Skar seufzte. Es war kein Wunder, daß er sich so frisch und ausgeruht fühlte. Drei Tage ... Er konnte sich nicht erinnern, jemals so lange ununterbrochen auch nur im Bett gelegen, geschweige denn geschlafen zu haben. Für einen Moment stieg ein leises Gefühl der Verärgerung in ihm empor, aber dann lächelte er, schob Thorandas Hand beiseite und stand auf. »Danke«, murmelte er, bewußt und vielleicht übertrieben freundlich. »Du hast ein wahres Wunder vollbracht, Thoranda. Ich fühle mich wie neugeboren.«
Thoranda winkte ab. »Bei dir war es leicht, Skar. Bei deinem Freund Del dagegen ...«
Skar zuckte sichtlich zusammen. Er hatte, wie ihm mit einem plötzlichen Gefühl der Schuld bewußt wurde, nicht an Del gedacht, seit er aufgewacht war. »Was ist mit ihm?« fragte er hastig.
»Er lebt.« Thoranda machte eine besänftigende Handbewegung, als sie das Erschrecken auf seinen Zügen sah. »Und er wird auch wieder gesund werden. Aber es stand auf des Messers Schneide. Del ist stark, doch seine Verletzung war schwer, und das Wundgift war bereits tief in seinen Körper eingedrungen. Ihr hättet keine Stunde später kommen dürfen, Skar. Sein ... Geist hatte die Grenze zum Jenseits schon halb überschritten. Ich konnte ihn zurückholen, doch es wird lange dauern, bis er wieder ganz gesund ist. Du mußt dich gedulden.«
Skar bemerkte das unmerkliche Zögern in ihren Worten, aber er ging nicht darauf ein. Thoranda schien müde, unendlich müde; ein Mensch, der sein Äußerstes gegeben und nun ausgelaugt und leer war. Es schien eine Müdigkeit zu sein, die weit über das Maß des rein Körperlichen hinausging, eine Erschöpfung der Seele, die nicht allein mit Schlaf und ein paar Stunden der Ruhe zu beseitigen war. Vielleicht lag es daran, daß sie ihm plötzlich älter erschien, so alt, wie sie wirklich sein mochte. Ihr Gesicht hatte sich nicht verändert, aber die Spannung war daraus gewichen, und die Aura jugendlicher Kraft, die sie umgeben hatte, als er sie das erste Mal gesehen hatte, war fast vollkommen erloschen. Welcher Art, dachte er mit einem leisen Anflug von Schaudern, fast Erschrekken, war Thorandas Heilkraft wirklich? Er getraute sich nicht, die Heilerin danach zu fragen, aber er hatte plötzlich das sichere Gefühl, das sich ihre Kunst nicht allein auf die Anwendung von Kräutern und Medizin beschränkte.
»Ich würde gern mit Coar reden«, sagte er. »Weißt du, wo ich sie finde?«
»Sie ist nicht in der Stadt. Die Garde ist schon vor Sonnenaufgang aufgebrochen und wird kaum vor dem späten Nachmittag zurückkehren. Aber Larynn und ein paar der anderen sind zurückgeblieben. Wenn du willst, bringe ich dich zu ihnen.«
»Das ist nicht nötig. Zeige mir den Weg, und -«
»Du würdest dich nur verlaufen«, behauptete Thoranda. »Außerdem tut es mir sicher gut, ein paar Schritte zu laufen. Alte Knochen müssen ständig in Bewegung gehalten werden, damit sie nicht einrosten«, fügte sie mit einem flüchtigen Lächeln hinzu. Sie stand auf, schlurfte zur Tür und winkte Skar, ihr zu folgen.
Skar blinzelte, als er ins helle Sonnenlicht hinaustrat. Es war warm, und über der Stadt lag ein schwerer, durchdringender Duft nach Blumen und Moos und Bäumen und frischem Gras, der ihm für einen Moment fast den Atem nahm. In den Zweigen über seinem Kopf zwitscherten Vögel, und als er die sanft geneigte Rampe zum Erdboden hinunterging, glaubte er einen schlanken braunen Schatten wie von einem Reh oder Hirsch zwischen den Stämmen hindurchhuschen zu sehen, eine Vorstellung, die ihm mit einem Male gar nicht mehr so abwegig erschien. Erst jetzt, gestärkt von drei Tagen Schlaf und Thorandas Pflege, wurde ihm klar, wie müde er beim Betreten Wents wirklich gewesen war, wie wenig er doch von der Stadt wahrgenommen hatte. Die wirkliche Schönheit Wents war ihm vollkommen verborgen geblieben.
Went war mehr als eine Stadt; das begriff er plötzlich. Es war kein Zufall, daß die einzelnen Gebäude wie hineingewachsen in den Wald wirkten. Vielleicht war es nicht einmal eine Stadt in dem Sinne, in dem er das Wort bisher gebraucht hatte; eher ein beinahe zufällig abgegrenztes Gebiet des Waldes, in dem Menschen lebten - so wenig verändert wie möglich und so viel wie unumgänglich nötig. Er erkannte jetzt, daß, was ihm am Morgen wie ein willkürliches und ungeplantes Bauen und Wuchern vorgekommen war, sich in Wirklichkeit perfekt in das von der Natur und dem natürlichen Wuchs des Waldes vorgegebene Muster einpaßte. Nicht ein einziges Gebäude, kein Steg und keine Straße störten den natürlichen Rhythmus des Waldes, nichts schien gewaltsam aufgesetzt. Es gab keine Breschen, die in den Wald geschlagen worden wären, um Platz für Häuser und Menschen zu schaffen, keine willkürlichen Veränderungen. Der Mensch hatte hier nicht zerstört, sondern geschaffen, die Natur nicht verändert, sondern vervollkommnet, hier und da ein wenig hinzugefügt, dort vorsichtig gerodet, Kanten und Ecken geglättet und vielleicht dort, wo die Natur selbst das Maß des Perfekten noch nicht erreicht hatte, behutsam eingegriffen. Went war keine Stadt, sondern eine Symbiose zwischen dem Schaffen der Natur und dem des Menschen, ein Ort, an dem sich göttliche und menschliche Fügung getroffen und auf vielleicht einmalige Weise vereint hatten. Selbst die wehrhaften Verteidigungsanlagen - der zweifach gestaffelte Ring der Dornenhecken, die Türme, das breite, deckungslose Gelände dazwischen, die Fallgruben - alles fügte sich perfekt in dieses riesige, auf seine ungeplante Art schon beinahe wieder symmetrisch und gewollt erscheinende System ein. Von hier aus betrachtet wirkte selbst der Zaun nicht mehr wie eine Grenze, sondern wie eine natürliche Ergänzung der Stadt, ein Teil eines gewaltigen Musters, das so und nicht anders sein konnte.
Sie erreichten den Fuß der Rampe und wandten sich nach rechts, tiefer in den Wald hinein. Zwischen den weit auseinanderstehenden Stämmen herrschte reges Leben, wie schon am Tage zuvor, und wie beim ersten Mal konnte sich Skar des unangenehmen Gefühles, angestarrt zu werden, nicht erwehren. Natürlich - er war ein Fremder, und zwischen den kleinwüchsigen Bewohnern Wents mußte seine breitschultrige und muskulöse Gestalt erst recht auffallen, aber es war doch ein unangenehmes Gefühl, aus Hunderten von neugierigen Augenpaaren angestarrt zu werden. Zumal, da er immer noch nicht wußte, ob diese Augen nun wirklich nur neugierig oder aber feindlich auf ihn hinabsahen.
Thoranda blieb plötzlich stehen und deutete auf eine Gruppe jüngerer Frauen, die wenige Schritte abseits des Weges standen, miteinander redeten und ab und zu einen neugierigen Blick in seine Richtung warfen. »Warte einen Moment, Skar«, sagte sie. »Ich habe etwas mit ihnen zu besprechen. Es dauert nicht lange. Geh nicht weg.«
Skar nickte gehorsam, wenn es ihm auch immer schwerer fiel, nicht zu widersprechen. Er begann sich allmählich wie ein Kind zu fühlen, das an einem unsichtbaren Gängelband herumgeführt wurde und dem jeder sagen zu müssen glaubte, was es zu tun oder zu lassen hatte, und er war sich mit einemmal sicher, daß ihn Thoranda nicht allein aus Furcht, daß er sich verirren könnte, begleitete. Trotzdem war es sicher besser, sich nach ihren Anordnungen zu richten. Zumindest, dachte er spöttisch, war die Heilerin als Wächter so manch anderem, den er kennengelernt hatte, vorzuziehen.
Eine Gruppe Berittener preschte so dicht an ihm vorüber, daß er unwillkürlich den Kopf einzog und einen Schritt zur Seite wich - sieben, acht Mann auf stämmigen Pferden, in wuchtige Panzer gehüllt und mit Schilden und übermäßig langen, biegsamen Spießen bewaffnet. Skar blickte ihnen nach, bis sie durch die Öffnung in der äußeren Dornenhecke verschwunden waren. Ein Trompetensignal erscholl von einem der Wachtürme und wurde wenig später von irgendwo jenseits der Hecke erwidert. Die Reiter schienen ihre Tiere rücksichtslos durch das Unterholz zu treiben, denn Skar konnte das gedämpfte Brechen und Bersten noch lange Zeit hören, nachdem sie durch das Tor verschwunden waren. Er legte den Kopf in den Nacken und blinzelte zum Himmel hinauf. Die Sonne brannte noch immer als grellroter Feuerball an einem strahlend blauen, wolkenlosen Firmament, und die Hitze stieg hier, wo die Bäume nur wenig Schutz gegen ihre unbarmherzigen Strahlen boten, merklich an. Weit im Westen glaubte er eine Anzahl winziger schwarzer Punkte über dem Wald auszumachen, und für einen Moment mußte er wieder an die Hoger denken. Aber es mochten auch normale Vögel sein; sicher sogar. Skar konnte sich nicht vorstellen, daß die Bestien auch am Tage auf Beutejagd gingen. Wenn er ehrlich war, konnte er sich nicht einmal die Hoger wirklich vorstellen. Die dünne rote Narbe an seiner Seite und der pochende Schmerz, der entgegen all seiner Beteuerungen noch immer in seinen Rippen wühlte, bewiesen ihm jedoch, daß er alles wirklich erlebt und nicht bloß geträumt hatte. Und doch erschienen ihm der Kampf auf der Lichtung und der Tod der beiden jungen Mädchen mehr und mehr wie ein bizarrer Alpdruck. Irgend etwas daran kam ihm falsch und irreal vor, schon während des Kampfes und jetzt, aus der Distanz von mehreren Tagen betrachtet, noch stärker. Es war nicht einmal die Größe der Gefahr gewesen - Del und er hatten schon gegen schlimmere Bestien bestehen müssen -, sondern die Art der Bedrohung. Er kannte alle Monster, die Enwor zu bieten hatte, und es waren Scheußlichkeiten darunter, gegen die selbst die Hoger wie harmlose Vögel erschienen, und doch war da etwas, irgend etwas, das er sich selbst nicht erklären konnte und das doch wie ein bizarrer Alp hinter seinen Gedanken lauerte - das ihn schaudern ließ. Die Hoger erschienen ihm (er wußte, daß das Wort nichts erklärte und im Gegenteil noch mehr Fragen aufwarf, und doch war es das einzig Zutreffende) falsch. Er hatte es gespürt, als er ihnen gegenübergestanden hatte, und das Gefühl war seither nicht schwächer geworden. Als er in die gräßliche Visage des Untieres gesehen hatte, hatte er für einen winzigen, schrecklichen Augenblick das Gefühl gehabt, einen Blick in eine feindselige, unsagbar fremde Welt zu tun. Ein Wesen wie ein Hoger durfte einfach nicht existieren, weder hier noch sonst irgendwo auf Enwor. Für einen Augenblick fragte er sich ernsthaft, ob die Hoger wirklich existierten, lebten. Aber wenn sie es taten, dann auf eine ganz, ganz andere Art als alles, dem er bisher begegnet war. Ein zaghaftes Zupfen am Arm riß ihn aus seinen Überlegungen. Skar drehte sich herum und erkannte einen vielleicht zehnjährigen Jungen, der sich ihm von hinten genähert hatte und nun aus eng zusammengekniffenen Augen zu ihm emporstarrte, den Kopf in den Nacken gelegt und die Hände in die Seiten gestemmt, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Er hatte Angst, das war deutlich zu erkennen, aber er schien auch Neugierde zu verspüren, und sein Wissensdurst war - zumindest im Moment noch - größer als die Furcht.