Skar brachte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen. »Laß gut sein, Kleiner. Die paar Tropfen hätten uns sowieso nicht geholfen. Und du hast es gebraucht.« Er legte den leeren Schlauch neben sich in den Sand und seufzte: »Wir sind erledigt, alter Junge. Endgültig.«
Er wunderte sich beinahe selbst über die Ruhe, mit der er die Worte aussprach. Es war kein Bedauern in seiner Stimme, kein Zorn ... Nichts. Eine kalte, sachliche Feststellung.
Del lachte leise. »Ich dachte schon, du würdest es nie zugeben. Ich weiß es schon seit Tagen. Schon, als wir in diese gottverdammte Wüste hineingeritten sind.« Er versuchte hochzukommen, glitt im lockeren Sand aus und blieb mit einem gemurmelten Fluch liegen.
»Erinnerst du dich an das Mumienheer?« fragte er leise.
Skar nickte. Sie hatten die schweißende, tote Armee am zweiten Abend ihrer verzweifelten Flucht gefunden - Hunderte, vielleicht Tausende von kleinen, mumifizierten Leichen, vielleicht schon vor Jahrhunderten von der mörderischen roten Sonne verkohlt und gleichzeitig konserviert. Männer in zerschrammten, goldenen Panzern und eigenartigen Helmen. Eine Armee, eine ganze Armee mit unzähligen Soldaten und Tieren war hier in den Tod gegangen. Und sie bildeten sich ein, die Wüste besiegen zu können! .
»Wir hätten umkehren müssen«, sagte Del. »Jeder Narr hätte die Warnung verstanden, Skar. Jeder. Nur wir nicht. Wir ... hätten umkehren müssen!«
»Das konnten wir nicht«, widersprach Skar lustlos. »Die Quorrl ...«
»Die Quorrl!« Del fuhr hoch. »Ich hätte den Tod unter einer Quorrl-Klinge dem hier vorgezogen!«
Plötzlich, von einer Sekunde auf die andere, stieg eine kaum zu beherrschende, irrationale Wut in Skar auf. »Dann kehr doch um!« brüllte er. »Lauf doch zu deinen Quorrl! Sie warten sicher noch auf dich!« Er sprang auf, wandte sich brüsk um und lief mit schnellen Schritten die gegenüberliegende Düne empor. Auf halbem Wege blieb er stehen, ballte die Fäuste und zwang sich, so lange reglos stehenzubleiben, bis sie aufgehört hatten zu zittern.
Es hatte keinen Sinn, wenn er mit Del stritt. Ihrer beider Gereiztheit entsprang ihrer Erschöpfung und der Verzweiflung, die sich wie eine schleichende Krankheit in ihnen breitgemacht hatte. Es war zwecklos, wenn sie ihre letzten Kraftreserven in einer Auseinandersetzung verpulverten, die jeder logischen Grundlage entbehrte.
Er schloß die Augen, ließ sich langsam auf die Knie sinken und grub die Hände tief in den heißen Sand. Der feine, braunweiße Staub schwappte träge an seinen Beinen empor und hüllte ihn in einen Mantel warmer, trügerischer Entspannung, und in seinem Kopf machte sich plötzlich die irrsinnige Vorstellung breit, daß all dieser Sand nichts als Wasser war, Wasser, das durch einen Fluch oder einen bösen Zauberspruch zu braunen, bewegungslosen Wellen erstarrt war. Daß er sich nur vorzubeugen und einen Mundvoll davon zu schmelzen brauchte, um seine nach Wasser schreiende Kehle zu kühlen.
Skar ertappte sich plötzlich dabei, wie er die Finger tief in den lockeren Sand grub und sich vorbeugte, den Mund zu einem stummen Schrei aufgerissen.
Nein. Soweit war es noch nicht.
Aber es würde dazu kommen. Bald.
Sehr bald.
Er setzte sich auf, blinzelte in den grellen Feuerball der Sonne und senkte dann den Blick. Vor seinen Augen tanzten rote, flakkernde Kreise mit verschwommenen Rändern, schmerzende Feuerräder, die sich tief in seine Netzhäute brannten und Löcher in seine Seele gruben. Er stöhnte leise, schloß die Augen und fuhr sich mit der Zunge über den Gaumen.
Wie lange war es her, daß er das letztemal getrunken, richtig getrunken hatte? Er versuchte, sich zurückzuerinnern, sich die kleine, verräucherte Biertaverne in Besh-Ikne in allen Einzelheiten vorzustellen. Es gelang ihm, aber das Bild war seltsam irreal und verzerrt. Die Wände schienen ihm flach und ohne greifbare Konturen, und die Menschen davor hatten keine Gesichter. Und die Krüge, aus denen sie schäumendes kaltes Bier getrunken hatten, waren jetzt voller Sand. Feiner, weißer, staubtrockener Sand. Er versuchte das Bild abzuschütteln, aber er war plötzlich in dem Gespinst aus mühsam erweckten Erinnerungen verstrickt und gefangen wie in einem Alptraum, in dem man auch genau weiß, daß man träumt, ohne daß einem dieses Wissen im mindesten dabei helfen würde, aufzuwachen. Damals hätten sie noch zurückgekonnt. Sie hatten gewußt, wie gefährlich die Reise war. Und nicht nur das. Sie waren gewarnt worden. Er versuchte, sich das Gesicht des malabesischen Händlers vorzustellen, aber auch das ging nicht. Es blieb ein weißes, konturloses Oval zuckender Haut, eingerahmt von grauem Haar und den Strähnen eines ungepflegten Bartes.
»Ihr wollt nach Elay?« hatte er gefragt, nachdem er sich unaufgefordert zu ihnen gesetzt und die Bedienung nach einem frischen Krug Bier geschickt hatte. Skar hatte Del einen Herzschlag lang fragend angesehen und dann genickt. Ihr Reiseziel mochte ungewöhnlich sein, schon für normale Bürger des Königreiches Besh-Ikne und erst recht für Satai, aber es war deshalb kein Geheimnis. Außerdem mochte der Alte so manches Interessante wissen. Malabesen waren dafür bekannt, viel herumzukommen und stets die neuesten Gerüchte und Nachrichten auf Lager zu haben.
»Ihr seid Satai, nicht?« war der Alte leutselig fortgefahren. »Gibt es Arbeit für Satai in Elay?«
Skar hatte gegrinst. Der Gedanke, daß ausgerechnet die Ehrwürdigen Frauen um Hilfe bei den Satai nachsuchen sollten, erschien ihm lächerlich. »Arbeit nicht«, hatte er zurückgegeben, »aber vielleicht Vergnügen.«
»Ein Vergnügen, das gut bezahlt wird, wie ich vermute.«
»Und wenn? Schließlich ist es ein weiter Weg bis Elay. Man überlegt sich gut, einen solchen Ritt zu riskieren, wenn nichts dabei herausspringt. Allerdings, wenn uns eine Aufgabe reizt ...« Er hatte andeutungsweise die Schultern gehoben, nach dem Krug gegriffen und einen Schluck Bier genommen. Es schmeckte süß, harzig und gut. »Du kannst ja mitkommen, Alter«, hatte er in scherzhaftem Ton hinzugefügt, nachdem er den Krug geleert und sich mit dem Handrücken ein paar Schaumflocken von den Lippen gewischt hatte. »Ein Geschichtenerzähler würde uns sicher den Weg verkürzen.«
Der Alte hatte Skar einen Moment lang ernst angestarrt und dann den Kopf geschüttelt. »Der Weg wird euch auch so nicht lang werden.«
»Wie meinst du das?«
»Welche Route gedenkt ihr zu nehmen?« hatte der Alte anstelle einer direkten Antwort zurückgegeben.
»Die übliche. Zuerst hinauf nach Besh, dann durch das Weltende, Gargan ... ich kenne keine andere Route. Gibt es eine?«
»Den Besh entlang, durch die Sümpfe, und dann ...«
»Aber das würde bedeuten, die Schattenberge zu umrunden«, war ihm Del ins Wort gefallen. »Das ist ein Umweg von Wochen!«
»Wochen, die ihr vielleicht länger lebt. Die Ebenen von Tuan sind in letzter Zeit nicht mehr sicher. Man erzählt sich, die Quorrl wären auf Raubzug. Ich an eurer Stelle wäre vorsichtiger bei der Wahl meiner Route. Ihr wäret nicht die ersten Reisenden, die spurlos verschwinden.«
Del hatte gegrinst und bezeichnend mit der flachen Hand auf den ledernen Waffengürtel geschlagen. »Wir sind Satai, Alter, keine dickbäuchigen Händler. Und auch keine unbedarften Reisenden. Die Fischgesichter werden sich wundern, wenn sie glauben, leichtes Spiel mit uns zu haben.«
Skar hatte den Kopf geschüttelt und Del einen strengen Blick zugeworfen, aber der junge Satai hatte nur noch breiter gegrinst. Die Aussicht auf die Reise, auf Abenteuer, die endlich einmal Abwechslung in ihr eintönig gewordenes Leben als Arenakämpfer zu bringen versprachen, hatte seine Laune gehoben, und das reichlich fließende Bier tat ein übriges.
»Unterschätzt die Quorrl nicht«, hatte der Alte nach einer Weile gesagt, den Blick starr auf Skar gerichtet. Offensichtlich war ihm das stumme Zwiegespräch zwischen den beiden Satai nicht entgangen. »Es mag sein, daß ihr hier in Ikne wenig von ihnen hört, aber weiter im Norden fürchtet man sie. Mit Recht, wie ich meine.«