Am späten Abend erreichten sie Ipcearn. Das Tempo ihres Vorwärtskommens hatte sich in den letzten Stunden beständig verlangsamt, obwohl Mergell und die anderen ihre Pferde unbarmherzig antrieben. Aber die Tiere waren so erschöpft, daß es Skar sowieso schon wie ein Wunder vorgekommen war, daß noch keines von ihnen unter seinem Reiter zusammengebrochen war. Schließlich, als die Dämmerung bereits hereingebrochen war und der Himmel allmählich eine trübgraue Färbung annahm, ließ Mergell anhalten. Die geordnete Formation, in der sie bisher geritten waren, löste sich für Augenblicke in ein Durcheinander erschöpft keuchender Tiere und kaum weniger erschöpfter Männer auf. Skars Pferd wieherte kläglich. Seine Flanken zitterten vor Schwäche, und sein Atem ging rasselnd und mühsam. Flockiger weißer Schweiß troff von seinen Nüstern, und die Hufe stampften ununterbrochen im weichen Waldboden, als wäre es zu erschöpft, um noch ruhig auf einem Fleck stehen zu können.
Mergell rief ein scharfes Kommando und winkte ihn mit einer Geste zu sich. Skar tätschelte seinem Pferd zärtlich den Hals und flüsterte ihm ein paar sinnlose leise Worte ins Ohr, um es ein letztes Mal zum Weitergehen zu bewegen.
Mergell deutete mit der Hand auf den nahen Waldrand und machte eine auffordernde Kopfbewegung. Skar verstand. Er zog an den Zügeln, und sein Tier trabte gehorsam auf die vorderste Baumreihe zu und blieb stehen.
Skar stockte vor Überraschung beinahe der Atem. Er hatte Phantastisches erwartet, aber Ipcearn übertraf alles, was er sich vorgestellt hatte.
Vor ihnen lag eine weite, halbkreisförmige Lichtung. Und an ihrem gegenüberliegenden Rand lag Ipcearn. Wie Went war auch der Königspalast von Ipcearn ein Kind des Waldes, und doch war er anders, ganz, ganz anders. Die Türme und Zinnen der Waldfestung erhoben sich über einer gigantischen, zwanzig, dreißig Manneslängen über dem Boden angebrachten Plattform, die, obwohl von Dutzenden kräftiger Baumstämme getragen, doch beinahe schwerelos zwischen den Wipfeln Cearns zu schweben schien. Das Bild erinnerte Skar an einen gigantischen Adlerhorst, ein lebendes grünes Gebilde aus Holz und Ranken und Grün und Zinnen und Türmen und kühn geschwungenen Bögen, Fenstern und Toren, Wehrgängen und Brücken. Ipcearn war keine Burg, keine Festung. Nicht Heimat der Könige, sondern selbst König, Herrscher über die schweigende dunkle Heerschar des Waldes, wie seine Bewohner die Menschen Cearns beherrschten.
»Gefällt es dir?« fragte Mergell leise neben ihm.
Skar nickte, ohne den Blick von der phantastischen Erscheinung zu nehmen. Ipcearn mochte sich über ein Oval von vielleicht hundertfünfzig Metern Länge erstrecken, doch es wirkte in diesem Moment auf ihn beeindruckender als die mächtigste Festung, die er je gesehen hatte.
»Ipcearn ...«, flüsterte er. »Was ... bedeutet es?«
»In eurer Sprache?« Mergell lächelte. »Hoffnung, Skar. Aber auch Trost, Zuflucht . . . es gibt kein Wort, das seine Bedeutung wirklich erfassen würde.« Er schwieg sekundenlang und gab sich dann einen sichtlichen Ruck. »Komm«, murmelte er. »Wir müssen weiter. Es wird dunkel. Hier in der unmittelbaren Nähe der Festung sind wir zwar sicher, aber ich bin müde von dem langen Ritt, und die Tiere brauchen Ruhe.« Er gab seinem Pferd die Sporen und ritt langsam über die sanft ansteigende Lichtung auf die Waldfestung zu. Skar und die anderen folgten ihm, nunmehr ohne feste Formation, sondern in einer weit auseinandergezogenen Kette.
Auf der untersten Ebene Ipcearns glomm ein greller, weißer Funke auf und erlosch. Mergell hob die Hand und winkte. Der Funke glühte noch einmal auf und erlosch wieder, aber dafür entstand an der von wogenden braunen Schatten eingehüllten Unterseite der Festung Bewegung. Eine Falltür wurde geöffnet, und während sich die Männer Ipcearn näherten, schwebte eine quadratische, von Dutzenden kräftiger Taue gehaltene Plattform hernieder.
Skar stieg steifbeinig aus dem Sattel, betastete sein schmerzendes Kreuz und legte den Kopf in den Nacken. Sie waren unterhalb Ipcearns, und die Festung schien wie ein titanischer fliegender Berg über ihnen am Himmel zu hängen, ein ovaler schwarzer Schatten, unter dem bereits die Nacht hereingebrochen war. Der Boden war hier, wo niemals Sonne und Licht hingelangten, staubig und trocken und erinnerte an die Wüste, die hier vielleicht jahrmillionenlang geherrscht hatte, ehe der Wald von Cearn auf seiner phantastischen Wanderung an diesem Ort vorbeizog.
Mergell deutete mit einer einladenden Kopfbewegung auf die Plattform und trat selbst auf das hölzerne Rechteck, als Skar zögerte. Auch die anderen Männer traten neben ihn, und Skar folgte nach wenigen Sekunden. Die Plattform setzte sich mit leichtem Rucken in Bewegung. Der Boden fiel unter ihnen zurück und versank schließlich im anonymen Grau der Dämmerung. Skar fiel auf, wie still es war. Die Gespräche der Männer waren verstummt, und von oben drang das leise Knarren und Quietschen der Winde, die den Aufzug bewegte, herab. Die Plattform schwebte in gleichmäßigem Tempo höher, näherte sich dem Boden Ipcearns und verschmolz schließlich mit ihm. Ein sanfter Ruck ging durch die hölzernen Balken zu ihren Füßen, als irgendwo unter ihnen eine unsichtbare Halterung einrastete und sie sicherte.
Sie standen in einer weiten, von dämmerigem, rotem Fackelschein erleuchteten Halle, von deren Decke unzählige Taue und Stricke herabhingen. Die Plattform, auf der sie hinaufgekommen waren, war nicht die einzige. Ipcearn war durchaus darauf eingerichtet, mehr Besucher gleichzeitig aufzunehmen - oder hinauszulassen.
Skar sah sich neugierig um. Er hielt vergeblich nach einem Empfangskomitee oder irgendeinem anderen Zeichen menschlichen Lebens Ausschau. Der Raum war - mit Ausnahme von Mergells Gruppe und ihm selbst - vollkommen leer. Die Stricke verschwanden in kleinen runden Löchern unter der Decke, und als er genau hinhörte, glaubte er hoch über seinem Kopf das Geräusch leiser Schritte wahrzunehmen. Offenbar befanden sich die Winden, mit denen die Aufzüge bewegt wurden, dort oben.
Mergell berührte ihn an der Schulter und deutete auf einen bogenförmigen Durchgang am hinteren Ende der Halle. Skar nickte, trat von der Aufzugsplattform herunter und ging zögernd durch den Raum. Sie gingen durch das Tor, einen kurzen, niedrigen Gang entlang, von dem zahlreiche Türen nach rechts und links abzweigten, und anschließend eine ebenso schmale und niedrige Treppe hinauf. Überall in den Wänden gewahrte er schmale, nach oben spitz zulaufende Öffnungen, Schießscharten wahrscheinlich, und Boden und Decke waren mit einem Muster dunkler, regelmäßiger Linien überzogen, als verberge sich hinter ihrem scheinbar massiven Aussehen ein wahres Labyrinth von Falltüren und Klappen. Wer immer versuchen würde, Ipcearn auf diesem Wege zu stürmen, würde einen grausamen Blutzoll bezahlen müssen. Ipcearn mochte in seinem Äußeren an ein Märchenschloß erinnern, aber es war eine nahezu uneinnehmbare Festung.
Mergell geleitete ihn über ein wahres Labyrinth von Treppen und verzweigten Gängen tiefer ins Innere der Burg. Die Gruppe ihrer Begleiter schmolz allmählich dahin, und als Mergell schließlich stehenblieb und mit einer Kopfbewegung auf ein einfaches, hölzernes Tor deutete, war er mit Skar und Chaime allein. »Geh, Skar«, sagte er auffordernd. »Die Könige erwarten dich.«
Skar wandte überrascht den Kopf. »Jetzt gleich?« sagte er.
Mergell lächelte. »Warum nicht?«
»Aber ich dachte ...«, murmelte Skar verwirrt. »Wir sind schmutzig und abgerissen von der langen Reise, und ...«
»Äußerlichkeiten interessieren uns hier nicht, Skar«, fiel ihm Chaime ins Wort. Es war das erste Mal, daß Skar ihn überhaupt reden hörte. Seine Stimme war dunkler als die Mergells und schien auf unbestimmbare Art mehr Autorität und Ruhe auszustrahlen. »Du kannst dich später säubern und ausruhen. Nun geh.«