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»Enwor?« Coar runzelte die Stirn. »Ist das der Name, den die Menschen draußen für die Welt haben? Enwor? Enwor ...« Sie wiederholte das Wort ein paarmal, als wolle sie sich an seinen Klang gewöhnen. »Enwor ... Es klingt gut. Aber auch ein wenig traurig. Was heißt es?«

»Nichts. Nichts Bestimmtes. Ein Name eben. Ihr habt einen anderen?«

»Für die Welt?« Coar schüttelte den Kopf. »Wir brauchen ihn nicht.«

»Aber die Welt besteht nicht nur aus Cearn«, widersprach Skar sanft. »Auch wenn ihr hier lebt und Cearn vielleicht niemals verlassen könnt, so gibt es doch noch eine Welt jenseits der Wüste.«

»Für uns nicht, Skar«, entgegnete Coar ernsthaft. »Nimm mich als Beispiel. Ich wurde hier geboren und wuchs hier auf, und irgendwann werde ich hier sterben. Keiner von uns wird Went jemals verlassen. Wozu auch? Wir dienen dem Wald, und er dient uns. Er erhält uns am Leben, so wie wir ihn am Leben erhalten. Keiner von uns könnte ohne den anderen existieren. Es gibt keinen Grund, von hier fortzugehen.«

»Du hast niemals auch nur daran gedacht?« fragte Skar zweifelnd. Für ihn war der Gedanke, sein gesamtes Leben an einem einzigen Ort zu verbringen, schlichtweg unvorstellbar. Nicht einmal die unendlichen Prärien Malabs hatten ihn halten können, obwohl er dort die vielleicht friedvollsten Jahre seines Lebens verbracht hatte. Wenn es eine Zeit der Ruhe und des Friedens in seinem von Kämpfen und Abenteuern bestimmten Leben gegeben hatte, so dort. Aber nicht einmal da hatte es ihn halten können.

»Daran gedacht...«, sagte Coar nachdenklich. »Sicher. Früher einmal. Vielleicht denkt jeder daran, irgendwann. Als Kind ... auch später, bevor er seine Aufgabe gefunden hat. Aber es ist unmöglich. Cearn braucht uns, wie wir Cearn brauchen.« Skar hatte den Eindruck, einen einstudierten Text zu hören, etwas, das diesem jungen Mädchen - und nicht nur ihr - so oft eingehämmert worden war, bis sie es stur wiederholte, ohne auch nur nach dem Sinn dieser Worte zu fragen.

»Unmöglich ...«, wiederholte er. »Vieles erscheint unmöglich, bevor man es tut.«

»Es ist unmöglich«, antwortete Coar überzeugt. Sie schien noch mehr sagen zu wollen, wandte sich aber dann mit einer plötzlichen Bewegung um und ging hastig zum Ausgang. Sie machte ein paar Schritte auf die Rampe hinaus und blieb stehen, die Hand um das schmale Geländer geklammert. Die Sonne hatte mittlerweile den größten Teil ihrer Tageswanderung zurückgelegt und neigte sich dem Horizont entgegen. Die Wipfel von Cearn waren mit rotem Licht übergossen und schienen in Flammen zu stehen: ein friedliches, sanftes Bild, das ihm aber keine Ruhe brachte, sondern im Gegenteil in Skar Erinnerungen an die braune, trostlose Einöde jenseits des Waldes weckte. Für einen Augenblick glaubte er wieder den Hauch des Todes zu spüren, der wie eine unsichtbare Aura über der Nonakesh lastete. Er schauderte.

»Went ist groß«, begann Coar nach einer Weile, »aber die Wüste, die ihr durchquert habt, ist hundertmal größer. Es ist sicher das falsche Wort, aber von deinem Standpunkt aus sind wir Gefangene, wenn auch Gefangene in einem Gefängnis, aus dem keiner von uns zu fliehen wünscht. Die Wüste ist unendlich.«

»Und doch kann man sie durchqueren«, widersprach Skar. »Del und ich haben es getan.«

»Zwei einzelne Männer«, nickte Coar. »Verzweifelte, die auf der Flucht waren und keine Wahl hatten, und auch nur zwei von Hunderten, vielleicht Tausenden, die es versucht haben.«

»Wir waren nicht die ersten«, erinnerte Skar.

»Das stimmt. Doch ihr seid die ersten seit langer Zeit, solange ich lebe, zumindest. Und die, denen es vorher gelang, waren Verzweifelte wie ihr, Männer, die nichts mehr zu verlieren hatten. Außerdem«, fügte sie nach einer fast unmerklichen Pause hinzu, »führt der Weg durch die Nonakesh nur in eine Richtung. Und sie ist wählerisch, Skar.«

»Jetzt übertreibst du«, murmelte Skar. »Sie ist kein Lebewesen, sondern nichts als totes Land.«

»Bist du sicher?« fragte Coar ruhig. »Ich dachte, du hättest sie kennengelernt. Diese Wüste ist mehr als totes Land, wie du es nennst. Sie ist böse, böse und heimtückisch. Manchmal, wenn es ihrer Laune entspricht, läßt sie einen Mann durch, doch sie läßt ihn nie wieder hinaus. Einen von uns würde sie nicht passieren lassen. Es mag dir albern erscheinen, aber wir wissen, daß sie unser Feind ist. Wir hassen sie, und sie haßt uns. Wir führen seit Jahrhunderten Krieg gegeneinander, einen erbarmungslosen Krieg, in dem es keine Gefangenen und keinen Waffenstillstand gibt, Skar. So, wie wir sie schlagen, wenn sie versucht, in Cearn einzufallen, so vernichtet sie jeden Cearner, der einen Fuß auf ihr Gebiet setzt. Menschen wie dich und Del mag sie durchlassen, aber wir sind ihre Kinder, Skar. Sie haßt uns.«

»Und ihr habt euch niemals gefragt, was dahinter liegt?« fragte Skar. »Ihr habt nie versucht, ihr Geheimnis zu ergründen?«

Coar schwieg einen Moment. Sie schloß die Augen, legte den Kopf in den Nacken und beugte sich weit hintenüber über das Geländer, so daß der dünne Stoff ihres Gewandes über Schultern und Brust spannte und die Konturen ihres Körpers deutlich nachzeichnete. Skar verspürte plötzlich eine sanfte, warme Regung. Wie schon zuvor beim Anblick Larynns regte sich der Mann in ihm, und trotzdem war es ein Gefühl ganz anderer Art.

Unsinn, dachte er verärgert. Du kannst sie nicht lieben. Sie ist eine Frau und erregt dich, aber das ist ganz natürlich, nach all der Zeit. Aber Liebe ... Er wußte von Coar kaum mehr als ihren Namen. Wie konnte er sie da lieben?

»Natürlich habe ich mich gefragt, was dahinter liegt«, knüpfte Coar nach einer Weile an den Gedanken an. »Die Welt - Enwor, wie du sie nennst -, und natürlich habe ich mir gewünscht, sie zu sehen, aber diesen Wunsch hat wohl jeder von uns einmal verspürt. Du hältst uns für Gefangene, Skar, aber das stimmt nicht. Was hat deine Welt zu bieten, das es in Cearn nicht gäbe?«

Skar wollte antworten, aber ein Blick auf die friedvolle, halb in Dämmerung versunkene Stadt unter sich ließ ihn verstummen. Was hätte er antworten sollen? Was gab es - ganz egal wo auf Enwor -, das es wert gewesen wäre, gegen die friedvolle Schönheit dieses Landes eingetauscht zu werden? Del und er waren auf dem Wege in den Krieg gewesen, als es sie in die Nonakesh verschlagen hatte, und es war nicht der erste Krieg in ihrem Leben. All die Jahre, die sie gemeinsam verbracht hatten, waren ein Hetzen von einer Auseinandersetzung zur anderen, von einer Gefahr zur nächsten gewesen, und er hatte schon vor vielen Jahren aufgehört, die Zahl der Kämpfe behalten zu wollen, die sie durchgestanden hatten. Natürlich war sein Leben nicht die Norm - Del und er waren Satai, Angehörige einer Kaste, deren Handwerk Krieg und Überleben waren. Aber er hatte diese Art zu leben nicht von ungefähr gewählt, nicht aus Lust am Töten oder am Krieg, sondern weil es in einer Welt wie Enwor die sicherste Art zu überleben war. In einer Welt, in der nur Gewalt zählte, überlebte der Stärkste.

Er seufzte, drehte sich um und deutete in die entgegengesetzte Richtung. »Was liegt dort?« fragte er.

»Wüste, Skar. So wie dort und dort und dort.« Coar deutete nacheinander in die übrigen drei Himmelsrichtungen und schwieg einen Moment. »Und irgendwo dahinter«, fuhr sie dann in einem Tonfall, der Skar unwillkürlich aufhorchen ließ, fort, »Urcaun.«

»Urcöun? Was ist das?«

»Unsere Heimat«, entgegnete Coar. »Die Heimat unserer Vorfahren. Und unsere, wenn sie auch keiner von uns je gesehen hat.«

»Cearn ist nicht ... eure Heimat?« fragte Skar, nun vollends verwirrt.

»Nein.« Coar sah auf. In ihren Augen erschien ein seltsamer, wehmütiger Ausdruck, und ihre Stimme schien um mehrere Nuancen weicher, als sie fortfuhr: »Es wurde zu unserer Heimat, Skar, vor langer, langer Zeit. Vielleicht ist Heimat das falsche Wort. Exil wäre richtiger. So, wie sich unser Volk von einem Volk des Friedens zu einem Volk von Kriegern veränderte, so wurde aus einer winzigen Oase ein Wald und aus einem Wald Cearn.«