von ihr abzuwehren; sodann ist sie ein Mittel, die Gemeinde auf einer gewissen Höhe und in einer gewissen Güte zu erhalten. Ihre Motive sind Furcht und Hoffnung: und zwar um so derbere, mächtigere, gröbere, als der Hang zum Verkehrten, Einseitigen, Persönlichen noch sehr stark ist. Die entsetzlichsten Angstmittel müssen hier Dienste tun, solange noch keine milderen wirken wollen und jene doppelte Art der Erhaltung sich nicht anders erreichen läßt (zu ihren allerstärksten gehört die Erfindung eines Jenseits mit einer ewigen Hölle). Weitere Stufen der Moral und also Mittel zum bezeichneten Zwecke sind die Befehle eines Gottes (wie das mosaische Gesetz); noch weitere und höhere die Befehle eines absoluten Pflichtbegriffs mit dem» du sollst«, — alles noch ziemlich grob zugehauene, aber breite Stufen, weil die Menschen auf die feineren, schmäleren ihren Fuß noch nicht zu setzen wissen. Dann kommt eine Moral der Neigung, des Geschmacks, endlich die der Einsicht — welche über alle illusionären Motive der Moral hinaus ist, aber sich klar gemacht hat, wie die Menschheit lange Zeiten hindurch keine anderen haben durfte.

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Moral des Mitleidens im Munde der Unmäßigen. — Alle die, welche sich selber nicht genug in der Gewalt haben und die Moralität nicht als fortwährende im großen und kleinsten geübte Selbstbeherrschung und Selbstüberwindung kennen, werden unwillkürlich zu Verherrlichern der guten, mitleidigen, wohlwollenden Regungen, jener instinktiven Moralität, welche keinen Kopf hat, sondern nur aus Herz und hilfreichen Händen zu bestehen scheint. Ja es ist in ihrem Interesse, eine Moralität der Vernunft zu verdächtigen und jene andere zur alleinigen zu machen.

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Kloaken der Seele. — Auch die Seele muß ihre bestimmten Kloaken haben, wohin sie ihren Unrat abfließen läßt: dazu dienen Personen, Verhältnisse, Stände oder das Vaterland oder die Welt oder endlich — für die ganz Hoffärtigen (ich meine unsere lieben modernen» Pessimisten«) — der liebe Gott.

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Eine Art von Ruhe und Beschaulichkeit. — Hüte dich, daß deine Ruhe und Beschaulichkeit nicht der des Hundes vor einem Fleischerladen gleicht, den die Furcht nicht vorwärts und die Begierde nicht rückwärts gehen läßt: und der die Augen aufsperrt, als ob sie Münder wären.

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Das Verbot ohne Gründe. — Ein Verbot, dessen Gründe wir nicht verstehen oder zugeben, ist nicht nur für den Trotzkopf, sondern auch für den Erkenntnisdurstigen fast ein Geheiß: man läßt es auf den Versuch ankommen, um so zu erfahren, weshalb das Verbot gegeben ist. Moralische Verbote, wie die des Dekalogs, passen nur für Zeitalter der unterworfenen Vernunft: jetzt würde ein Verbot» du sollst nicht töten«,»du sollst nicht ehebrechen«, ohne Gründe hingestellt, eher eine schädliche als eine nützliche Wirkung haben.

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Charakterbild. — Was ist das für ein Mensch, der von sich sagen kann:»ich verachte sehr leicht, aber hasse nie. An jedem Menschen finde ich sofort etwas heraus, das zu ehren ist und dessentwegen ich ihn ehre; die sogenannten liebenswürdigen Eigenschaften ziehen mich wenig an«.

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Mitleiden und Verachtung. — Mitleiden äußern wird als ein Zeichen der Verachtung empfunden, weil man ersichtlich aufgehört hat, ein Gegenstand der Furcht zu sein, sobald einem Mitleiden erwiesen wird. Man ist unter das Niveau des Gleichgewichts hinabgesunken, während schon jenes der menschlichen Eitelkeit nicht genugtut, sondern erst das Hervorragen und Furchteinflößen der Seele das erwünschteste aller Gefühle gibt. Deshalb ist es ein Problem, wie die Schätzung des Mitleids aufgekommen ist, ebenso wie erklärt werden muß, warum jetzt der Uneigennützige gelobt wird: ursprünglich wird er verachtet oder als tückisch gefürchtet.