»Niemand verlangt von dir mitzugehen, Skar«, sagte Bernec mit erzwungener Ruhe.
Skar setzte seinen Becher ab, schüttelte den Kopf und stützte das Kinn in die Handfläche. Sein Blick bohrte sich in den Coars und verharrte einen Moment. Die junge Gardeführerin saß mit untergeschlagenen Beinen neben Bernec. Ihre Hand ruhte in einer vertrauten Geste auf seinem Unterarm, eine Vertraulichkeit, wie Skar sie noch nie zwischen ihnen beobachtet harte. Der Verlust, der sie beide gemeinsam getroffen hatte, schmiedete sie wieder zusammen. Vielleicht hatte sie mit Cornecs Tod nicht nur ihr Kind, sondern Skar auch sie verloren.
»Ich werde euch begleiten«, sagte er ruhig, »auch wenn ich dagegen bin. Ich werde euch helfen, mit diesen Ungeheuern fertig zu werden, ganz egal, was es kostet. Aber ich frage mich, ob ihr den richtigen Weg geht. Keiner von euch war jemals in diesen Höhlen, zumindest ist keiner von denen, die es versucht haben, zurückgekommen. Es könnte sein, daß niemand von uns dieses Unternehmen überlebt.« Seine Worte schienen die beabsichtigte Wirkung zu verfehlen. Weder Bernec noch einer der anderen Krieger zeigte sich beeindruckt, und selbst Del starrte nur blicklos zu Boden und schien darauf zu warten, daß er weiterredete. Skar fühlte sich mit jeder Sekunde weniger wohl. Die Situation begann ihm mehr und mehr zu entgleiten, das spürte er. Er suchte Coars Blick, aber ihre Augen waren leer, erfüllt einzig von einem tiefen, undramatischen Schmerz. Sie weiß, daß wirgehen, dachte er. Vielleicht war es gut so.
»Ich nehme nicht an, daß ihr euren Plan mit Ipcearn abgestimmt habt«, fuhr er fort.
Bernec lächelte flüchtig. »Natürlich nicht«, sagte er. »Seshar würde es verhindern, das weißt du. Aber wir haben nicht vor, ihn um Erlaubnis zu fragen. Wenn wir zurück sind, mag er toben, soviel er will. Er wird die Dinge nicht mehr ändern können.«
Wahnsinn, dachte Skar. Das ist der reine Wahnsinn. Was mache ich hier überhaupt? Diese halben Kinder basteln sich eine Revolution zusammen, und ich habe nichts Besseres zu tun, als ihnen auch noch zu helfen. Aber dann sah er wieder Cornecs Gesicht vor sich, und er begriff, daß es Situationen gab, in denen man nur die Wahl zwischen zwei falschen Entscheidungen hatte.
»Wir kommen mit«, sagte er leise.
Bernec nickte, als hätte er nichts anderes erwartet. »Ich danke dir«, sagte er. »Aber bevor wir aufbrechen, möchte ich, daß du etwas weißt. Wir alle wissen, was in Ipcearn geschehen ist, und wir alle wissen, daß du das, was du getan hast, für den richtigen Weg hieltst. Vielleicht hast du recht, vielleicht auch nicht, aber es ist deine Entscheidung, und es steht uns nicht zu, sie zu kritisieren. Und wir wollen nicht, daß du uns nur begleitest, weil du dich verpflichtet fühlst, in irgendeiner Weise. Wenn du jetzt aufstehst und gehst, wird es dir niemand übelnehmen. Niemand darf dich für einen Feigling oder Verräter halten.«
»Ich weiß«, murmelte Skar. »Aber meine Entscheidung steht fest. Wann brecht ihr auf?«
Ein hörbares Aufatmen schien durch den Raum zu gehen.
»Noch heute«, sagte Bernec. »Wir können nicht warten. Die Kunde von dem, was hier geschehen ist, wird rasch nach Ipcearn dringen, und Seshar kennt mich zu genau, um nicht zu wissen, daß ich etwas unternehmen werde. Wir werden weg sein, ehe seine Reiter eintreffen. Sie werden es nicht wagen, uns in die Wüste zu folgen. Nicht einmal Mergell ist verrückt genug dazu.«
»Heute?« wiederholte Skar überrascht.
»Am frühen Vormittag. Es ist ein halber Tagesritt zu den Höhlen. Wir müssen sie vor Einbruch der Dunkelheit erreichen. Während der Nacht sind die Hoger zu aktiv. Wir hätten keine Chance, die Höhlen lebend zu erreichen.«
Skar nickte. Bernecs Worte klangen überzeugend, wenn ihm auch die Vorstellung, während der heißesten Zeit des Tages durch den Glutofen der Nonakesh zu reiten, alles andere als behaglich war. »Wer wird mit uns reiten?«
Bernec machte eine Handbewegung, die den ganzen Raum einschloß. »Wir alle. Nicht mehr. Ein zu großes Heer würde zu sehr auffallen. Die Hoger sind wachsam, auch am Tage.« Er stand auf und deutete mit einer Kopfbewegung zur Tür. »Es wäre besser, wenn wir alle uns zurückziehen und noch ein wenig ruhen würden«, sagte er. »Der Ritt durch die Wüste wird unsere letzten Kräfte fordern. Und es ist noch viel vorzubereiten.«
Skar verstand. Natürlich würde keiner von ihnen Schlaf finden, nicht einmal Ruhe. Aber er respektierte Bernecs Wunsch, allein zu sein. Er tauschte einen raschen Blick mit Del, stemmte sich in die Höhe und verließ ohne ein weiteres Wort das Gebäude.
Der Wind schien kälter geworden zu sein, als er aus dem niedrigen Eingang trat und stehenblieb. Die dichte Blätterkrone des Baumes raschelte und raunte um ihn herum, wisperte mit leiser Stimme geheimnisvolle Worte. Er hörte, wie Del hinter ihm aus dem Haus trat und die Tür schloß, stehenblieb.
»Dir ist klar, daß wir wahrscheinlich bei diesem Wahnsinnsunternehmen draufgehen werden«, sagte er, ohne sich umzudrehen.
»Ich weiß. Und ich wußte auch, daß du es weißt.«
Skar fuhr überrascht herum. Es war nicht Del.
»Coar!« keuchte er. »Du ...«
»Nicht.« Coar schüttelte hastig den Kopf, trat mit einem Schritt auf ihn zu und warf sich an seine Brust. »Ich ... wollte noch einmal mit dir reden«, sagte sie leise. Ihre Stimme bebte, und obwohl sie den Kopf gesenkt hatte und er ihr Gesicht nicht sehen konnte, wußte er, daß sie weinte. Er hob die Hand, streichelte zögernd ihr Haar und umarmte sie. Ihr Körper fühlte sich mit einemmal seltsam zerbrechlich und leicht an. Verwundbar.
»Ihr geht fort«, sagte sie. Es war keine Frage.
»Ja«, antwortete er. »Es ... muß sein. Wir können nicht hierbleiben. Wir hätten niemals kommen dürfen.«
Coar wollte etwas sagen, aber er preßte sie an sich und sprach rasch und gezwungen ruhig weiter. »Wir sind nicht die Männer, auf die ihr gewartet habt, Coar. Wir sind keine Götter, und wir sind auch keine Befreier. Wenn wir euch überhaupt etwas gebracht haben, dann Unglück.«
Ihr Schweigen traf ihn härter als alles andere zuvor. Lange, lange Zeit blieben sie reglos aneinandergeklammert so stehen, und jeder von ihnen fühlte sich unendlich einsam und allein. Skar wußte in diesem Moment mit absoluter Sicherheit, daß sie ihn liebte, trotz allem, was geschehen war, aber der Gedanke schürte seinen Schmerz noch mehr. Er löste seine Hände von ihrem Rükken, nahm ihr Gesicht zwischen die Hände und küßte ihr Gesicht. Es schmeckte salzig. Nach Tränen und Schmerz.
»Es tut mir so leid«, flüsterte er. »Ich würde mein eigenes Leben opfern, wenn ich Cornec damit helfen könnte.«
»Es ist nicht deine Schuld«, sagte Coar mit erstaunlicher Ruhe. »Niemand ist schuld daran, Skar. Wenn überhaupt, so sind wir es selbst. Ich ... ich habe Bernecs Ideen niemals zugestimmt, aber jetzt weiß ich, daß er recht hatte, die ganze Zeit.« Sie löste sich aus seiner Umarmung, trat einen Schritt zurück und wischte sich mit dem Handrücken die Tränen aus dem Gesicht. »Er hat recht«, sagte sie noch einmal. »Wir können nicht mehr länger stillhalten. Wir haben jahrhundertelang gewartet und auf eine Zukunft gehofft, die niemals stattfinden wird.«
Skar schüttelte den Kopf. »Du bist verbittert, Coar«, sagte er. »Aber -«
»Ich bin nicht verbittert. Ich bin nur endlich aufgewacht, Skar. Bernec hat recht, hundertmal recht! Generation um Generation haben wir gehofft und gebetet, aber es ist nichts geschehen. Du hast Cearn einmal mit dem Paradies verglichen, aber das stimmt nicht. Es ist die Hölle. Eine Hölle, aus der es kein Entkommen gibt. Jedenfalls nicht, wenn man dasitzt und auf ein Wunder wartet. Wir werden handeln, und wenn Went oder ganz Cearn daran zugrunde gehen sollte, dann geht es eben zugrunde. Ich will nicht mehr warten. Mein Kind ist gestorben, und ich will nicht, daß noch mehr Kinder für eine Idee sterben, die vielleicht überhaupt nicht existiert. Du selbst hast bewiesen, daß die Nonakesh nicht so unbesiegbar ist, wie es scheint. Wir werden uns ihr stellen, Skar, und wir werden diesen Kampf gewinnen. Vieleicht werde ich seinen Ausgang nicht mehr erleben, aber wenn ich sterbe, dann wenigstens in dem Wissen, etwas getan zu haben. Vielleicht hast du recht, und die Welt dort draußen ist die Hölle, und Cearn der Himmel. Aber ich ziehe es vor, in der Hölle frei zu sein statt gefangen im Paradies.«