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Skar war der Unterschied zwischen dem Wort Wald und Cearn nicht ganz klar, aber er hatte den Eindruck, daß er im Moment besser schwieg.

Coar machte eine unbewußte Kopfbewegung, die verriet, daß sie ihr Haar normalerweise offen trug und es gewohnt war, sich von Zeit zu Zeit eine widerspenstige Locke aus der Stirn zu schütteln. Ihre Hand löste sich vom Geländer und tastete in einer vertrauten Geste nach Skars Fingern. Erneut durchströmte ihn ein Gefühl tiefer Wärme und Zuneigung, zu stark diesmal, um es noch wegzuleugnen. Und trotzdem spürte er, daß sich Coar bei dieser Art von Vertrautheit nichts dachte. Die Art, in der sie nach seiner Hand gegriffen und sie genommen hatte, war zu natürlich und offen, um noch Platz für Heimlichkeiten zu haben. Vielleicht gab es bei den Cearnern kein Berührungstabu wie andernorts. »Wir haben noch ein wenig Zeit«, sagte Coar, während sie langsam nebeneinander die schräge Rampe hinuntergingen. »Die Zeremonie beginnt erst, wenn die Sonne vollkommen untergegangen ist. Wenn es dich interessiert, dann erzähle ich dir die Geschichte unseres Volkes. Sie ist nicht lang. Nicht lang zu erzählen, zumindest.« Skar nickte stumm.

»Vor langer Zeit«, begann Coar, »lebte unser Volk nicht hier in der Wüste, sondern in Urc, einem Land voller Frieden und Reichtum und fröhlicher Menschen. Niemand kannte den Krieg, und das Land war reich genug, daß keiner Not leiden mußte. Unsere Hauptstadt war Urcöun - eine mächtige und stolze Burg mit Mauern, höher als die Wipfel Cearns und stärker als der stärkste Baum. Jahrhunderte um Jahrhunderte lebte das Volk von Urc im Schutze seiner mächtigen Türme, und die Wüste, die das Land umgab, gewährte ihm zusätzlichen Schutz. Doch diese Sicherheit erwies sich schließlich als Fluch. Unsere Vorfahren wurden leichtsinnig, und sie begriffen zu spät, daß Neid und Habgier anderenorts ebenso zum Wesen des Menschen gehörten wie hier Liebe und Freundlichkeit. Die Kunde vom Reichtum Urcs sprach sich herum, und eines Tages erschien eine Flotte von mächtigen Schiffen vor seiner Küste, Schiffe, die Krieger brachten, denen die friedlichen Bewohner Urcs nichts entgegenzusetzen hatten. Krieg und Terror überzogen das Land, wo früher Frieden und Liebe geherrscht hatten. Unser Volk war es nicht gewohnt zu kämpfen, und die schwarzen Horden verwüsteten Urc, ohne daß wir sie aufhalten konnten. Schließlich blieb nur noch Urceun, die letzte Feste, die den wenigen Überlebenden Schutz bot.«

Sie hatten den Fuß der Rampe erreicht, und Coar stockte für einen Moment, ehe sie sich nach rechts wandte, Skars Hand losließ und sich bei ihm unterhakte. Ihr Kopf schmiegte sich warm und weich an seine Schulter, und von ihrem Haar stieg ein betörender Duft in seine Nase.

»Doch selbst Urcöuns Mauern konnten dem Ansturm des Feindes nicht standhalten«, fuhr sie nach einer Weile fort. Sie hatte eine angenehme Art zu erzählen, fand Skar. Leise und ruhig, die Stimme ein sanfter Singsang, der mit seiner Betonung ebensoviel erzählte wie die Worte. Er hörte ihr gerne zu. »Seine Bewohner wagten einen letzten, verzweifelten Ausbruch. Nicht viele überlebten die Schlacht, in der sich in jener Nacht das Schicksal unseres Volkes auf Generationen hinaus entschied, und die wenigen, die davonkamen, mußten fliehen, verfolgt von einem Feind, der kein Erbarmen kannte. Sie flohen in die einzige Richtung, die ihnen blieb.«

»Hierher?«

Coar schüttelte den Kopf. »Cearn existierte damals noch nicht. Nicht in der Form, in der du es kennst. Sie flohen in die Wüste, den sicheren Tod vor Augen. Viele fielen unter den Pfeilen der Verfolger, und noch mehr starben unter der tödlichen Glut der Sonne. Von einem Volk, das nach Hunderttausenden zählte, erreichte nicht mehr als eine Handvoll die rettende Oase. Aber sie schworen Rache. Niemals, niemals würden sie vergessen, wie es war, wie unbarmherzig der Feind sie überfallen und unter ihnen gewütet hatte, ihre Väter und Mütter und Brüder und Schwestern getötet und die fruchtbaren Ebenen Urcs verheert hatte. Sie waren nur wenige, aber sie waren beseelt vom Feuer der Rache. Sie fanden den Wald, und sie schworen, eines Tages zurückzukehren und Urc zurückzuerobern. So wurden wir ein Volk von Kriegern, Skar. Went mag dir friedlich erscheinen, aber es ist eine Festung. Schon unsere Kinder lernen den Umgang mit Waffen, und wenn wir eines Tages wieder vor den Toren Urcöuns stehen, werden wir kein Haufen wehrloser Bauern mehr sein, sondern Krieger.«

Skar schwieg lange, lange Zeit, nachdem Coar mit ihrer Geschichte zu Ende gekommen war. Sie hatten sich weit von Thorandas Haus entfernt, und die moosbewachsenen Stämme Wents umgaben sie wie Säulen einer gigantischen schweigenden Kathedrale, deren Kuppel vom flackernden Grau der hereinbrechenden Dämmerung gebildet wurde. Die Stille fiel ihm auf. Die Häuser neben und über ihnen schienen wie ausgestorben dazuliegen, und obwohl er angestrengt lauschte, konte er nicht den leisesten menschlichen Laut wahrnehmen. Hinter keinem der Fenster brannte Licht, und für einen Moment fühlte er stärker denn je, daß er in Wirklichkeit nicht mehr als ein Eindringling war, ein Fremder, der sicher freundlich aufgenommen worden war, aber stets ein Fremder bleiben würde. Zwischen ihm und diesen Menschen bestand ein Graben, eine unsichtbare Mauer, die er niemals ganz würde durchdringen können. Es waren zwei verschiedene Welten, seine und ihre, und es gab keine Berührungspunkte, keine Brücken, die von einer zur anderen führten.

»Eine schöne Geschichte«, sagte er. »Schön und traurig, aber doch nicht mehr als eine Geschichte.«

Coars Kopf löste sich von seiner Schulter. »Du glaubst sie nicht?«

Skar lächelte. »Doch. Das heißt - ja und nein. Alte Geschichten sind selten ganz wahr, ebenso wie sie selten ganz erlogen sind. Und ich habe die Erfahrung gemacht, daß jedes Volk seine Vision vom Paradies hat. Und ihr seid kein Volk von Kriegern.«

Seine Worte schienen Coar zu verletzen. Sie ließ seinen Arm los, trat einen Schritt zur Seite und sah ihn erschrocken an.

Skar hatte plötzlich das Gefühl, etwas sehr Dummes gesagt zu haben - wie schon so oft hier. »Verzeih«, murmelte er. »Ich ... wollte dir nicht weh tun.«

»Das ... hast du nicht«, sagte Coar hastig, aber ihr Blick sagte das Gegenteil. Plötzlich lächelte sie wieder, aber Skar war sicher, eine deutliche Spur von Trauer und Resignation darin zu erblikken. »Du hast das Recht, so zu denken. Wenn die Männer dort, wo du herkommst, alle so kämpfen wie du, magst du uns wirklich nicht als Krieger ansehen.«

Skar hätte sich am liebsten selbst geohrfeigt. »So habe ich es nicht gemeint«, widersprach er lahm. »Auch in meiner Heimat kämpfen die Menschen nicht besser als ihr. Es ist nur ...« Er brach ab, ballte wütend die Faust und schlug sich wuchtig gegen die Oberschenkel. »Ach verdammt«, stieß er hervor. »Ich habe Blödsinn geredet. Vergiß es, wenn du kannst.«

Sie schwieg einen Moment, senkte den Blick und schmiegte sich erneut an ihn. Ihre Hände wanderten an seinen nackten Armen empor und legten sich in seinen Nacken. Aber der Zauber des Augenblicks war dahin und ihr Verhalten nicht mehr als eine leere Geste ohne echte Bedeutung. Für einen flüchtigen Augenblick hatte es so etwas wie ein zartes Band von Vertrauen zwischen ihnen gegeben, aber er hatte es mit ein paar dummen und unüberlegten Worten zerstört.

Er löste vorsichtig ihre Arme von seinem Hals und schob Coar auf Armeslänge von sich. »Müssen wir nicht zurück?« fragte er. Er spürte, wie Coar unter der Berührung seiner Finger erschauerte. »Die anderen werden bereits auf dich warten.«

Coar nickte, aber es war eine Bewegung voller Widerwillen. Sie drehte sich um und wollte den Weg zurückgehen, den sie gekommen waren, aber Skar hielt sie mit einem raschen Griff zurück. »Ich weiß nicht, ob ich gegen ein Tabu verstoße, wenn ich die Frage stelle«, sagte er zögernd. »Aber ... kann ich dabeisein?«

»Natürlich«, antwortete Coar. Das Wort kam so schnell, als hätte sie nur darauf gewartet, daß er diese Frage stellte. »Sie waren deine Kameradinnen ebenso wie meine. Es wäre eine Ehre für uns, wenn du an der Zeremonie teilnehmen würdest. Kannst du wieder reiten? Es ist weit.«