»Ich sagte bereits, daß ich dich aus zwei Gründen rufen ließ, und dies ist der andere Grund. Die Botschaft von eurer Ankunft hat sich rasch verbreitet. Die Könige möchten euch sehen.«
»Könige?« wiederholte Skar verwirrt. »Aber ich dachte ...«
»Daß ich der Herr von Cearn bin?« Logar lachte leise. »Der Gedanke schmeichelt mir, Skar, aber ich bin nur ein kleiner Stadtkommandant ohne wirkliche Macht. Und ich weiß auch nicht, ob ich es bedauern soll, daß es so ist. Die Verantwortung für das Schicksal ganz Cearns wäre wohl zuviel für meine Schultern.« Er schüttelte den Kopf, seufzte und deutete vage in die Richtung, in der Ipcearn liegen mochte. »Unsere Könige lassen dich zu einem Besuch bitten - natürlich erst, wenn du kräftig genug dazu bist. Bis dahin bist du unser Gast. Du kannst dich überall in Went frei bewegen.« Er zögerte einen Moment, ging dann mit raschen Schritten zu der Bank zurück, auf der er anfangs gesessen hatte, und hob einen in weiße Tücher eingeschlagenen Gegenstand auf. »Deine Waffe«, sagte er.
Skar griff zögernd nach dem Schwert, wog es einen Augenblick nachdenklich in der Hand und schlug dann rasch die Tücher zurück. Er fühlte sich wesentlich besser, als er das vertraute Gewicht des Tschekal wieder an der Seite spürte.
7.
Del war noch immer ohne Bewußtsein, als Skar am späten Nachmittag zurückkam und nach ihm sah. Logar hatte noch lange mit ihm geredet, fast drei Stunden, in dem er ihm viel von Went gezeigt und erklärt hatte, ohne ihm im Grunde wirkliche Informationen zu geben. Wie viele Männer in ähnlichen Positionen, die Skar kennengelernt hatte, beherrschte er die Kunst, viel zu reden, ohne eigentlich etwas zu sagen. Doch auch von dem Wenigen, das er letztlich erfahren hatte, schwirrte Skar bereits der Kopf.
Lange Zeit blieb er neben Dels Lager sitzen und betrachtete den reglos daliegenden Satai. Wie er selbst trug auch Del keinen Verband mehr, und wie bei ihm, war die Wunde nahezu verheilt und zu einer dünnen roten Linie geworden, die Wochen oder gar Monate alt schien statt weniger Tage. Er überlegte einen Moment, ob er Del wecken und mit ihm reden sollte, ließ es aber dann bleiben. Dringender noch als er selbst benötigte Del jetzt Ruhe, Ruhe und noch einmal Ruhe. Thoranda hatte für ihn getan, was in ihrer Macht stand, und das war nicht wenig gewesen; den Rest mußten die Natur und sein Körper erledigen. Wenn Dels Heilung ebenso phantastisch schnell vor sich ging wie seine eigene, würde er vielleicht in wenigen Tagen bereits soweit sein, aufzustehen und die ersten vorsichtigen Schritte zu tun.
Schließlich stand er auf und verließ leise die Kammer. In seinem Mund war ein übler, pelziger Geschmack, und ihm fiel wieder ein, daß er seit seinem Erwachen weder etwas gegessen noch getrunken hatte. Der Hunger war während der letzten Wochen zu seinem ständigen Begleiter geworden, und er hatte sich an das flaue Gefühl in seinem Magen und den vagen Schmerz in den Eingeweiden schon beinahe gewöhnt, aber die Entbehrungen hatten auch sichtbare Spuren an seinem Körper hinterlassen. Er hatte etwa zwanzig Pfund abgenommen, auch für einen Mann seiner Statur mehr, als zu verantworten war, und selbst die wenigen Schritte, die er zusammen mit Logar gemacht hatte, hatten ihn spürbar erschöpft. Insgeheim gestand er sich ein, daß Thoranda wohl recht hatte - er brauchte dringend eine Erholuagspause, Tage, wahrscheinlich Wochen der Muße, Zeit, seine Kräfte zu regenerieren und behutsam damit zu beginnen, seine alte Kondition wieder zurückzuerlangen. Er würde Logar um ein Pferd bitten, um die nähere Umgebung Wents zu erkunden und gleichzeitig ein wenig Bewegung zu bekommen.
Dumpfes Stimmengewirr drang ihm von unten entgegen, als er über die gewendelte Treppe hinabstieg. Als er das Gebäude betreten hatte, war der große Raum hinter der Tür leer gewesen. Nun schien er bis zum Bersten mit Menschen gefüllt - Männer und Frauen in Rüstungen oder braunen und grünen, gefleckten Gewändern, Kleidung, in der sie draußen im Wald nahezu unsichtbar sein mußten; Krieger, wie Skar nach einem raschen Rundblick erkannte, wenn auch nicht einer von ihnen eine Waffe trug.
Die Gespräche verstummten nach und nach, als er unter der Tür erschien, als würde sich eine unsichtbare Welle des Schweigens durch den Raum ausbreiten und nach und nach auch den letzten in ihren Bann schlagen. Und im gleichen Maße, in dem die Unterhaltungen erloschen, wandten sich ihm auch die Gesichter der Anwesenden zu, bis Skar sich schließlich im Zentrum der allgemeinen Aufmerksamkeit sah: ein Gefühl, das alles andere als angenehm war. Er bewegte sich unbehaglich auf der Stelle, machte einen Schritt in den Raum hinein und blieb abermals stehen, als die Männer und Frauen vor ihm zur Seite wichen und eine Gasse bildeten.
Skar atmete innerlich auf, als er Coar zwischen den Kriegern erkannte. Sie wirkte verändert. In dem schlichten, weißen Gewand, das sie nun trug, hätte er sie beinahe nicht wiedererkannt. Ihr Haar war jetzt hochgesteckt und zu einer ebenso einfachen wie raffinierten Frisur getürmt, und auf ihrem Gesicht lag ein seltsamer, schwer zu bestimmender Ausdruck, etwas, das irgendwo zwischen einem Lächeln und einem Gefühl von Bewunderung, ja beinahe Ehrfurcht zu schwanken schien. Sie trat rasch auf ihn zu, legte ihm in einer vertrauten Geste die Hand auf die Schulter und führte ihn neben sich her. Die Berührung schien die Spannung zu lösen. Die Unterhaltungen kamen nach und nach wieder in Gang, und Skar registrierte erleichtert, wie sich die Männer und Frauen wieder ihren Gesprächspartnern zuwandten.
»Ich freue mich, daß du wieder gesund bist«, begann Coar. »Und auch Del geht es besser, höre ich?«
»Ich war oben bei ihm. Er schläft, aber er hat das Schlimmste überwunden. Thorandas Medizin hat ein Wunder bewirkt. Was hat diese Versammlung zu bedeuten?«
Coar machte eine weit ausholende Handbewegung, die den Raum und die versammelten Krieger einschloß. »Majall und Senja«, sagte sie. »Die beiden Kriegerinnen, die den Hogern zum Opfer fielen. Du erinnerst dich?«
Skar nickte.
»Wir ...«, fuhr Coar fort, stockte und suchte einen Moment nach Worten, um dann noch einmal von vorne zu beginnen. »Heute ist der dritte Tag«, sagte sie. »Diese Männer und Frauen waren ihre Kameraden. Sie geben ihnen das letzte Geleit. Eine Ehre, die jedem Krieger zukommt.«
Skar dachte mit einem Gefühl leiser Verwunderung an die beiden Körper, die vor seinen Augen draußen im Wald verscharrt worden waren. »Ihr habt sie ... geholt?« fragte er.
»Geholt?« Coar schüttelte verwirrt den Kopf. »Nein«, sagte sie dann. »Ihr begrabt die Körper eurer Toten mit großen Ehren, da wo du herkommst, nicht?«
»Manchmal.«
»Verzeih, daß ich nicht daran dachte, Skar, aber unsere Sitten unterscheiden sich in diesem Punkt von den euren. Ich habe gehört, daß es anderenorts üblich ist, die Körper der Toten zu verehren. Bei uns ist dies anders. Auch wir gedenken unserer Toten, aber wir verehren nicht die Hülle, sondern den Geist eines Menschen.«
»Wir auch«, entgegnete Skar hastig. »Nur ...« Er brach ab, suchte vergebens nach den passenden Worten und fand schließlich Zuflucht in einem verlegenen Lächeln. Er war fremd hier. Die Sitten dieses Volkes mochten ihm bizarr erscheinen, aber er hatte nicht das Recht, darüber zu urteilen.
»Wir wissen viel zuwenig voneinander«, sagte Coar, als hätte sie seine Gedanken erraten. »Es gibt so viel, was ich von dir wissen möchte, von dir, dem Land, aus dem du kommst, den Menschen, die dort leben ... stimmt es, daß es dort Städte gibt, die größer als ganz Cearn sind?«
Skar lächelte. »Nein«, sagte er. »Größer als Went sicher, aber nicht größer als ganz Cearn. Zumindest nicht in dem Teil der Welt, den ich kenne.«
»Den du kennst? Auch du kennst sie nicht ganz?« Die Frage schien Skar naiv, aber er gab sich Mühe, sie möglichst ernsthaft zu beantworten. »Natürlich nicht. Enwor ist groß, unendlich groß. Niemand lebt lange genug, es völlig kennenzulernen.«