Wolfgang Hohlbein
DER WANDERNDE WALD
MEINEM FREUND DIETER WINKLER, DER ENWOR ERSCHUF UND SKAR UND DEL ZUM LEBEN ERWECKTE
scanned by nickslaughter 2001
1.
Skar blinzelte müde und fuhr sich mit einer nervösen Geste durch das schweißverklebte Haar. Der Wind trug den Geruch von Staub und Wärme mit sich, und über den Dünen im Westen tanzte der dünne Schlauch einer Windhose über der Wüste, ein schmaler, schattenhafter Strich, der sich in beständiger ungewisser Bewegung befand und sich irgendwo auf halbem Wege zwischen Himmel und Erde verlor. Er schloß die Augen, fuhr sich mit der Zunge über die rissigen, aufgesprungenen Lippen und atmete tief durch. Auf seinen Netzhäuten flimmerten zwei grellrote, schmerzhafte Kreise, hinter denen er immer noch die endlosen braunen Sanddünen zu erkennen glaubte, die sich mit monotoner Gleichförmigkeit bis zum Horizont und darüber hinaus erstreckten. Vielleicht bis ans Ende der Welt.
Es war warm; eine trockene, unangenehme Wärme, die bereits in ganz kurzer Zeit in unerträgliche Hitze übergehen würde. Allein der Gedanke daran ließ ihn innerlich aufstöhnen. Die Sonne war erst vor wenigen Minuten ganz über den Horizont gekrochen, aber ihre Strahlen sengten bereits jetzt unbarmherzig auf das schutzlose Land herunter. Der Wind, der böig und trocken von Westen her über die Wüste fuhr und raschelnd mit Staub und Sandkörnern spielte, brachte keine Linderung, selbst jetzt schon nicht mehr, sondern schien die mörderische Kraft der Sonne eher noch zu verstärken und auch noch das letzte bißchen Flüssigkeit aus Skars hager gewordenem Körper herauszusaugen.
Er seufzte, öffnete die Augen und drehte sich einmal um seine Achse. Aber das Bild war überall gleich, ganz egal, in welche Richtung er blickte. Er wußte nicht mehr, wo Norden war, oder Süden oder Westen. Die Himmelsrichtungen verloren ihre Bedeutung, wenn der Tod überall lauerte, ganz egal, wohin sie sich wandten. Die Wüste begann irgendwo jenseits des Horizonts - jedes Horizonts in jeder beliebigen Richtung -, erstreckte sich eintönig von einem Ende der Welt zum anderen und verschmolz irgendwo in unbestimmbarer Entfernung mit dem Himmel. Wenn er lange genug hinsah, begann das Bild vor seinen Augen zu verschwimmen. Der Blick fand in der eintönigen Landschaft keinen Halt, glitt immer wieder von den runden Buckeln der Sanddünen ab und stürzte in die dunklen Hügeltäler hinab. Das monotone Auf und Nieder der Dünen schien sich zu einem geheimnisvollen Muster zu ordnen: der Körper eines gigantischen, vieltausendfach gegliederten Dinges, auf dessen Rücken sie wie winzige Insekten herumkrabbelten. Beinahe, als würde die Wüste im gleichen Maße selbst zum Leben erwachen, in dem sie das Leben aus ihnen heraussaugte.
Skar schüttelte unwillig den Kopf und begann die Düne hinunterzulaufen. Er ging schräg und langsam, setzte immer bedachtsam den ganzen Fuß auf und verlagerte sein Körpergewicht, ehe er das andere Bein nachzog. Eine Technik, die er bereits am ersten Tag ihrer Wanderung durch diese verdammte Wüste entwickelt hatte. Es gab kaum etwas Unangenehmeres als einen Sturz in diesen staubfeinen, trockenen Sand. Noch nach Tagen hatte man das staubige Zeug in Mund und Nase. Del sah müde auf, als Skar neben ihm anlangte. »Nun?«
Skar hakte die Daumen hinter den Gürtel und wippte sanft auf den Fußballen. Die Geste spielte Del eine Gelassenheit vor, die er schon lange nicht mehr verspürte. »Nichts.«
Das Flackern in Dels Augen verstärkte sich unmerklich. Natürlich hatte er gewußt, wie Skars Antwort ausfallen würde. Aber genau wie Skar selbst klammerte er sich an die immer kleiner werdende Hoffnung, daß die Wüste vielleicht doch hinter dem nächsten Hügel endete, daß das monotone, gelbbraune Einerlei irgendwo aufhörte, ganz egal wo und ganz egal, was dahinter wartete.
»Bist du sicher, daß wir die Richtung nicht verfehlt haben?« fragte er nach einer Weile.
Skar zuckte nur stumm die Achseln und ging zu den Pferden hinüber. Die Tiere sahen ihm aus trüben, entzündeten Augen entgegen und schnaubten matt, als er näher kam. Es waren kleine, struppige Steppenponys, die mit ihren langen Mähnen und dem wolligen, fettgetränkten Fell viel besser für ein Überleben in den Eiswüsten des Nordens geeignet waren als für einen Marsch durch die Sandwüste. Sie mußten unter der mörderischen Hitze noch mehr leiden als ihre Reiter. Aber die beiden Satai konnten ihren Schmerz und ihre Verzweiflung wenigstens noch hinausschreien.
Skar tätschelte müde die Nüstern seines Tieres und flüsterte ihm leise, beruhigende Worte zu. Das Pferd wieherte schwach und scharrte mit den Vorderhufen im Sand, fast als hätte es verstanden, was sein Herr gesagt hatte.
»Wir müssen weiter«, murmelte er, ohne sich umzudrehen. »In ein paar Stunden ist es zu heiß zum Reiten.«
Er hörte, wie Del umständlich aufstand und sein Sattelzeug zusammensuchte. Skar hatte sein eigenes Tier schon vor Stunden gesattelt, lange bevor die Sonne aufgegangen war und mit ihrer unbarmherzigen Glast jede noch so kleine Bewegung zur Qual werden ließ. Wahrscheinlich wäre er jetzt gar nicht mehr fähig gewesen, den schweren Sattel vom Boden hochzuwuchten und auf den Rücken des Pferdes zu stemmen. Er hatte in dieser Nacht - wie in den Nächten zuvor - kaum geschlafen. Obwohl er seinem Körper das Letzte abverlangt hatte, verspürte er noch immer die gleiche Unruhe und Rastlosigkeit wie am ersten Tag. Jeder einzelne seiner schmerzenden Muskeln schrie nach Ruhe, aber sein Geist weigerte sich, dem Körper dieses Bedürfnis zu erfüllen. Selbst die wenigen Stunden, die er wirklich geschlafen hatte, waren von Alpträumen und Visionen geplagt gewesen, und er war müder und zerschlagener aufgewacht, als er sich hingelegt hatte. Auch in dieser Nacht war es nicht anders gewesen. Stundenlang hatte er auf dem Hügelkamm über dem Lager gehockt und Wache gehalten. Niemand wäre so wahnsinnig, sie bis hierher zu verfolgen. Nicht einmal die Quorrl. Das letzte Mal, daß sie ihre Spur in Form einer riesigen, trägen Staubwolke über dem Horizont gesehen hatten, war vor drei Tagen gewesen.
Er lehnte sich gegen die struppige Flanke des Tieres, tastete mit der Linken nach der Mähne und krallte sich hinein, um nicht zusammenzubrechen. Natürlich würde das nicht wirklich geschehen - zwischen ihm und dem Moment, in dem seine Beine das Gewicht des Körpers nicht mehr zu tragen imstande waren, lag immer noch Zeit. Aber es war nur noch reine Willenskraft, Konzentration, die er auch bei den einfachsten Handlungen aufbringen mußte. Und er spürte auch, wie das Reservoir an Kraft in seinem Inneren mit jedem Atemzug, den er sich abquälte, mehr zusammenschrumpfte.
Neben ihm quälte sich Del mit dem Sattelzeug ab. Seine Brust hob und senkte sich in schnellen Stößen, und sein Gesicht glänzte vor Schweiß. Er keuchte. Eigentlich wäre es Skars Pflicht gewesen, ihm zu helfen, aber selbst dazu fehlte ihm die Kraft. Dabei war jetzt, kurz nach Sonnenaufgang, noch die kühlste Zeit des Tages. Später würde selbst das Atemholen zu einer Tortur werden.
Müde beobachtete er, wie Del den Sattel aus steinhartem Leder hochstemmte. Das Gesicht des jungen Satai wirkte grau und eingefallen. Die Haut spannte sich trocken wie rissiges Pergament über den hervorstehenden Wangenknochen. Seine Augen wirkten eitrig und entzündet, und der Mund war zu einem dünnen, blutleeren Strich zusammengeschrumpft, der in der grauen Fläche des Gesichts wie eine schwärende Narbe aussah. Skar hätte nie geglaubt, daß ein Mann in wenigen Tagen um Jahrzehnte altern konnte, aber Del war der lebende Beweis dafür. Aber wahrscheinlich, dachte er, bot er selbst auch keinen wesentlich reizvolleren Anblick.
»Reiten wir los?«
Del nickte kraftlos, griff nach dem Zügel und zog sich umständlich in den Sattel. Das Pony ächzte hörbar unter dem zusätzlichen Gewicht. Aber es reagierte gehorsam auf den Druck von Dels Schenkeln und trabte los. Skar folgte ihm in geringem Abstand.