Skar winkte ungeduldig ab. »Es ist alles in Ordnung«, sagte er. »Wir können gehen, sobald wir wollen. Aber darüber können wir später noch reden. Was ist hier los?« Del senkte den Blick und scharrte versonnen mit den Zehen über den Boden. Das Geräusch klang seltsam laut in der winzigen Kammer. »Kurz nachdem du aufgebrochen bist«, begann er, »überfielen die Hoger eine Patrouille.«
»Am hellen Tag?« ächzte Skar erschrocken.
»Ja. Nicht einmal weit von hier - zehn Minuten, fünfzehn, allerhöchstens. Die Reiter hatten nicht einmal die Spur einer Chance. Sie wurden niedergemacht, bis auf den letzten Mann. Es waren zwölf. Neun Gardisten, Logar, Larynn und ... und Coars Sohn.«
Skars Herz schien einen Schlag zu überspringen und dann schneller und schmerzhafter weiterzuhämmern. Für zwei, drei Sekunden hatte er das Gefühl, ersticken zu müssen. »Cornec ist ...«
»Tot«, bestätigte Del. »Vielleicht verstehst du nun, warum sie so ist. Und ich bin schuld daran.«
»Du?«
Del lächelte, aber es war ein schmerzhaftes Lächeln, verkrampft und so bitter, daß Skar sich beinahe davor fürchtete. »Sie ... Logar hat mir angeboten mitzureiten«, sagte er stockend. »Er wollte mir ... ein wenig von Cearn zeigen. Aber ich habe abgelehnt. Ich hatte keine Lust. Keine Lust!« sagte er noch einmal, und diesmal war es wie ein gequälter, unendlich schmerzhafter Aufschrei. »Verstehst du, Skar? Diese Menschen sind gestorben, weil ich keine Lust hatte, sie zu begleiten! Ich hätte ein paar von ihnen retten können, vielleicht alle, aber ich habe es nicht getan. Ich habe hiergesessen und mich mit Bernec unterhalten, während Larynn und Logar und das Kind und die anderen dort draußen von diesen Bestien zerfleischt worden sind! Es ist meine Schuld! Ganz allein!«
Die letzten Worte hatte er geschrien.
»Aber das Kind«, murmelte Skar fassungslos, »wieso war Cornec dabei? Wieso haben sie das Kind auf eine so gefährliche Mission mitgenommen.«
»Meinetwegen«, sagte Del tonlos. »Er hat erfahren, daß ich mitreite. Du weißt doch, wie er war. Er hat uns bewundert, Helden und was-weiß-ich in uns gesehen. Nachdem du weg warst, hat er Logar gebeten, dabeisein zu können, wenn wir ausreiten. Ich habe im letzten Moment abgesagt, aber er ritt mit. Niemand hat mit einem Überfall so dicht bei der Stadt gerechnet.« Er senkte den Blick und atmete ein paarmal hintereinander tief ein und aus, als hätte er plötzlich Mühe, Luft zu bekommen.
Für eine Weile war es sehr, sehr still in der kleinen Kammer. Skar versuchte vergeblich, einen klaren Gedanken zu fassen. Die Ruhe, mit der er Dels Worte aufgenommen hatte, überraschte ihn beinahe selbst. Er hätte schockiert sein müssen, traurig, verzweifelt ... irgend etwas, aber nichts davon war in seinem Inneren zu finden. Er hatte Cornec gemocht, soweit er überhaupt in der Lage war, Kinder zu mögen, und der Gedanke, daß er tot sein sollte, tot wie die zarte, noch nicht einmal ganz erwachsene Larynn, wie Logar und die anderen, erschien ihm so traurig, daß er sich einfach weigerte, ihn zu akzeptieren.
»Dann brachten sie dich«, fuhr Del nach einer Ewigkeit fort. »Ich glaube, das hat Coar den Rest gegeben. Wir dachten, du wärst verloren. Alle dachten es, auch Coar.«
»Was ist geschehen?« fragte Skar leise.
Del hob langsam den Blick. In seinen Augen glomm ein undeutbarer Ausdruck auf, etwas, das Skar noch nie an ihm gesehen hatte und das ihn schaudern ließ. Vorwurf?
»Thoranda hat dich gerettet«, sagte er so leise, daß Skar die Worte mehr erriet, als daß er sie wirklich verstand. »Du warst tot, Skar, aber sie hat dich zurückgeholt. Sie selbst ... starb daran.«
Und plötzlich erinnerte er sich wieder. Er hatte es gewußt, die ganze Zeit über, aber sein Verstand war nicht fähig gewesen, die einzelnen Teile des Mosaiks richtig zu erkennen und zusammenzusetzen. Die graue Gestalt, die er in seinem Traum gesehen hatte. Die Stimme. Thorandas Stimme. Er erinnerte sich wieder, wie alt und grau sie ausgesehen hatte, nachdem Del geheilt worden war, wie ausweichend sie auf seine Fragen nach ihrer Medizin geantwortet hatte, wie sehr ... Ihr Götter! dachte er. Das also war Thorandas Geheimnis gewesen. Ihre Kräuter und Wurzeln waren nur Beiwerk, wenig mehr als eine sanfte Unterstützung ihrer wirklichen Macht. Sie heilt mit dem Geist! Er erinnerte sich an ihre Worte: Der menschliche Körper ist ungeheuer regenerationsfähig, Skar. Man muß diese Kräfte nur wecken. Aber erst jetzt begriff er wirklich, was die alte Heilerin damit gemeint hatte. Ihr Wissen beschränkte sich nicht auf die Anwendung von Kräutern und Mixturen, sondern ging tiefer, weit über das hinaus, was die meisten anderen Menschen überhaupt über ihren Geist wußten. Ihre Kraft war unsichtbar, etwas, das vielleicht mit Magie vergleichbar war oder ihr doch so nahe kam, wie es nur ging. So also heilte sie.
Aber um welchen Preis ...
»Tot«, wiederholte er.
Del nickte. Er sah es nicht, aber er hörte, wie seine Kleider leise raschelten und Del sich bewegte. »Ich bin nicht der einzige, der etwas gutzumachen hat, Skar. Sie starb, um dich zu retten.«
»Aber warum ...?« stammelte Skar. »Sie ... Coar hat gesagt, daß ... daß es keine Rettung gibt, wenn ...«
»Die gibt es auch nicht, Skar«, murmelte Del. »Das Khtaäm verlangt sein Opfer. Sein Gift zerfrißt nicht den Körper, sondern den Geist. Es tötet dein Bewußtsein, langsam, aber unbarmherzig. Die Kraft, die nötig wäre, es zu besiegen, hat kein Mensch. Auch du nicht.« Er brach wieder ab, schwieg ein paar Sekunden und fuhr dann mit veränderter Stimme fort. »Fühlst du dich kräftig genug, um mich zu begleiten?«
Skar nickte. »Wohin?«
»Zu Bernec«, entgegnete Del. »Ich weiß, daß du ihn nicht magst, aber du solltest deine Feindschaft vergessen, wenigstens für eine Weile. Er ... hat mehr verloren als du.«
»Natürlich.« Skar bückte sich nach seinem Harnisch und legte ihn mit langsamen Bewegungen um. Er fühlte sich wie betäubt. Trotz allem war in ihm kaum Schmerz oder Verzweiflung, sondern nichts als Leere. Seit Del und er diesen Wald betreten hatten, wurden sie von einer ununterbrochenen Kette von Katastrophen begleitet. Mit ihnen schien ein Stück Enwors Einzug in Cearn gehalten zu haben, ein Teil jener Welt, den er Coar in schwärzesten Farben beschrieben hatte. Sie waren nicht die Befreier, auf die dieses Volk gewartet hatte, sondern Boten des Unheils. Plötzlich hatte Skar das Gefühl, mit einem Fluch behaftet zu sein. Er war vergiftet, verflucht. Jeder, der mit ihm zusammentraf, mußte zugrunde gehen. »Einen Moment noch«, sagte Del, als er fertig angezogen war und sich zum Ausgang wenden wollte. »Ich möchte, daß du etwas weißt, bevor wir gehen.« Skar blieb stehen. »Ja.«
»Nach dem Überfall«, begann Del, »habe ich lange nachgedacht, Skar. Sehr lange. Wir haben vereinbart, so schnell wie möglich von hier zu verschwinden. Stehst du noch dazu?«
Skar nickte. »Mehr als vorher, Del.«
»Ich auch«, antwortete Del. »Aber noch nicht sofort. Ich bin wieder kräftig genug, um einen Ritt durch die Wüste zu überstehen, und du bist es wohl auch. Aber ich habe mich entschlossen, noch eine Weile zu bleiben.«
»Warum?«
Diesmal zögerte Del sekundenlang, ehe er antwortete. »Weil ich der Meinung bin, daß wir diesem Volk etwas schulden, Skar«, sagte er. »Ohne sie wären wir tot, beide. Thoranda hat uns beiden das Leben gerettet, erst mir und heute dir, und sie hat ihr eigenes Leben dafür geopfert. Ich gehe nicht gerne irgendwo fort, ohne meine Schulden zu bezahlen.«
»Und was«, fragte Skar neugierig, »willst du tun?«
»Das, was sie von uns verlangen. Ich werde ihnen helfen.«