Er stürmte die Treppe hinunter, lief mit weit ausgreifenden Schritten durch das Haus und prallte fast mit Bernec zusammen, als er auf die Rampe hinaustrat. Er wollte mit einem schnellen Schritt ausweichen und weitergehen, doch Bernec packte ihn am Handgelenk und hielt ihn zurück.
»Nicht so eilig, Satai«, sagte er. »Ich habe mit dir zu reden.«
»Aber ich nicht mit dir«, schnappte Skar mit kaum verhohlener Wut. Er riß seine Hand los und wandte sich abermals um, aber Bernec hielt ihn wieder zurück. Diesmal war sein Griff so fest, daß es schmerzte.
»Wo willst du hin?« fragte er abfällig. »Zu Coar?«
»Und wenn?« gab Skar gereizt zurück. »Was geht dich das an?«
»Eine Menge«, sagte Bernec. »Jedenfalls mehr, als du glaubst, Skar. Ich war gerade bei ihr. Was hast du mit ihr gemacht?«
»Mit ihr gemacht?«
Bernec lächelte böse. »Verstell dich nicht, Skar. Ich habe es zugelassen, daß du dich in ihr Vertrauen geschlichen hast, und ich habe es zugelassen, daß -« Skar schlug seine Hand mit einer blitzschnellen Bewegung zur Seite und funkelte ihn wütend an. »Ich wüßte nicht, was es dich anginge, was Coar tut oder nicht tut. Du hast nichts zuzulassen, Bernec. Vielleicht hat Coar dir früher einmal gehört, aber das ist vorbei. Ich habe ihr ein paar Dinge gesagt, die ihr nicht gefallen haben, aber das ist nicht dein Problem. Laß mich vorbei.«
Bernec schluckte mühsam. Seine Lippen bebten, und er schien mit aller Gewalt gegen den Wunsch anzukämpfen, sich auf Skar zu stürzen und mit den Fäusten auf ihn einzuschlagen.
»Skar«, flüsterte er. »Ich warne dich. Ich weiß, daß du stärker bist als ich, und ich weiß, daß du mich besiegen und wahrscheinlich töten wirst, wenn ich mit dir kämpfe. Aber ich werde nicht zulassen, daß du Coar weh tust. Niemand darf das, verstehst du? Niemand! Du kannst mit ihr schlafen, so oft und so lange du willst, aber wenn du ihr weh tust, werde ich dich umbringen.«
Skar lächelte geringschätzig. »Wirst du das, Bernec?« fragte er.
Bernec nickte. Die Bewegung wirkte abgehackt und verkrampft. »Ja«, sagte er ernst, »das werde ich.«
Für einen Moment wurde die Spannung zwischen ihnen fast greifbar. Skar wich unwillkürlich einen halben Schritt zurück. Er hatte plötzlich das Gefühl, Bernec bisher mit völlig falschen Augen betrachtet zu haben. Vielleicht war er gar nicht das zornige große Kind, als das er ihn bisher gesehen hatte.
»In Ordnung«, sagte er leiser. »Ich werde es mir merken. Und Bernec ...«, fügte er hinzu, als Bernec sich umwenden und davongehen wollte, »es tut mir leid. Sag Coar, daß ich ihr nicht weh tun wollte.«
»Du ... gehst nicht zu ihr?« fragte Bernec verwirrt.
»Nein. Nicht jetzt. Ich glaube, es ist besser, wenn wir uns eine Zeitlang nicht sehen. Ich werde zu Logar gehen und bei ihm übernachten, und morgen reite ich mit Mergell nach Ipcearn. Ich komme zu ihr, sobald ich zurück bin.«
Sie brachen bei Sonnenaufgang auf. Mergell hatte sich nicht sonderlich überrascht gezeigt, als Skar bei ihm erschienen war und kurz angebunden verkündet hatte, daß er mit nach Ipcearn reiten würde, aber der Abend war in einer angespannten, gereizten Atmosphäre verlaufen. Skar hatte es vorgezogen, nicht zu dem Fest zu gehen, das die Bewohner Wents für die Ipcearner - aber wohl auch für ihn - gegeben hatten, sondern war statt dessen früh in die Kammer gegangen, die ihm Logar zugewiesen hatte. Aber es hatte lange gedauert, bis er endlich Schlaf gefunden hatte, und als sie am Morgen aufbrachen, war er beinahe froh, Went verlassen zu können, wenigstens für eine Weile.
Wie am vergangenen Morgen hatte sich ein Großteil der Stadtbewohner am Tor versammelt, um den Reitern zuzusehen. Aber die Stimmung unter den Männern und Frauen war anders heute, völlig anders. War die Menge gestern fröhlich gewesen, fröhlich und neugierig, gemischt mit einer Spur von vorsichtigem Respekt und vielleicht auch - jetzt, nach den Informationen, die er von Del erhalten hatte, glaubte er das Gefühl, das er gestern nur unbewußt verspürt hatte, richtig deuten zu können - unterdrückter Furcht, schien jetzt beinahe so etwas wie Trauer über der Menge zu liegen, die sich rechts und links des Weges versammelt hatte.
Er hielt vergeblich nach Coar oder Larynn Ausschau, aber obwohl es ihn schmerzte, sie nicht zu sehen, war er auf der anderen Seite beinahe froh darüber. Vielleicht hatte er mit dem, was er ihr gestern gesagt hatte, alles zerstört. Trotzdem bereute er kein Wort. Jetzt nicht mehr. Vielleicht hatte er eine Wunde in ihre Seele geschlagen, aber wenn, dann war es notwendig gewesen. Coar sah einen Mann in ihm, der er nicht war und niemals werden konnte, und er hatte diese Illusion zerstören müssen, so wie ein Heilkundiger einen vergifteten Stachel aus dem Fleisch schneiden mußte auch wenn es schmerzte.
Sie verließen Went und drangen in scharfem Tempo in den Wald vor. Zwei von Bernecs Reitern lotsten sie sicher durch das Labyrinth von tödlichen Fallen, das die Stadt umgab, dann, von einem Augenblick auf den anderen, waren sie allein. Mergell drängte sein Pferd neben ihn und deutete mit einer Kopfbewegung nach Osten.
»Wir werden bis zum Abend reiten müssen, wenn wir lpcearn vor Sonnenuntergang erreichen wollen«, sagte er. »Fühlst du dich kräftig genug dazu?« Skar lächelte abfällig. »Die Frage kommt ein wenig spät, findest du nicht?« Mergell verzog das Gesicht. »Normalerweise ist der Weg weniger ermüdend«, sagte er, ohne auf die Spitze einzugehen. »Doch im Moment können wir es nicht wagen, nach Sonnenuntergang noch im Wald zu sein. Die Hoger ...«
Skar hätte im Augenblick die Gesellschaft eines Hogers der Mergells vorgezogen, aber er beließ es bei einem gleichmütigen Achselzucken und konzentrierte sich wieder auf den Weg. Er spürte, daß Mergell mit ihm reden wollte und nicht wußte, wie er es anfangen sollte, aber er hatte keine sonderliche Lust, mit ihm zu streiten. Nicht einmal, mit ihm zu reden. Unbewußt gab er Mergell die Schuld an allem, was seit dem vergangenen Morgen geschehen war. Dazu kam, daß Mergell einem Menschenschlag angehörte, den er nicht mochte. Und es war niemals seine Art gewesen zu heucheln.
Mergell versuchte noch ein paarmal, ein Gespräch in Gang zu bringen, gab es aber schließlich auf und kehrte an seinen Platz am Ende der Kolonne zurück. Sie ritten den ganzen Tag nach Osten, ohne mehr als zwei kurze Pausen einzulegen, in denen sich Menschen und Tiere wenige Minuten erholen und stärken konnten. Einmal begegneten sie einer Gruppe der grüngekleideten Männer, die Skar bereits an seinem ersten Morgen in Went beobachtet hatte. Sie hatten ihre Pferde am Rande einer kleinen, offensichtlich durch einen Brand entstandenen Lichtung angebunden und waren damit beschäftigt, den verkohlten Boden abzutragen und junge, grüne Schößlinge in die Erde zu pflanzen. Die Bewohner Cearns kümmerten sich um ihren Wald. Er wurde nicht nur draußen in der Wüste weitergepflanzt, sondern auch hier gehegt, versorgt wie ein verwundetes Tier und geheilt, wo er krank war. So wie der Wald ihnen Schutz gewährte, halfen sie ihm, wo er sie brauchte. Aber er hatte nicht viel Zeit, ihnen zuzusehen. Mergell trieb ihn und die anderen unbarmherzig weiter. Der Wald von Cearn flog an ihnen vorüber, aber Skar hatte an diesem Tag keinen Blick mehr für die Schönheit dieses Landes. Er mußte sich eingestehen, daß er sich insgeheim vor dem, was ihn in lpcearn erwarten mochte, fürchtete. Es war nicht nur sein und Dels Schicksal, das dort entschieden werden würde. Sie waren beide schon viel zu tief in das Schicksal dieses Volkes verstrickt, um nur noch für sich zu sprechen. Ob er wollte oder nicht - mit der Entscheidung, die er in Ipcearn fällen mußte, würde er das Schicksal dieses ganzen Volkes verändern, so oder so. Und er hatte das ungute Gefühl, daß es keine Veränderung zum Guten hin sein würde.
Cearn war ein Wunder. Die Kultur, die hier entstanden war, hatte sich über Jahrhunderte, vielleicht Jahrtausende entwickelt, und sie hatte nur überleben können, weil sie statisch war. Cearn war ein Vakuum, ein Ort, der völlig vom Rest der Welt abgeschieden existierte, unverändert über unzählige Generationen hinweg. Und er hatte nur so und in dieser Form überleben können, weil es keine Veränderung gegeben hatte. Eine Kultur wie die der Cearner konnte nur überleben, solange sie isoliert war. Jede Veränderung mußte sie zerstören. Die Menschen von Cearn hatten die einzig mögliche Art gefunden, in einem so winzigen und verwundbaren Universum wie dem ihren zu überleben.