Dann begann der Gesang.
Zuerst waren es nur wenige Stimmen, die sich in das dumpfe Raunen und Summen mischten und eine schwermütige, dunkle Melodie dazu sangen, dann mehr und mehr und immer mehr, bis der Wald und die Wüste widerhallten vom kräftigen Gesang aus fünfhundert Kehlen, von dunklen Worten voller Trauer, Worte, die Skar nicht verstand, deren Klang aber irgend etwas in ihm anzurühren schien, obwohl oder vielleicht gerade weil er sie nicht verstand. Es war ein Trauergesang, aber ein Trauergesang, der nicht resignierend, sondern trotz allem optimistisch war, in dem die Cearner ihren Toten Hoffnung statt Verzweiflung mit auf den Weg gaben, der aussagte, daß für diese Menschen der Tod eine völlig andere Bedeutung hatte als für ihn: nicht Ende, sondern vielmehr Anfang, der der erste Schritt in eine bessere, andere Welt war, eine Welt ohne Angst und Schmerzen, ohne Haß und Kampf. Er erinnerte sich wieder, daß Coar auf jener Lichtung nicht von Tod, sondern von Erwachen gesprochen hatte, und jetzt begriff er auch, warum.
Der Gesang brach ab, und für Sekunden legte sich eine große, schwere Stille über die Wüste. Dann glomm ein heller, im dunklen Schwarz der Nacht beinahe schmerzhaft greller Funke auf und wuchs zum prasselnden Flammenspiel einer Fackel heran, der rasch eine zweite, dritte, vierte und fünfte folgten. Skar bemerkte, wie Coar sich bewegte, und wandte verstohlen den Blick.
Coar war einen halben Schritt vorgetreten und verharrte nun mit gesenktem Kopf und unter dem Kinn gefalteten Händen. Ihre Augen waren geschlossen, und auf ihrem Gesicht lag ein Ausdruck angespannter Konzentration. Ihre Lippen formten lautlose Worte.
Der Mann zu seiner Rechten trat beiseite und berührte ihn sanft an der Schulter. Skar trat ebenfalls zurück und blieb stehen, als der Cearner ihn ein zweites Mal anstieß. Wieder erhob sich Gesang aus zahlreichen Kehlen, aber es war ein anderes Lied diesmal, eine schwermütige, getragene, auf- und abschwellende Melodie, die Skar, je länger er lauschte, mehr und mehr an das regelmäßige Schlagen eines gigantischen ruhigen Herzens erinnerte. Die Fackelträger traten nun vor und bildeten ein stummes Spalier zu beiden Seiten der Kommandantin. Ihre Schritte lagen genau im Rhythmus des Gesanges, und selbst das Flackern der Flammen schien sich dem sanften Auf und Ab des Singsanges anzupassen. Coar hob in einer langsamen, betenden Geste die Hände zum Himmel. Zwischen ihren Fingern schimmerte ein kleiner silberner Gegenstand.
Wieder brach der Gesang ab, aber dafür begann im Wald hinter ihnen eine Trommel einen dumpfen, gleichmäßigen Rhythmus zu schlagen. Coar senkte die Arme und sah sekundenlang reglos zu Boden. Dann begann sie den jenseitigen Hang hinunterzugehen, begleitet von den Fackelträgern und dem Rhythmus der Trommeln, der nun lauter, fordernder zu werden schien.
Coar kniete nieder. Der sanfte Schimmer der Fackeln bildete einen weiten, nach der Wüste hin offenen Kreis um sie herum und vertrieb Kälte und Dunkelheit aus ihrer unmittelbaren Umgebung. Sie verharrte einen Moment reglos, beugte sich vor und begann mit bloßen Händen im Boden zu graben, eine Arbeit, die in dem schweren und feuchten Sand sicher anstrengend und schmerzhaft war. Ihre Bewegungen waren langsam und zielsicher, als folge sie dabei einem genau vorgegebenen Muster. Sie grub etwa einen halben Meter tief, richtete sich auf und säuberte die Hände mit einem Tuch, das ihr einer der Fackelträger reichte. Die Trommelschläge verstummten. Für die Dauer von zehn, fünfzehn Atemzügen saß die junge Kommandantin vollkommen reglos da, eine filigran gearbeitete Statue, die von silbernem Sternenlicht übergossen wurde. Ihre Hände ruhten auf dem kleinen silbernen Gegenstand, den Skar schon zuvor bemerkt hatte. Er erkannte ihn jetzt wieder - es war das Kästchen, das ihm bereits bei der verwirrenden Zeremonie auf der Waldlichtung aufgefallen war. Coar klappte den Deckel auf, griff hinein und nahm ein winziges rundes Korn heraus. Ihre Hand senkte sich in die Grube, die sie gegraben hatte, verharrte einen Moment reglos und zog sich dann leer wieder zurück. Erneut blieb sie sekundenlang bewegungslos und mit geschlossenen Augen sitzen, dann begann sie, wieder mit bloßen Händen und langsamen, zeremoniellen Bewegungen, die Grube wieder zuzuschaufeln. Ein Mann brachte ihr eine flache Schale mit Wasser. Sie trank einen winzigen Schluck davon, hob die Schale dann hoch vor das Gesicht und drehte sie mit einem Ruck um. Das Wasser floß heraus und versickerte fast augenblicklich im Boden. Ein tiefer, erleichterter Seufzer lief durch die Reihen der gebannt dastehenden Cearner. Coar erhob sich, verneigte sich tief in Richtung Wüste und ging dann rückwärts davon. Ihre Hände umklammerten das kleine Silberkästchen, als enthielte es etwas ungeheuer Kostbares.
Und das tat es wohl auch, dachte Skar, halb betäubt vor Überraschung und ehrfürchtigem Staunen. Er hatte gewußt, daß dieses Volk ein intensives Verhältnis zur Natur und dem Wald hatte, aber erst jetzt begriff er wirklich, wie stark das Band war, wie sehr diese Menschen mit Cearn und Cearn mit ihnen verbunden sein mußten. Coar bewegte sich, flankiert von den Fackelträgern und begleitet von dumpfem, auf- und abschwellendem Gesang und dem pochenden Rhythmus der unsichtbaren Trommeln, wenige Schritte nach Norden und kniete erneut nieder. Wieder bildeten die Fackelträger einen weiten, nach einer Seite hin offenen Kreis um sie herum, und wieder begann sie mit bloßen Fingern im Boden zu graben, um die Zeremonie zu wiederholen, die Seele des zweiten Mädchens dem Boden und dem Wald anheimzugeben. Sie bettete den Samen, den sie dem Körper des getöteten Mädchens entnommen hatte, im Boden, goß Wasser darüber und stand auf, um mit raschem Schritt zu ihrem Platz auf dem Hügelkamm zurückzugehen. Die Fackeln erloschen. Noch einmal erhob sich Gesang, leiser und andächtiger diesmal, ein letzter Abschied, die letzte Ehrung, die die Cearner ihren gefallenen Kriegern zollten, dann wandten sie sich wie auf ein unhörbares Kommando hin um und gingen, jeder für sich und keinem geordneten Plan folgend, zu den wartenden Pferden zurück. Die Feier war vorüber. Sie war kurz gewesen, viel kürzer und einfacher als manch andere, der Skar beigewohnt hatte, aber trotzdem hatte sie ihn mehr berührt als jemals ein ähnliches Ereignis zuvor.
Skar stieg schweigend in den Sattel und drängte sein Tier mit sanftem Schenkeldruck herum. Das Pferd schnaubte, warf nervös den Kopf in den Nacken und scharrte mit den Vorderhufen im weichen Boden. Skar blinzelte unwillkürlich nach oben, aber der Himmel über dem Wald war leer.
Die Prozession begann auf dem gleichen Weg zurückzureiten, den sie gekommen war. Skar nahm wieder seine Position neben Coar ein, aber die Kommandantin wirkte seltsam ruhig und abweisend, so daß er nicht versuchte, ein Gespräch anzufangen.
Ein einzelner Reiter löste sich vom hinteren Ende der Kolonne und sprengte auf sie zu. Bernec. Skar erkannte ihn sofort wieder, obwohl er seine Rüstung abgelegt hatte und nur mehr ein einfaches, von einem schmalen silbernen Gürtel zusammengehaltenes Gewand und knielange Stiefel trug. Seltsamerweise wirkte er ohne seine martialische Aufmachung beinahe eindrucksvoller als zuvor. Er war nur wenig älter als Coar, aber größer und breitschultriger, und die Art, in der er auf seinem Pferd saß, ließ in Skar fast so etwas wie Neid aufkommen. Er zügelte sein Tier dicht neben ihnen, musterte Skar mit einem Blick, in dem angefangen von Mißtrauen über Verlegenheit und widerwillige Bewunderung bis hin zu beinahe kindlichem Trotz alle nur denkbaren Empfindungen vertreten zu sein schienen, und sagte dann ein paar Worte zu Coar.
Die Kommandantin antwortete nach kurzem Zögern. Ihre Worte klangen scharf, aber auf ihren Zügen lag ein verzeihendes Lächeln. Sie deutete ein paarmal auf Skar, dann auf sich und dann noch einmal auf Skar und unterstrich die Bewegung mit einem knappen befehlenden Wort. Bernec starrte sie wütend an, machte ein unwilliges Geräusch und grinste abfällig und in einer Art, in der man nur lacht, wenn man jemanden verletzen will.