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»Ich habe dich hierhergebeten, um dich um deine Hilfe zu bitten«, fuhr Seshar fort, »doch auf eine andere Art, als du vielleicht denkst. Wir möchten, daß du gehst. Du und dein Freund.«

Skar war für einen Moment wie vor den Kopf geschlagen. »Ihr wollt«, stammelte er, »daß ... daß wir ...?«

»Natürlich nicht sofort«, sagte Seshar sanft. »Ihr könnt bleiben, bis ihr euch kräftig genug fühlt, der Nonakesh ein zweites Mal die Stirn bieten zu können, egal, wie lange es dauert. Ich kann deine Verwirrung nachfühlen, Skar. Mergell kam mit der Bitte zu dir, dich in unseren Dienst zu stellen, und nun stehe ich hier und bitte dich um gerade das Gegenteil. Doch du wirst verstehen, warum, wenn ich meine Geschichte zu Ende erzählt habe.«

»Ich begreife nur nicht, warum Ihr mich erst ...«

»Geduld, Skar«, bat Sehsar. »Meine Gemahlin und ich mögen die Könige dieses Landes sein, doch wir sind nicht seine unumschränkten Herrscher.«

»Das ... verstehe ich nicht«, gestand Skar.

Seshar lächelte. Er wandte sich um, ging zu einem Schrank und nahm einen Tonkrug und zwei einfache Becher hervor. »Setz dich, Skar, und trink einen Becher Wein mit mir.«

Skar warf einen letzten Blick auf das Modell neben sich und setzte sich dann zögernd in Bewegung. Seshar schenkte die beiden Becher voll, nahm selbst einen kleinen Schluck und wartete, bis Skar seiner Bitte gefolgt war und Platz genommen hatte. »Ich habe lange überlegt, ob ich dir die Wahrheit sagen soll, doch ich glaube, du bist kein Mann, den man auf Dauer belügen kann. Du und Del, ihr seid nicht die ersten, die den Weg zu uns gefunden haben.«

»Ich weiß«, nickte Skar. »Was geschah mit den anderen?«

»Sie starben«, antwortete Seshar ruhig. »Manche überlebten die Entbehrungen nicht, die sie auf dem Weg hierher überstehen mußten. Andere wieder gingen nach kurzer Zeit, um den Rückweg zu suchen. Keiner von ihnen fand ihn. Und wieder andere wurden getötet, von mir oder denen, die vor mir die Verantwortung für Cearn innehatten.«

Seine Stimme war zu einem leisen Flüstern herabgesunken, während er sprach, und obwohl er in entspannter Haltung neben Skar saß und scheinbar desinteressiert mit seinem Becher spielte, lag auf seinen Zügen ein lauernder, angespannter Ausdruck. Aber seine Worte überraschten Skar kaum noch. Er hatte gewußt, daß ihn auf lpcearn eine Überraschung erwarten würde.

»Warum?« fragte er ruhig.

»Warum«, wiederholte Seshar nachdenklich. »Die Antwort auf diese Frage ist auch die Antwort auf die Frage, weshalb ich dich rufen ließ, Skar. Ich glaube, ich kann dir vertrauen, und ich will ehrlich zu dir sein. Du hast viel für unser Volk getan, und du hast es verdient, die Wahrheit zu wissen. Vielleicht hilft sie dir bei deiner Entscheidung. Nicht alle, die den Weg zu uns fanden, kamen in Frieden. Manche kamen, um zu stehlen, doch sie mußten bald erkennen, daß es bei uns nicht viel zu holen gibt. Cearn ist ein armes Land, was materielle Güter angeht. Aber andere kamen, um zu herrschen. Cearn ist klein, und einem Mann wie dir mag es durchaus gelingen, die Macht an sich zu reißen. Unser Volk ist leicht zu beeinflussen, Skar. Wir sind isoliert, und unsere Unkenntnis von der Welt und dem, was in ihr vorgeht, macht uns verwundbar.«

»Wenn das Eure Sorge ist, kann ich Euch beruhigen«, sagte Skar. »Ich habe nie nach irgendwelcher Macht gestrebt. Sie ist es nicht wert.«

»Das stimmt«, sagte Seshar. »Macht bedeutet Verantwortung und Last, zumindest hier bei uns. Aber ich glaube auch nicht, daß du zu jenen Männern gehörst. Meine Sorge ist eine andere. Du hast, als du Cearn betreten hast, etwas getan, über dessen Folgen du dir vielleicht bis jetzt noch nicht im klaren bist.«

»Die Hoger?«

Seshar nickte und stellte seinen Becher ab. Skar fiel auf, daß seine Finger mit kleinen, nervösen Bewegungen über seinen Rand fuhren.

»Unser Volk lebt von der Erinnerung«, sagte Seshar. »Der Erinnerung, der Hoffnung und den Legenden. Und ihr seid eine Legende.« Er lächelte wehmütig, hob den Kopf und sah eine Zeitlang schweigend aus dem Fenster. Über den Wipfeln von Cearn war Dunkelheit hereingebrochen, und gleich den finsteren Schatten schienen auch Kälte und ein Gefühl der Beklemmung in den Raum zu kriechen. »Das Volk von Cearn konnte nicht überleben, ohne Zuflucht zu Mythen, zu Legenden zu nehmen, Skar. Und eine dieser Legenden besagt, daß irgendwann ein mächtiger Held aus dem Nichts auftauchen und unser Volk in die Heimat zurückführen wird. Der Beh'ent.« Er stockte, als er das nachdenkliche Lächeln auf Skars Zügen entdeckte. »Du findest es dumm und naiv, nicht?«

Skar schüttelte den Kopf. »Nein. Es ist nur logisch. Ich mußte nur daran denken, daß Del gestern beinah die gleichen Worte wie Ihr benutzte. Auch er warnte mich, mich nicht in eine Rolle hineindrängen zu lassen, der ich nicht gewachsen bin.«

»Ich fürchte, daß dies bereits geschehen ist, Skar«, sagte Seshar nach kurzem Zögern. »Die Menschen in Went glauben, daß mit dir der lang erwartete Befreier gekommen ist. Der Mann, der sie zurück nach Urcöun führen wird.«

»Aber das bin ich nicht!« widersprach Skar. »Del und ich sind nichts weiter als zwei Satai, die durch eine Laune des Zufalls den Weg zu Euch gefunden haben.«

»Gegen Legenden«, murmelte Seshar mit einem milden, verzeihenden Lächeln, »kämpfen selbst Könige vergebens. Du magst dich wundern, daß ich Mergell mit der Bitte um Hilfe zu dir sandte und nun das genaue Gegenteil von dir verlange, doch ich hatte keine andere Wahl. Wenn es einen Mann gibt, der den Menschen in Went und Ipcearn sagen kann, daß er nicht der ist, den sie in ihm sehen, so bist du es selbst. Aber du mußt behutsam vorgehen, Skar. Unser Volk lebt von der Hoffnung. Ohne sie müßte es zugrunde gehen. Nimm sie ihm nicht. Du würdest es vernichten.«

Skar schwieg betreten. Er wußte nicht, was er erwartet hatte, als er Seshar gegenübertrat - Hochmut und Überheblichkeit, vielleicht auch einen Herrscher, der mit strenger Güte regierte -, aber kaum einen traurigen alten Mann, der ihn um Hilfe bat, ihn beinahe anflehte. Seshars Worte hatten ihn tief erschüttert, mehr, als er zugeben wollte. Plötzlich glaubte er zu spüren, wie schwer die Last war, die Seshar tragen mußte. Cearn war kein gewöhnliches Königreich, und die Veranwortung, die er trug, war nicht die eines gewöhnlichen Königs. Auf seinen Schultern lastete mehr als das Schicksal eines Volkes; er mußte sich weniger um Politik als um die Seelen seiner Untertanen sorgen, Tag für Tag, Jahr für Jahr. Bei ihm - nur bei ihm - lag die Aufgabe, seinem Volk immer wieder neuen Mut zu vermitteln, ihm zu helfen, an einem Werk zu arbeiten, dessen Erfüllung weder sie noch ihre Kinder oder Kindeskinder jemals erleben würden.

»Du möchtest also, daß ich Mergells Ansinnen abschlage«, sagte er.

Seshar nickte. »Ja. Vielleicht hättest du auch ohne meine Bitte so entschieden, doch ich will, daß du weißt, was von deiner Entscheidung abhängt. Bernec und seine Anhänger glauben, nicht mehr länger warten zu können. Vielleicht haben sie recht, Skar. Vielleicht können sie Urcöun erreichen, und vielleicht würde es ihnen gelingen, es zurückzuerobern. Vielleicht.«

»Ihr wißt es nicht?« fragte Skar.

Erneut blickte Seshar lange und schweigend aus dem Fenster, ehe er antwortete, und erneut hatte Skar das Gefühl, daß seine Worte weniger Erklärung, sondern vielmehr Bitte waren. »Ihr habt die Wüste kennengelernt«, sagte er. »Ihr wißt, wie grausam sie ist. Wir haben Patrouillen nach Westen geschickt, immer und immer wieder, doch keine von ihnen hat jemals Urc erreicht.«

Seshar zögerte einen Moment, und Skar hob seinen Becher und trank mit langsamen, ruhigen Schlucken. Er war sich der Tatsache bewußt, daß Seshar ihm viel anvertraute, vielleicht mehr als gut war. Und trotzdem spürte er, daß er ihm noch nicht die ganze Wahrheit gesagt hatte.