»Vielleicht würden sie Urc finden und den Kampf gegen die Invasoren gewinnen«, fuhr Seshar nach einer endlos anmutenden Pause fort. »Aber dieses Vielleicht ist mir nicht sicher genug, Skar. Unser Volk hat jahrtausendelang gehofft und gekämpft, zu lange, um alles aufs Spiel zu setzen. Vielleicht würden sie Urcöun finden, aber vielleicht auch nicht. Es wird von Generation zu Generation schwerer, unseren Kindern neue Hoffnung zu geben. Wenn Bernec sein Vorhaben verwirklichen könnte und wenn er dann versagen würde, würde es mehr als ein paar hundert Menschenleben kosten, Skar. Es würde das Ende unserer Hoffnungen bedeuten. Das Ende Cearns.«
»Und welche Rolle spielen Del und ich dabei?« fragte Skar.
Seshar lächelte traurig. »Eine größere, als uns beiden recht sein kann, Skar. Dirobliegt es, den Menschen Cearns zu sagen, daß du nicht der lang erwartete Befreier bist. Ich kann dir nicht dabei helfen.«
Stille legte sich über den Raum; eine Stille, die etwas ungemein Bedrückendes mit sich zu bringen schien. Das also war das Geheimnis Cearns, beinahe enttäuschend auf der einen Seite, aber auch beklemmend und furchteinflößend. Ohne daß er irgend etwas Besonderes getan oder auch nur etwas davon gemerkt hätte, war ihm die Verantwortung für das Schicksal eines ganzen Volkes zugefallen. Seshar hatte recht - er konnte ihm nicht helfen, so gerne er es gewollt hätte. Er und Del waren von einem Tag auf den anderen zu Göttern geworden. Aber es war nicht leicht, ein Gott zu sein.
Er nippte erneut an seinem Wein und drehte den Becher unschlüssig in den Händen, froh, etwas zu haben, an dem er sich festhalten konnte. »Wenn Bernec wirklich der führende Mann der... ›Ungeduldigen‹ ist«, sagte er betont, »warum bittet Ihr ihn dann nicht zu Euch und erklärt ihm alles. Er ist vielleicht jung und aufbrausend, aber ich glaube, daß er vernünftig genug ist, Euch zuzustimmen.«
»Sicher«, sagte Seshar. »Doch es wäre sinnlos, Skar. Ein neuer Bernec würde heranwachsen, und die Probleme wären die gleichen. Auch ich war einst jung, auch wenn es schon lange her ist, und ich kann gut verstehen, was in Bernec und seinen Freunden vorgeht. Auch ich habe einmal zu denen gehört, die nicht länger warten wollten, und wäre ich nicht zufällig als Sohn eines Königs aufgewachsen, wäre ich vielleicht selbst zu einem zornigen jungen Mann wie Bernec geworden. Vielleicht«, fuhr er mit veränderter Betonung fort, »ist es ein Privileg der Jugend, ungeduldig zu sein, und vielleicht ist es an jedem anderen Ort wichtig und sogar notwendig, daß die Jugend sich gegen Bestehendes auflehnt. Aber so, wie die übrige Welt von der Veränderung lebt, so lebt Cearn von der Ruhe. Verändere dieses System, Skar, und du vernichtest es.«
Am nächsten Morgen wurde er noch vor Sonnenaufgang von einem Diener geweckt. Er war nicht mehr lange bei Seshar geblieben. Der scharfe Ritt hatte ihn mehr ermüdet, als er anfangs geglaubt hatte, und nachdem die Spannung nach und nach von ihm abgefallen war, war er rasch müde geworden. Seshar hatte ihm angeboten, zusammen mit ihm zu Abend zu essen, doch Skar hatte abgelehnt und statt dessen darum gebeten, auf sein Zimmer geführt zu werden. Seshar mußte gespürt haben, daß Skars Müdigkeit nicht mehr als ein vorgeschobener Grund war und er in Wirklichkeit nur allein sein wollte, um über das Gehörte nachzudenken, aber er hatte seinen Wunsch akzeptiert und ihn von einem Diener in den westlichen Teil der Festung geleiten lassen. Skar hatte lange wach gelegen und keinen Schlaf gefunden, und seine Gedanken waren immer und immer wieder um die gleichen Fragen gekreist, ohne einer Lösung auch nur nahe zu kommen. Seshars Worte, das war ihm trotz aller Freundlichkeit und der offenen Art, in der der König mit ihm geredet hatte, zweifelsfrei klar, waren mehr als nur Erklärung oder Bitte gewesen. Er hatte ihn auch wissen lassen, daß er ihn töten würde, wenn kein anderer Ausweg blieb. Und Skar nahm ihm diese kaum verhüllte Drohung noch nicht einmal übel. Ihm blieb keine andere Wahl, und wenn er den Befehl geben würde, die beiden Fremden, die das Gleichgewicht Cearns störten, zu töten, dann nicht aus Bosheit, sondern weil er es mußte.
Er stand auf, wusch sich gründlich und wollte gewohnheitsmäßig nach seinen Kleidern greifen, die er neben dem Bett zu Boden geworfen hatte. Sie waren nicht mehr da. Statt dessen entdeckte er, sauber zusammengefaltet über einem Stuhl direkt neben der Tür, knielange braune Hosen, wie sie in Went getragen wurden, Stiefel und eine offene Bluse, dazu einen dunkelroten, prachtvoll bestickten Umhang. Einzig Harnisch und Waffengurt waren von seinen eigenen Kleidern übriggeblieben. Für einen winzigen Moment war er verärgert, dann zuckte er resignierend die Achseln und begann sich anzuziehen. Er konnte wohl kaum in den Lumpen, die er bisher getragen hatte, vor einen König treten. Sekundenlang betrachtete er sich kritisch in dem polierten Metallschild, das als Spiegel von der Wand hing, strich dann glättend über den Stoff des Umhanges und lächelte zufrieden. Obwohl die Kleider für seinen Geschmack ein wenig zu geckenhaft und herausgeputzt wirkten, war er doch zum ersten Mal seit Wochen wieder wie ein Mensch gekleidet, nicht wie ein Bettler. Und fast als hätte diese äußerliche Veränderung auch seinem Körper spürbar gutgetan, fühlte er sich frisch und kräftig wie schon lange nicht mehr. Erging ein paar Schritte im Raum auf und ab, machte ein paar vorsichtige Kniebeugen und zog dann rasch mehrmals hintereinander das Schwert aus der Scheide. Die Waffe fühlte sich vertraut und gut in seiner Hand an, und für einen Moment juckte es ihm in den Fingern, einfach hinauszustürmen und einen Soldaten zu einem freundschaftlichen Kampf herauszufordern.
Der Gedanke ließ ihn lächeln.
Nein. Cearn war kein Land für ihn. Es wurde Zeit, daß sie hier wegkamen. Ein zaghaftes Klopfen an der Tür ließ ihn zusammenfahren und hastig die Waffe zurückstecken. Er ordnete eilig seine Kleider, strich sich mit der Hand über das Haar und öffnete die Tür.
Auf dem Gang stand Mergell. Er hob die Augenbraue, als er Skars Aufmachung sah, trat zurück und machte eine einladende Handbewegung. »Die Könige wünschen dich zu sprechen, Skar«, sagte er. »Wenn du bereit bist, heißt das.« Skar trat auf den Gang hinaus und ging provozierend langsam in die Richtung, die Mergell ihm gewiesen hatte. Ipcearn war jetzt nicht mehr so ruhig wie am vorigen Abend. Schritte und die Geräusche murmelnder Stimmen hallten über den Gang, und mehr als einmal begegneten sie Gruppen eilig dahinhastender Diener oder Soldaten, die respektvoll vor ihnen zur Seite wichen und dem sonderbaren Fremden teils bewundernde, teils mißtrauische und fast feindselige Blicke hinterherwarfen.
Sie gingen nicht in den gleichen Raum wie am vergangenen Abend. Mergell führte ihn weiter hinauf bis zur obersten Ebene Ipcearns. Je weiter sie über Treppen und sanft ansteigende Rampen hinaufstiegen, desto mehr Menschen begegneten ihnen, Edelleute und ranghohe Offiziere, ihren Uniformen nach zu schließen, und die Blicke, die Skar trafen, wurden zunehmend forschender und taxierender. Skar bemühte sich, möglichst kühl und unbeteiligt zu wirken, aber er begann sich mit jedem Schritt weniger wohl zu fühlen. Der Seshar, der ihn heute erwarten würde, würde nicht der gleiche wie gestern sein. Heute würde er dem Herrscher Ipcearns gegenübertreten, einem Mann, der seine wahren Gedanken und Gefühle über Jahrzehnte hinweg zu verbergen gelernt hatte.
Sie traten auf die oberste Etage Ipcearns hinaus, gingen einen kurzen, offenen Wehrgang entlang und betraten schließlich einen halbrunden, hölzernen Turm, der selbst die höchsten Wipfel des Waldes um mehr als zehn Manneslängen überragte. Hinter dem niedrigen Eingang lag ein halbrunder, mit kostbaren Teppichen und Läufern ausgelegter Raum. An den Wänden hingen Bilder und schwere, in Stein gemeißelte Reliefarbeiten, die mit massiven Ketten an den Deckenbalken verankert waren. In der Mitte des Raumes stand ein schwarzer, steinerner Tisch, der wie eine vergrößerte Ausgabe des Tisches aussah, den er schon in Logars Haus gesehen hatte. Rings um die polierte schwarze Platte gruppierte sich ein gutes Dutzend geschnitzter Stühle, auf denen eine Anzahl ernst dreinblickender, in Uniformen und metallene Rüstungen gekleideter Männer saßen. Seshar selbst thronte am Kopfende der Tafel. Neben ihm saß eine grauhaarige, vollständig in Weiß gekleidete Frau - seine Gemahlin Ylara. Skar hatte sie bisher nicht kennengelernt, aber Mergell hatte ihm auf dem Weg hierher erklärt, daß König und Königin sich die Macht über Went zu gleichen Hälften teilten. Skar hoffte inständig, daß Ylara über die Zukunft ihres Volkes ebenso dachte wie ihr Gatte. Er warf Seshar einen raschen, fragenden Blick zu, doch das Gesicht des Königs blieb unbewegt und starr.