Der Nebelschleier begann sich zu verdichten, wurde zu einem länglichen grauen Umriß. Ein menschlicher Körper schien sich bilden zu wollen, schmal, gebeugt, in ein knöchellanges graues Gewandgehüllt. Aber da war noch eine andere Kraft, etwas, das - ohne daß er hätte sagen können, wieso - mit jener schrecklichen präsenten Leere auf der schwarzen Ebene verwandt schien und ihn mit unbändiger Gewalt weiterzerrte. Er sah, wie sich die Gestalt zusammenkrümmte, wie unter einem fürchterlichen Hieb taumelte. Für einen Augenblick erkannte er ihr Gesicht, aber der Name entfiel ihm sofort wieder. »Lauf, Skar! LAUF!!!«
Er spürte, wie der Sog für Momente nachließ. Die Gestalt vor ihm taumelte. Ihr Gesicht verzerrte sich, und Skar begriff plötzlich, daß er einem phantastischen Kampf zusah, einer Auseinandersetzung zweier ebenso unverständlicher wie gewaltiger Kräfte. Ein dumpfer, hallender Laut vibrierte durch den Gang, der Ton eines gewaltigen höllischen Gongs, Gesang aus den Kehlen hunderter schwarzer Mönche, die unter ihren Kapuzen ein Totenlied anstimmten, der Wutschrei eines gigantischen schwarzen Gottes, heraufgetragen aus den tiefsten Schlünden der Hölle.
»LAUF! SKAR! FLIEHE!!!«
Und Skar wandte sich um, drehte dem flackernden grauen Nichts am Ende des Stollens und der verkrümmten, stummen grauen Gestalt den Rücken zu und lief, lief, lief, lief...
15.
»Nicht reden jetzt«, sagte eine Stimme. Skar bäumte sich auf, versuchte hochzukommen und sank mit einem kraftlosen Stöhnen wieder zurück. Für einen Moment begann sich der Raum um ihn herum zu drehen, dann verzog sich das Bild vor seinen Augen, als betrachte er es durch einen Zerrspiegel.
»Bleib liegen«, sagte Coar. »Du mußt noch einen Augenblick Geduld haben. Die Schwäche vergeht von selbst.«
Er nickte, schloß die Augen und tastete blind nach ihrer Hand. Sie zuckte unter seiner Berührung zusammen, und für einen Augenblick wurde ihr Gesicht hart und abweisend, als hätte er eine ekelhafte Krankheit, so daß sie seine Berührung nur mit Widerwillen ertrug. Er zog die Hand zurück, befeuchtete die Lippen mit der Zunge und stemmte sich noch einmal hoch. Es ging, wenn auch mühsam. »Was ...«, sagte er stockend, »ist passiert?« Er erinnerte sich an nichts. Sie waren von Ipcearn gekommen und auf diese Lichtung hinausgeritten, und dann ... dann ... irgend etwas war mit dem Reiter neben ihm geschehen, etwas Schreckliches und Grauenhaftes, aber er konnte sich nicht mehr genau besinnen, was. Für eine halbe Sekunde stieg das Abbild einer gewaltigen, schwarzpolierten Ebene vor seinem inneren Auge empor, aber mit jedem Atemzug, den er tat, verblaßten die Erinnerungen mehr, vermischten sich Traum und Realität, bis er nicht mehr wußte, was er geträumt und was wirklich erlebt hatte.
»Du bist in ein Khtaäm-Nest geraten«, sagte Coar nach kurzem Zögern. »Du erinnerst dich nicht?«
Skar schüttelte den Kopf, nickte und schüttelte dann noch einmal den Kopf. Er erinnerte sich, aber er erinnerte sich auch nicht. Etwas schien in seinem Kopf durcheinandergeraten zu sein. Schwarzer Wald, der übergangslos in dunkle, wie Glas schimmernde Wüste überging ... eine dunkle Woge aus dürren Spinnenbeinen und Fangarmen und giftigen Stacheln ... Schmerzen ... die gellenden Schreie des Gardisten ... Er stöhnte, fuhr sich mit der Hand über die Augen und versuchte verzweifelt, Traum und Erlebtes zu trennen, aber es ging nicht. »Der ... der Mann«, sagte er mühsam. »Was ist mit ihm?«
»Er ist tot«, antwortete Coar ruhig. »Wer von einem Khtaäm angefallen wird, ist rettungslos verloren. Er war schon tot, als du zu ihm kamst.«
»Aber das stimmt nicht!« widersprach Skar. Allmählich begann er sich deutlicher zu erinnern. »Er hat noch gelebt, und ...«
»Er hat noch geatmet und sich bewegt«, unterbrach ihn Coar, »das stimmt. Doch er war bereits tot. Das ... Gift wirkte rasch, und ein Geist, der einmal in das Netz der Khtaäm verstrickt ist, findet nie wieder den Rückweg.«
Irgend etwas an ihrer Stimme gefiel Skar nicht. Zum ersten Mal, seit er sie kannte, schien sie Schwierigkeiten zu haben, in seiner Sprache zu reden, und die Worte kamen stockend und mühsam und so, als müßte sie jede Silbe genau überlegen, bevor sie sie aussprach. Er setzte sich weiter auf und betrachtete ihr Gesicht genauer. Unter ihren Augen lagen tiefe, dunkle Ringe, und die Haut wirkte wächsern und blaß.
Seine Gedanken bewegten sich immer noch träge und zähflüssig, aber nicht träge genug, daß ihm der Widerspruch in Coars Worten nicht aufgefallen wäre. »Aber ich lebe«, sagte er ruhig.
Coar antwortete nicht. Ihre Mundwinkel zuckten stärker, und ihre Hände verkrampften sich so stark, daß die Nägel tief in die Haut schnitten und ein dünner, glitzernder Blutstropfen hervorquoll. Sie schien es nicht einmal zu bemerken. »Du ... du bist sehr stark«, sagte sie nach einer Ewigkeit.
»Das ist keine Antwort«, sagte Skar. Er schlug die dünne Decke zurück, setzte sich vollends auf und beugte sich vor, um nach seinen Kleidern zu greifen. »Was ist geschehen, Coar?« sagte er.
»Nichts.« Ihre Stimme bebte, und es war nicht mehr zu übersehen, daß sie nur noch mit äußerster Beherrschung die Tränen zurückhielt. »Du ... hast Glück gehabt, Skar. Vielleicht haben auch die Götter ihre Hand über dich gehalten, auch wenn du nicht an sie glaubst. Und du wurdest rasch genug hergebracht, so daß Thoranda dir helfen konnte.« Sie stand auf, sah schweigend zu, wie er sich ankleidete, und wandte sich ab.
»Coar!« Skar trat mit einem raschen Schritt neben sie und hielt sie an der Schulter zurück. Sie wich seinem Blick aus.
»Irgend etwas ist passiert, nachdem ich weggeritten bin«, sagte er überzeugt. »Und ich möchte wissen, was.«
»Laß ... laß es dir von Del erklären«, antwortete Coar mühsam. »Er wartet draußen. Ich ... muß gehen.« Sie streifte seine Hand ab, ging rasch zur Tür und war hinaus, bevor er sie ein weiteres Mal aufhalten konnte.
Sekunden später wurde der Vorhang ein zweites Mal beiseite geschoben, und Del betrat den Raum. Ein erleichterter Ausdruck huschte über sein Gesicht, als er sah, daß Skar wach und bereits wieder auf den Beinen war. »Den Göttern sei Dank, du lebst«, stellte er fest.
Skar nickte. »Wie du siehst. Was ist passiert?«
»Passiert? Du wärst beinahe gestorben, Alter. Wenn das nicht genug ist ...«
»Das meine ich nicht«, fiel ihm Skar ins Wort. »Irgend etwas ist hier passiert, und ich möchte endlich wissen, was.« Sein Ton war scharf und aggressiv, aber Del und er waren zu lange beisammen, als daß der Jüngere seinem Benehmen noch großen Wert beigemessen hätte.
Er seufzte, schüttelte ein paarmal den Kopf und trat an Skar vorbei ans Fenster. »Hat Coar dir nichts erzählt?«, fragte er.
»Dann würde ich nicht fragen«, schnappte Skar. »Aber ich habe gemerkt, daß sie irgend etwas hat, wenn du das meinst.«
Del lachte rauh auf und drehte sich um. Seine Gestalt wurde vor dem hell erleuchteten Rechteck des Fensters zu einem schwarzen, tiefenlosen Umriß. »Daß sie irgend etwas hat«, wiederholte er betont. »Du warst zwei Tage fort, Skar, aber in diesen zwei Tagen ist eine Menge passiert. Wie war es in Ipcearn?«