5.
Das Gefühl einer weichen, warmen Berührung war auf seiner Stirn; die Berührung zarter Finger, sanft und stark, besorgt und fordernd zugleich. Er erinnerte sich, das Bewußtsein verloren zu haben, aber er wußte nicht, wie lange er so reglos dagelegen hatte - vielleicht nur Augenblicke, vielleicht auch Stunden. Zeit hatte keine Bedeutung mehr. Er lag einfach da, genoß das zarte Streicheln auf seiner Haut und die wohlige, anschmiegsame Wärme des Grasbettes. Es war lange her, daß er das letzte Mal so dagelegen hatte, viel zu lange, daß sein Körper das bekommen hatte, was er außer Wärme und Schlaf noch brauchte. Zu lange, daß er einem Menschen andere Gefühle als Mißtrauen, Haß oder allerhöchstens geschäftsmäßige Höflichkeit entgegengebracht hatte. Daß er in den Armen einer Frau erwacht war, deren Körper er nicht mit Gold oder seinem Ruf als Satai gekauft hatte.
Aber das Wohlbefinden hielt nicht lange an. Irgendwo an seiner rechten Seite machte sich ein kleiner, häßlicher Schmerz bemerkbar, ein bohrendes Stechen zuerst, mehr ärgerlich und störend als wirklich schmerzhaft, das sich von Pulsschlag zu Pulsschlag steigerte und schließlich zu einem hämmernden Brennen wurde, das ihn aufstöhnen ließ.
Er öffnete die Augen, blinzelte verwirrt und versuchte zu lächeln, als er Coars Gesicht über sich erkannte. Er hatte gehofft, daß es ihre Hände waren, die ihn berührten.
»Skaham tarnt argo«, sagte sie. »Menerath kenerai?«
Skar runzelte die Stirn und deutete ein Achselzucken an. Er verstand die Worte nicht, aber ihr Klang gefiel ihm. Aus dem Munde der jungen Amazone klangen sie seltsamweich und melodisch, weniger wie die Worte einer Sprache als vielmehr Reime eines fremdartigen Gesanges, der gleicherweise schwermütig wie froh stimmte.
»Verzeih«, sagte sie, nun wieder in Tekanda. »Ich habe dich gefragt, wie du dich fühlst.«
Skar stemmte sich ächzend auf die Ellbogen. Coar versuchte, ihn mit sanfter Gewalt zurückzudrängen, aber Skar schob ihre Hand beiseite und schüttelte den Kopf. »Es geht schon wieder«, murmelte er. »Was ist geschehen?«
»Du hast uns gerettet.«
»Ich?« Skar lächelte flüchtig. »Sicher nicht.«
»Ohne dich hätten die Hoger gesiegt.«
Skar blickte die junge Kommandantin unsicher an. Seltsamerweise ließen Coars Worte ein Gefühl der Verlegenheit in ihm aufsteigen - eine Art der Empfindung, die er eigentlich gar nicht kannte. Er war sich seiner Kraft immer bewußt gewesen, und er war es gewohnt, ohne falsche Zurückhaltung darüber zu reden. Coars Worte erweckten in ihm fast so etwas wie Beschämung. Vielleicht lag es daran, daß er sich nicht an alle Einzelheiten des Kampfes erinnern konnte. Er wußte, daß er sein Schwert hochgerissen und sich der Übermacht der schwarzen Bestien entgegengeworfen hatte, aber alles, was danach geschehen war, schien hinter einem Vorhang aus Schreien und Schmerzen und blitzendem Metall verborgen zu sein. »Ich habe ein paar von den Biestern erledigt«, sagte er ausweichend, »aber die meisten sind wohl deinen Männern zum Opfer gefallen.«
Coar schüttelte entschieden den Kopf. »Du hast ihnen Mut gemacht, Skar. Du hast ihnen gezeigt, daß man einen Hoger besiegen kann. Ohne dein Eingreifen wären wir verloren gewesen. Zumindest«, schränkte sie ein, als sie den verlegenen Ausdruck auf seinen Zügen sah, »hätte der Kampf wesentlich mehr Opfer gefordert.«
Etwas an der Stimme, in der sie sprach, irritierte Skar. Ihre Stimme klang anders als zuvor. Skar versuchte, den Unterschied genauer herauszuhören, aber es gelang ihm nicht. Betonung und Wortwahl waren unverändert, und doch war da ein Unterschied. Bisher hatte Coar mit einem Gefangenen geredet. Jetzt sprach sie mit einem Gleichgestellten.
Er setzte sich vollends auf, tastete geistesabwesend nach seinen zerschundenen Ellbogen und sah Coar in die Augen. Einen Moment lang hielt sie seinem Blick stand, dann senkte sie den Kopf und sah verlegen zu Boden.
Skar fiel plötzlich auf, wie attraktiv die Gardeführerin war. Vielleicht lag es an der Beleuchtung, vielleicht an der Taubheit, die noch immer nicht ganz aus seinem Kopf verschwunden war - jedenfalls hatte er plötzlich das Gefühl, die junge Frau zum ersten Mal zu sehen. Dabei war sie keine Schönheit, zumindest nicht im herkömmlichen Sinne. Sie entsprach keinem der Schönheitsideale Enwors, und auch er selbst bevorzugte normalerweise einen anderen Frauentyp. Ihre Haut war für seinen Geschmack zu dunkel und grobporig, und die Augen für das schmal geschnittene Gesicht eine Spur zu groß. Es waren Augen, die - mandelförmig, dunkel und leicht schräggestellt - denen der flachgesichtigen gelben Frauen aus dem Osten glichen. Dazu eine schmale Nase und dünne, wie mit einem Federkiel gezogene Augenbrauen, die um mehrere Nuancen heller als das Haupthaar waren und im schwachen Schein der Sterne beinahe weiß schimmerten. Nein - Coar war nicht schön; nicht einmal hübsch. Aber sie besaß etwas anderes - eine natürliche Eleganz, eine Art, sich zu geben, zu reden oder wie jetzt einfach nur stumm dazusitzen und mit unbewegtem Gesicht zu Boden zu starren, die all die kleinen Mängel, mit denen die Natur sie ausgestattet hatte, mehr als nur ausglich. Er sah, wie Coar sich unter seinem forschenden Blick zunehmend unbehaglicher zu fühlen begann, und sah - nun seinerseits verlegen - weg. Plötzlich kam ihm ihrer beider Verhalten albern, ja beinahe kindisch vor. Ihre Rollen waren genau verteilt - sie die selbstbewußte, starke Führerin einer schlagkräftigen Reitertruppe, er und Del nichts als zwei hilflose Gefangene, die einem mehr als ungewissen Schicksal entgegenblickten, Eindringlinge, die, wenn überhaupt, dann höchstens Gnade und ein wohlwollendes Anhören ihrer Geschichte erwarten durften. Und doch unterhielten sie sich jetzt wie zwei Gleichgestellte; Fremde, die voneinander nichts als ihre Namen wußten und sich behutsam an den anderen heranzutasten versuchten. Irgend etwas war mit Coar geschehen, aber Skar konnte sich nicht erklären, was es war. Der Wechsel in ihrem Verhalten konnte nicht allein in seinem Eingreifen in den Kampf gegen die Hoger begründet sein. Schließlich hatte sein Leben genauso auf dem Spiel gestanden wie das der Gardisten. Aber nicht nur mit Coar, das erkannte er plötzlich, war eine Veränderung vor sich gegangen. Auch in ihm schien sich in der kurzen Zeit etwas gewandelt zu haben. Und je intensiver er sich bemühte, gegen diese plötzliche Unordnung in seiner Gefühlswelt anzukämpfen, desto stärker schien sie zu werden. Coars Nähe bewirkte etwas in ihm, das ihn erschreckte. Ein vollkommen neues Gefühl der Unsicherheit.
Er räusperte sich verlegen, erhob sich auf ein Knie und griff dankbar nach Coars Hand. Sie wich seinem Blick aus, aber er ging nicht weiter darauf ein. Wie so viele Fragen, die in den letzten Stunden auf ihn eingestürmt waren, würde er auch sie später klären müssen. Aber er nahm sich fest vor, es wirklich zu tun. Er konnte es sich nicht leisten, sich nicht über seine Gefühle im klaren zu sein.
Auf der Lichtung hatte sich eine rege Betriebsamkeit erhoben. Die Soldaten hatten ihre Pferde am Waldrand angebunden. Zwei der kleinen, in schimmerndes Gold gehüllten Gestalten lagen reglos ausgestreckt neben den Tieren im Gras. Die anderen waren eifrig damit beschäftigt, die monströsen Vogelkadaver in die Mitte der Lichtung zu schleifen und auf einen Haufen zu schichten.
»Warum tun sie das?« fragte Skar.
Coar zögerte. Ihre Gestalt straffte sich, und auf ihren Zügen erschien für Sekunden ein Ausdruck, der irgendwo zwischen Angst und Ekel lag; fast als hätte Skar eine obszöne und schmutzige Frage gestellt. Dann hatte sie sich wieder in der Gewalt.
»Damit sie nicht wiederkommen«, antwortete sie. »Wir ... verbrennen sie.«
»Wiederkommen?« fragte Skar verwundert. »Ich verstehe nicht, was du meinst.« Coar lächelte traurig und suchte für ein paar Augenblicke sichtlich nach Worten. »Sie sind ... Khtaäm«, stieß sie schließlich hervor. »Ich weiß das Wort in deiner Sprache nicht. Rückgänger? Nein ... Wiedergänger.«