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Skar wandte sich angeekelt ab. Automatisch wollte er seine Hand am Wams abstreifen, überlegte es sich dann aber anders und führte die Finger behutsam zum Mund.

Es schmeckte warm, salzig und auf sonderbare Art nicht einmal unangenehm. Nach Leben.

Zögern leckte er sich die Finger ab, langsam und voller Bedacht, um ja nichts von der kostbaren Flüssigkeit zu verschenken und keinen Tropfen zu übersehen, tauchte die Hand dann erneut in den pulsierenden Blutstrom und führte sie wieder zum Mund.

Dann stürzte er sich mit einem krächzenden Schrei hinab und schnappte mit weit geöffneten Lippen nach dem hervorsprudelnden Lebenssaft des Pferdes. Eine Berührung weckte ihn; etwas wie das Kitzeln tastender, samtweicher Pfoten auf seiner Brust. Für die Dauer eines Herzschlages bildete er sich ein, ein leises Schnurren zu hören, ein Geräusch, das ihn an den Laut einer zufriedenen Katze erinnerte, dann ein Rascheln und Schaben, als schleiche irgendwo in seiner Nähe etwas Großes, Kräftiges und doch ungemein Elegantes herum.

Skars Hand tastete instinktiv nach dem Schwertgriff. Die Berührung des kalten, glatten Metalls beruhigte ihn ein wenig, aber seine Nerven blieben trotzdem angespannt. Vorsichtig, wohl wissend, daß selbst ein zu rasches Öffnen der Augen ein herumschleichendes Raubtier zum Angriff reizen konnte, hob er die Lider.

2.

Aber da war nichts.

Skar brauchte endlose Sekunden, um sich wieder zu erinnern, wo er war. Über ihm glitzerte die kalte, sternenübersäte Pracht des Wüstenhimmels. Das Sternenlicht überschüttete die Hügel, die jetzt bei Nacht seltsam flach und tiefenlos wirkten, mit fließendem Silber und Grau in allen denkbaren Schattierungen. Das Geräusch, das er gehört hatte - oder sich eingebildet hatte zu hören -, war das Winseln des niemals verstummenden Windes, und die Berührung war die der sanften, einschmeichelnden Hand des Sandes, der bereits begonnen hatte, seinen Körper in einen weichen, warmen Kokon einzuspinnen.

Er öffnete vollends die Augen und setzte sich mit einem Ruck auf. Er fühlte sich seltsam ausgeruht und kräftig. Seine Muskeln schmerzten noch immer, und sein Rücken brannte, als hätte er auf einem Nadelkissen gelegen, aber es war ein Schmerz ganz anderer Art, als er ihn vorher verspürt hatte.

Der Durst machte sich wieder bemerkbar, wenn auch nicht mehr so unerträglich wie zuvor. Er nahm die Hand vom Schwertgriff, ballte die Finger vor dem Gesicht zur Faust und sah sich aufmerksam um. Langsam kroch die Erinnerung an das, was er getan hatte, in sein Bewußtsein zurück. Er wußte nicht mehr, wie lange ihr grausames Mahl angedauert hatte, aber Del und er waren wie zwei riesige menschliche Vampir-Fledermäuse über den geschundenen Leib des Tieres hergefallen.

Sein Blick blieb einen Moment am Kadaver des Pferdes haften. Die Dunkelheit ließ ihn zu einem schwarzen, formlosen Umriß werden, aber er bildete sich immer noch ein, den anklagenden Blick der dunklen Pferdeaugen zu spüren. Ein vages Gefühl der Schuld machte sich in ihm breit. Das Tier hatte ihnen gedient bis in den Tod und darüber hinaus. Zum Dank hatten sie ihm das einzige genommen, was es noch besessen hatte - sein Leben. Sie hatten seinen Körper regelrecht ausgesaugt, Schluck für Schluck der bitteren roten Flüssigkeit getrunken, bis das Blut bereits zu gerinnen begann und als klebrige, zähe Masse ihre Münder verstopfte. Erst dann hatten sie von ihm abgelassen und waren erschöpft zurückgesunken.

Er stand auf, säuberte - mehr aus Gewohnheit denn aus Reinlichkeit - seine Kleider, so gut es ging, und betrachtete angewidert seine Hände. Sie waren schwarz von geronnenem Blut und Schmutz und erinnerten an verkrümmte, abgestorbene Baumstrünke, taub und ohne Gefühl und kaum zu irgend etwas zu gebrauchen. Seine Hände waren mit Wunden und Abschürfungen übersät, und etwas von dem Blut daran war sein eigenes. Aber er spürte keinen Schmerz. Eine Zeitlang stand er schweigend da und starrte ins Leere, dann drehte er sich um und umrundete langsam den Pferdekadaver, instinktiv Abstand zu dem leblosen Leib haltend. Ein schwacher, süßlicher Geruch hing in der Luft. Der Kadaver begann bereits zu verwesen. In diesem mörderischen Klima würde es nicht lange dauern, bis er zu einem pergamentartigen, verkohlten Etwas zusammengeschmort war, eine stumme Warnung für jeden, der vielleicht gleich ihnen irgendeines Tages am Ende seiner Kraft dieses Hügeltal erreichen würde, um darin zu sterben. Del bewegte sich unruhig. Aus seiner Brust drang ein leises, schmerzerfülltes Stöhnen, und die Augäpfel hinter den geschlossenen Lidern bewegten sich hektisch hin und her.

Skar berührte ihn sanft an der Schulter, und Dels Augen sprangen mit einem Ruck auf. »Was ...!«

»Schon gut«, murmelte Skar. »Du hast geträumt.« Seine eigene Stimme erschien ihm in der Stille der Nacht unnatürlich laut; ein Sakrileg, eine Schmähung dieses übernatürlichen Schweigens, die nicht ungesühnt bleiben würde.

Del nickte nach kurzem Überlegen. »Ja. Es ...« Er brach ab, hustete trocken und versuchte sich aufzurichten. Ein schnelles, schmerzhaftes Zucken lief über sein Gesicht.

»Danke«, murmelte er nach einer Weile. Er versuchte abermals aufzustehen, und diesmal gelang es. Er schwankte zwar, aber er stand.

»Wofür?« fragte Skar.

»Daß du mich geweckt hast. Ich hatte einen Alptraum, weißt du. Einen von der schlimmen Sorte. Ich ... ich wollte aufwachen, aber es ging nicht.«

»Zeit, daß wir weiterkommen«, murmelte Skar anstelle einer direkten Antwort. Aber innerlich wußte er, daß sie nirgendwo mehr hingehen würden. Weder in dieser noch in irgendeiner anderen Nacht.

»Wir ... haben keine Pferde mehr«, fügte er nach einer Weile hinzu.

Del starrte sekundenlang den Kadaver des Pferdes an. Erst jetzt schien ihm wieder aufzugehen, was geschehen war.

»Wo ist das andere?«

Skar zuckte die Achseln. »Wahrscheinlich davongelaufen, als es gesehen hat, was seinem Kollegen zugestoßen ist«, antwortete er in dem schwachen Versuch, einen Scherz zu machen. Aber der Durst verzerrte seine Stimme zu einem schrillen Krächzen und verdarb ihm den Effekt gründlich.

Del reckte sich. Seine Gelenke knackten leise. Vorsichtig tastete er nach dem Verband über seiner linken Schulter und verzog dann das Gesicht. »Noch nicht Mitternacht«, murmelte er nach einem Blick in den Himmel. »Wenn wir gleich aufbrechen, schaffen wir noch ein schönes Stück, ehe die Sonne wieder aufgeht.« Skar verzichtete auf eine Antwort. Del wußte ebensogut wie er, wie sinnlos es war, sich noch ein paar Meilen weiterzuquälen. Aber er sprach den Gedanken nicht laut aus, sondern drehte sich wortlos um und begann die nächstgelegene Düne emporzusteigen. Schließlich war es egal, wo sie starben. Die Wüste war großzügig in dieser Beziehung. Sie hatte Millionen Gräber für sie bereit, und eines war so gut wie das andere.

Del folgte ihm in wenigen Schritten Abstand. Der Schlaf und das Blut, das er getrunken hatte, schienen ihm sichtlich gutgetan zu haben. Sein Gesicht wirkte noch immer grau und eingefallen, und das Pferdeblut war auf seinen Zügen zu einem skurrilen Muster geronnen, was ihm das Aussehen eines barbarischen Tempelpriesters gab. Seine Schritte waren schleppend und mühsam wie die eines alten Mannes, aber vor wenigen Stunden wäre er noch nicht einmal fähig gewesen, die Düne auf Händen und Knien etnporzukriechen.

Sie erreichten den Kamm, blieben einen Moment lang stehen und wandten sich schließlich nach Norden. Eine Richtung war so gut wie die andere. Sie waren von Süden her in die Wüste eingedrungen, aber wahrscheinlich hatten sie sich in den letzten Tagen im Kreis bewegt und waren vollkommen vom Kurs abgekommen. Selbst wenn sich diese höllische Wüste nur noch ein paar Meilen weit streckte, war es zuviel. Sie bewegten sich im Schneckentempo voran, eine, höchstens anderthalb Meilen pro Stunde, schätzte Skar. Irgendwo vor ihnen, verborgen hinter dem monotonen, welligen Horizont, lagen Thbarg und Elay, Thbarg mit seinen saftigen grünen Prärien und Elay, das Ziel, zu dem sie - wann eigentlich? Vor zwei Wochen? Der Gedanke erschien ihm mit einemmal lächerlich - aufgebrochen waren. Zum ersten Mal, seit sie die Nonakesh betreten hatten, kam ihm die grausame Ironie ihrer Lage zum Bewußtsein. Sie waren aufgebrochen, um mit den Heeren Kohons gegen die Quorrl zu ziehen, zu kämpfen und zu brennen, aber sie hatten kämpfen müssen, lange bevor sie ihrem Ziel auch nur nahe gekommen waren, sie wurden langsam bei lebendigem Leibe verbrannt, und sie würden sterben, ohne die Zinnen Elays auch nur zu Gesicht bekommen zu haben. Vielleicht, dachte Skar in einem Anflug von bitterem Galgenhumor, rettete ihr Tod das Leben von ein paar Dutzend Quorrl, gegen die sie hatten ziehen sollen. Sie marschierten schweigend und monoton nach Norden, dicht beieinander und doch unendlich isoliert, jeder allein mit sich und seinen Gedanken und Gefühlen, und Skar begann zu begreifen, daß sie jetzt wirklich starben. Und daß keiner dem anderen helfen konnte. Der Tod, das begriff er plötzlich, war einsam. Und es gab eine Grenze, an der nicht nur das Leben endete, sondern auch alle Begriffe von Freundschaft und Zuneigung. Del und er waren ihr Leben lang beisammen gewesen, aber sterben würde jeder für sich allein.