Coar setzte umständlich ihren Helm auf und zwang ihr Pferd mit einer ungeduldigen Bewegung herum. »Reiten wir. Der Weg ist noch weit.«
Die dünnen Seile, mit denen ihre Hände an die Sättel gebunden waren, spannten sich. Die Gruppe schlug von Anfang an ein scharfes Tempo ein. Die Pferde verfielen in einen gleichmäßigen, kräftesparenden Trab, und die beiden Gefangenen mußten rennen, um nicht von den Füßen gerissen und hinterhergeschleift zu werden. Die junge Kommandantin schien nicht gewillt zu sein, mehr Rücksicht als unbedingt nötig zu nehmen. Aus irgendeinem Grund hatte sie es plötzlich sehr eilig, aus diesem Teil des Waldes herauszukommen. Skar waren die verstohlenen raschen Blicke, die sie und ihre Begleiter immer wieder nach rechts und links warfen, nicht entgangen. Die Königliche Garde schien nicht unbedingt der unumschränkte Beherrscher dieses Waldes zu sein.
4.
Sie bewegten sich im rechten Winkel zu ihrem bisherigen Kurs weiter. Waren Del und Skarbis dahin in direkter Verlängerung des Weges, auf dem sie den Wald betreten hatten, weitergegan gen, so schlugen Coars Reiter eine nordwestliche Richtung ein, wobei sie allerdings oft und ohne erkennbaren Grund vom geraden Weg abwichen, sich hierhin und dorthin wandten und einmal sogar in weitem Bogen auf ihre eigene Spur zurückkehrten, ohne daß Skar einen Anlaß dafür erkennen konnte: Es dauerte lange, bis ihm klarwurde, daß Coar keineswegs ziellos vorging, sondern einem sorgsam angelegten und für das Auge dessen, der wußte, wonach er zu suchen hatte, deutlich markierten Weg folgte. Der Wald wurde nun zunehmend dichter, und der in scharfem Tempo begonnene Ritt verlor bald an Schwung. Die beiden Gefangenen wurden noch immer unbarmherzig hinter den Pferden hergezerrt, aber das Tempo war nun so, daß sie es durchhalten konnten. Offensichtlich hatte Coar nicht vor, sie zu Tode zu schleifen.
Skar setzte leichtfüßig über einen Busch, zog den Kopf ein, um einem tiefhängenden Ast auszuweichen, und verdrehte sich halbwegs den Hals, um nach Del zu sehen. Sie waren getrennt worden - ob zufällig oder mit Vorbedacht, vermochte er nicht zu sagen -, so daß sich Del fast fünfzig Schritt hinter ihm am Ende der Gruppe befand. Sein Gesicht hatte einen maskenhaften, fast starren Ausdruck angenommen, und seine Schritte waren zwar schnell, aber von einer hölzernen, ungelenken Art, die Skar mehr als alles andere bewies, daß der junge Satai am Ende seiner Kräfte war. Del wäre nicht der erste, dem seine eigene Willensstärke zum Verhängnis wurde. Skar kannte diese Gefahr nur zu gut - die Barrieren, die einen Menschen vor sich selbst schützten, waren bei einem Satai nur noch bedingt vorhanden. Del konnte weiterlaufen, immer weiter und weiter, zu stolz oder einfach nur zu erschöpft, um aufzugeben, aber er würde diese Leistung mit dem Leben bezahlen. Wo der Wille stärker war als der Körper, endete dieses stumme Duell meist mit dem Tod.
Er begann, langsamer zu laufen. Die dünne Leine zwischen seinen Handgelenken und dem Pferdesattel spannte sich. Der Ruck schien ihm die Arme aus den Gelenken zu reißen, und die geflochtenen Pflanzenfasern schnitten tief in seine Haut, aber er ignorierte den Schmerz und begann im Gegenteil, die Arme mit kleinen regelmäßigen Rucken enger an den Körper zu ziehen.
Der Reiter wandte ärgerlich den Kopf und machte mit seiner behandschuhten Hand eine befehlende Geste, deren Bedeutung Skar unschwer erraten konnte. »Coar«, sagte er, vor Erschöpfung und Schmerz keuchend. »Ich muß die Kommandantin sprechen.«
Einen Moment lang sah es so aus, als würde der Gepanzerte seine Worte ignorieren und einfach weiterreifen, dann nickte er widerwillig und brachte sein Tier langsam zu Stehen. Skar stolperte noch ein paar Schritte weiter und taumelte schließlich gegen die schweißfeuchte Flanke des Pferdes. »Coar«, wiederholte er atemlos. Seine Zunge versagte ihm den Dienst. Sein Herz hämmerte, und die Erschöpfung schlug wie eine schwere, lähmende Woge über ihm zusammen. Wäre nicht das Pferd gewesen, gegen das er sich lehnte - er wäre gestürzt. In seinem Mund war mit einemmal ein bitterer Geschmack wie nach Kupfer oder altem, rostigem Eisen. Das dumpfe Hämmern der Pferdehufe, der scharfe Schweißgeruch und das metallische Schaben von Rüstungen und eingefettetem Leder erschienen seltsam gedämpft, als nehme er sie durch einen dichten, wattigen Schleier wahr.
»Was ist los?« Coars Stimme zitterte vor Ungeduld und mühsam beherrschtem Zorn. Skar hob müde den Kopf und blinzelte durch einen Schleier aus Tränen und Erschöpfung zu der Kommandantin empor. Die goldschimmernde Rattenschnauze, hinter der sich das Gesicht der jungen Frau verbarg, schien sich vor seinem Blick zu wellen, sie verschwamm, zog sich erst in die Breite, dann in die Länge und befand sich in beständiger unruhiger Bewegung, als betrachte er sie durch einen Vorhang aus glasklarem Wasser.
»Du ... bringst uns um«, keuchte er. Speichel füllte seinen Mund, bitterer, mit dem Geschmack von Erbrochenem durchsetzter Speichel, der seine Sinne umnebelte und eine dünne Verbindungslinie zu dem immer stärker werdenden Gefühl der Übelkeit in seinem Magen schuf. Er hatte das Gefühl, als ob in seinem Inneren etwas ganz dicht davorstand zu zerbrechen. »Wir ... brauchen eine Rast.« Coar schüttelte den Kopf. »Später. Ihr könnt ruhen, wenn wir in Went sind. Wir können nicht rasten.«
Skar war das winzige Zögern vor ihrer Antwort wohl aufgefallen, aber er war viel zu erschöpft, um sich weitere Gedanken darüber zu machen. Zorn wallte in ihm empor und schwemmte für einen winzigen Moment sogar die Erschöpfung davon. »Du wirst zwei Tote nach Went bringen«, sagte er wütend. »Wir sind fünf Tage durch diese verdammte Wüste geirrt und halb verdurstet hier angekommen! Del ist verletzt!«
Coar zögerte einen Herzschlag lang. Die starre Goldmaske verbarg ihr Gesicht vor Skars Blicken, aber er hatte den Eindruck, als ob seine Worte die junge Frau nachdenklich gestimmt hätten. Sie bewegte sich unruhig im Sattel, richtete sich auf und griff entschlossen nach den Zügeln. »Eine kleine Weile noch«, sagte sie schließlich. »Wir müssen aus diesem Teil des Waldes heraus, dann rasten wir. Eine meiner Kriegerinnen wird sich um deinen Freund kümmern.« Sie wandte sich abrupt um und lenkte ihr Pferd wieder an die Spitze der Kolonne zurück, ehe Skar Gelegenheit zu weiteren Einwänden hatte.
Die Pferde setzten sich schnaubend in Bewegung. Der Wald wurde noch dichter, und das Unterholz wuchs allmählich zu einer kompakten grünen Masse zusammen. Trotzdem trieben die Reiter ihre Tiere unbarmherzig voran.
Nach einer Weile schimmerte es hell vor ihnen durch die Bäume. Coar hob die Hand und brachte ihr Pferd mit einem brutalen Ruck am Zügel zum Halten. Das Tier schnaubte und begann unruhig auf der Stelle zu treten.
Die Kommandantin wartete, bis der Rest der Gruppe mit den beiden Gefangenen hinter ihr Aufstellung genommen hatte, bevor sie ihr Tier vorsichtig auf die Lichtung hinaustrieb. Skar fiel auf, wie widerwillig sich das Pferd bewegte. Es versuchte immer wieder auszubrechen und zurückzugehen und war nur durch geduldiges Zureden und ein paar energische Rucke am Zaumzeug überhaupt zum Weitergehen zu bewegen. Das Tier hatte Angst. Panische Angst.
Coar ritt ein paar Schritte weit, hielt an und stieß einen knappen Befehl aus. Die Garde sprengte aus dem Wald hinaus und eine sanft abfallende, mit kniehohem Gras bewachsene Lichtung hinunter. Die Lichtung war groß - vielleicht hundert Schritte bis zum gegenüberliegenden Waldrand und nach rechts und links ohne sichtbare Begrenzung -, ehe eine lange, sanft geschwungene Schneise, die den Wald auf unbestimmbare Länge in zwei Hälften spaltete und eine Art natürlicher Grenze zwischen zwei unterschiedlichen Bereichen des Waldes darstellte. Skar fiel auf, wie seltsam das Sternenlicht auf dem Gras schimmerte. Irgend etwas schien mit den Farben nicht zu stimmen; eine Verschiebung in eine unbekannte, mit Worten kaum oder gar nicht zu erfassende Richtung, die ihre Umgebung gleichermaßen fremdartig wie faszinierend erscheinen ließ. Aber er war viel zu sehr damit beschäftigt, mit weit ausgreifenden Schritten hinter dem Pferd herzuhetzen, als daß er genauer auf seine Umgebung hätte achten können. Er spürte, daß er dieses mörderische Tempo nicht mehr lange durchhalten würde. Bei dem unbarmherzigen Voranpreschen der Pferde und mit gefesselten Händen, die von der straff gespannten Leine gnadenlos nach vorne gerissen wurden, genügte die kleinste Unebenheit, eine Wurzel oder ein im hohen Gras verborgener Ast, ihn stolpern und der Länge nach hinstürzen zu lassen. Und was dann geschah, wagte er sich nicht einmal vorzustellen.