Eine Affektation beim Abschiede. — Wer sich von einer Partei oder Religion trennen will, meint, es sei nun für ihn nötig, sie zu widerlegen. Aber dies ist sehr hochmütig gedacht. Nötig ist nur, daß er klar einsieht, welche Klammern ihn bisher an diese Partei oder Religion anhielten und daß sie es nicht mehr tun, was für Absichten ihn dahin getrieben haben und daß sie jetzt anderswohin treiben. Wir sind nicht aus strengen Erkenntnisgründen auf die Seite jener Partei oder Religion getreten: wir sollen dies, wenn wir von ihr scheiden, auch nicht affektieren.
Heiland und Arzt. — Der Stifter des Christentums war, wie es sich von selber versteht, als Kenner der menschlichen Seele nicht ohne die größten Mängel und Voreingenommenheiten und als Arzt der Seele dem so anrüchigen und laienhaften Glauben an eine Universalmedizin ergeben. Er gleicht in seiner Methode mitunter jenem Zahnarzte, der jeden Schmerz durch Ausreißen des Zahnes heilen will; so zum Beispiel, indem er gegen die Sinnlichkeit mit dem Ratschlage ankämpft:»Wenn dich dein Auge ärgert, so reiße es aus.«— Aber es bleibt doch noch der Unterschied, daß jener Zahnarzt wenigstens sein Ziel erreicht, die Schmerzlosigkeit des Patienten; freilich auf so plumpe Art, daß er lächerlich wird: während der Christ, der jenem Ratschlage folgt und seine Sinnlichkeit ertötet zu haben glaubt, sich täuscht: sie lebt auf eine unheimliche, vampyrische Art fort und quält ihn in widerlichen Vermummungen.
Die Gefangenen. — Eines Morgens traten die Gefangenen in den Arbeitshof: der Wärter fehlte. Die einen von ihnen gingen, wie es ihre Art war, sofort an die Arbeit, andere standen müßig und blickten trotzig umher. Da trat einer vor und sagte laut:»Arbeitet so viel ihr wollt oder tut nichts: es ist alles gleich. Eure geheimen Anschläge sind ans Licht gekommen, der Gefängniswärter hat euch neulich belauscht und will in den nächsten Tagen ein fürchterliches Gericht über euch ergehen lassen. Ihr kennt ihn, er ist hart und nachträgerischen Sinnes. Nun aber merkt auf: ihr habt mich bisher verkannt: ich bin nicht, was ich scheine, sondern viel mehr: ich bin der Sohn des Gefängniswärters und gelte alles bei ihm. Ich kann euch retten, ich will euch retten; aber, wohlgemerkt, nur diejenigen von euch, welche mir glauben, daß ich der Sohn des Gefängniswärters bin; die übrigen mögen die Früchte ihres Unglaubens ernten.«»Nun«, sagte nach einigem Schweigen ein älterer Gefangener,»was kann dir daran gelegen sein, ob wir es dir glauben oder nicht glauben? Bist du wirklich der Sohn und vermagst du das, was du sagst, so lege ein gutes Wort für uns alle ein: es wäre wirklich recht gutmütig von dir. Das Gerede von Glauben und Unglauben aber laß beiseite!«»Und«, rief ein jüngerer Mann dazwischen,»ich glaub' es ihm auch nicht: er hat sich nur etwas in den Kopf gesetzt. Ich wette, in acht Tagen befinden wir uns gerade noch so hier wie heute, und der Gefängniswärter weiß nichts.«»Und wenn er etwas gewußt hat, so weiß er's nicht mehr«, sagte der letzte der Gefangenen, der jetzt erst in den Hof hinabkam,»der Gefängniswärter ist eben plötzlich gestorben.«—»Holla«, schrien mehrere durcheinander,»holla! Herr Sohn, Herr Sohn, wie steht es mit der Erbschaft? Sind wir vielleicht jetzt deine Gefangenen?«—»Ich habe es euch gesagt«, entgegnete der Angeredete mild,»ich werde jeden freilassen, der an mich glaubt, so gewiß als mein Vater noch lebt.«— Die Gefangenen lachten nicht, zuckten aber mit den Achseln und ließen ihn stehen.
Der Verfolger Gottes. — Paulus hat den Gedanken ausgedacht, Calvin ihn nachgedacht, daß Unzähligen seit Ewigkeiten die Verdammnis zuerkannt ist und daß dieser schöne Weltenplan so eingerichtet wurde, damit die Herrlichkeit Gottes sich daran offenbare: Himmel und Hölle und Menschheit sollen also da sein, — um die Eitelkeit Gottes zu befriedigen! Welche grausame und unersättliche Eitelkeit muß in der Seele dessen geflackert haben, der so etwas sich zuerst oder zu zweit ausdachte! — Paulus ist also doch Saulus geblieben — der Verfolger Gottes.
Sokrates. — Wenn alles gut geht, wird die Zeit kommen, da man, um sich sittlich-vernünftig zu fördern, lieber die Memorabilien des Sokrates in die Hand nimmt als die Bibel, und wo Montaigne und Horaz als Vorläufer und Wegweiser zum Verständnis des einfachsten und unvergänglichsten Mittler-Weisen, des Sokrates, benutzt werden. Zu ihm führen die Straßen der verschiedensten philosophischen Lebensweisen zurück, welche im Grunde die Lebensweisen der verschiedenen Temperamente sind, festgestellt durch Vernunft und Gewohnheit und allesamt mit ihrer Spitze hin nach der Freude am Leben und am eignen Selbst gerichtet; woraus man schließen möchte, daß das Eigentümlichste an Sokrates ein Anteilhaben an allen Temperamenten gewesen ist. — Vor dem Stifter des Christentums hat Sokrates die fröhliche Art des Ernstes und jene Weisheit voller Schelmenstreiche voraus, welche den besten Seelenzustand des Menschen ausmacht. Überdies hatte er den größeren Verstand.
Gut schreiben lernen. — Die Zeit des Gutredens ist vorbei, weil die Zeit der Stadt-Kulturen vorbei ist. Die letzte Grenze, welche Aristoteles der großen Stadt erlaubte — es müsse der Herold noch imstande sein, sich der ganzen versammelten Gemeinde vernehmbar zu machen — , diese Grenze kümmert uns so wenig, als uns überhaupt noch Stadtgemeinden kümmern, uns, die wir selbst über die Völker hinweg verstanden werden wollen. Deshalb muß jetzt ein jeder, der gut europäisch gesinnt ist, gut und immer besser schreiben lernen: es hilft nichts, und wenn er selbst in Deutschland geboren ist, wo man das Schlecht-schreiben als nationales Vorrecht behandelt. Besser schreiben aber heißt zugleich auch besser denken; immer Mitteilenswerteres erfinden und es wirklich mitteilen können; übersetzbar werden für die Sprachen der Nachbarn; zugänglich sich dem Verständnisse jener Ausländer machen, welche unsere Sprache lernen; dahin wirken, daß alles Gute Gemeingut werde und den Freien alles frei stehe; endlich, jenen jetzt noch so fernen Zustand der Dinge vorbereiten, wo den guten Europäern ihre große Aufgabe in die Hände fällt: die Leitung und Überwachung der gesamten Erdkultur. — Wer das Gegenteil predigt, sich nicht um das Gutschreiben und Gutlesen zu kümmern — beide Tugenden wachsen miteinander und nehmen miteinander ab — , der zeigt in der Tat den Völkern einen Weg, wie sie immer noch mehr national werden können: er vermehrt die Krankheit dieses Jahrhunderts und ist ein Feind der guten Europäer, ein Feind der freien Geister.
Die Lehre vom besten Stile. — Die Lehre vom Stil kann einmal die Lehre sein, den Ausdruck zu finden, vermöge dessen man jede Stimmung auf den Leser und Hörer überträgt; sodann die Lehre, den Ausdruck für die wünschenswerteste Stimmung eines Menschen zu finden, deren Mitteilung und Übertragung also auch am meisten zu wünschen ist: für die Stimmung des von Herzensgrund bewegten, geistig freudigen, hellen und aufrichtigen Menschen, der die Leidenschaften überwunden hat. Dies wird die Lehre vom besten Stile sein: er entspricht dem guten Menschen.
Auf den Gang acht geben. — Der Gang der Sätze zeigt, ob der Autor ermüdet ist; der einzelne Ausdruck kann dessenungeachtet immer noch stark und gut sein, weil er für sich und früher gefunden wurde: damals als der Gedanke dem Autor zuerst aufleuchtete. So ist es häufig bei Goethe, der zu oft diktierte, wenn er müde war.
Schon und noch. —
A: Die deutsche Prosa ist noch sehr jung: Goethe meint, daß Wieland ihr Vater sei.
B: So jung und schon so häßlich!
C: Aber — soviel mir bekannt, schrieb schon der Bischof Ulfilas deutsche Prosa; sie ist also gegen 1500 Jahre alt.
B: So alt und noch so häßlich!
Original-deutsch. — Die deutsche Prosa, welche in der Tat nicht nach einem Muster gebildet ist und wohl als originales Erzeugnis des deutschen Geschmacks zu gelten hat, dürfte den eifrigen Anwälten einer zukünftigen, originalen, deutschen Kultur einen Fingerzeig geben, wie etwa, ohne Nachahmung von Mustern, eine wirklich deutsche Tracht, eine deutsche Geselligkeit, eine deutsche Zimmereinrichtung, ein deutsches Mittagsessen aussehen werde. — Jemand, der längere Zeit über diese Aussichten nachgedacht hatte, rief endlich in vollem Schrecken aus:»Aber, um des Himmels willen, vielleicht haben wir schon diese originale Kultur — man spricht nur nicht gerne davon!»
Verbotene Bücher. — Nie etwas lesen, was jene arroganten Vielwisser und Wirrköpfe schreiben, welche die abscheulichste Unart, die der logischen Paradoxie haben: sie wenden die logischen Formen gerade dort an, wo alles im Grunde frech improvisiert und in die Luft gebaut ist. (»Also «soll bei ihnen heißen» du Esel von Leser, für dich gib es dies `also' nicht — wohl aber für mich«— worauf die Antwort lautet:»du Esel von Schreiber, wozu schreibst du denn?«)
Geist zeigen. — Jeder, der seinen Geist zeigen will, läßt merken, daß er auch reichlich vom Gegenteil hat. Jene Unart geistreicher Franzosen, ihren besten Einfällen einen Zug von dédain beizugeben, hat ihren Ursprung in der Absicht, für reicher zu gelten, als sie sind: sie wollen lässig schenken, gleichsam ermüdet vom beständigen Spenden aus übervollen Schatzhäusern.
Deutsche und französische Literatur. — Das Unglück der deutschen und französischen Literatur der letzten hundert Jahre liegt darin, daß die Deutschen zu zeitig aus der Schule der Franzosen gelaufen sind — und die Franzosen, späterhin, zu zeitig in die Schule der Deutschen.
Unsere Prosa. — Keines der jetzigen Kulturvölker hat eine so schlechte Prosa wie das deutsche; und wenn geistreiche und verwöhnte Franzosen sagen: es gibt keine deutsche Prosa — so dürfte man eigentlich nicht böse werden, da es artiger gemeint ist, als wir's verdienen. Sucht man nach den Gründen, so kommt man zuletzt zu dem seltsamen Ergebnis, daß der Deutsche nur die improvisierte Prosa kennt und von einer anderen gar keinen Begriff hat. Es klingt ihm schier unbegreiflich, wenn ein Italiener sagt, daß Prosa gerade um so viel schwerer sei als Poesie, um wie viel die Darstellung der nackten Schönheit für den Bildhauer schwerer sei als die der bekleideten Schönheit. Um Vers, Bild, Rhythmus und Reim hat man sich redlich zu bemühen — das begreift auch der Deutsche und ist nicht geneigt, der Stegreif-Dichtung einen besonders hohen Wert zuzumessen. Aber an einer Seite Prosa wie an einer Bildsäule arbeiten? — es ist ihm, also ob man ihm etwas aus dem Fabelland vorerzählte.