Skar rammte seinem Tier gnadenlos die Sporen in die Flanken, obwohl er wußte, daß er absolut nichts mehr für den Unglücklichen tun konnte.
Er erreichte ihn im gleichen Moment, in dem Coar den Bogen vom Sattel löste und mit bedächtigen Bewegungen einen Pfeil auf die Sehne legte. Sie richtete die dreieckige, mit messerscharf geschliffenen Widerhaken versehene Spitze auf das Gesicht des Mannes, zog die Sehne bis zum Ohr durch und schoß. Der Pfeil durchbohrte den pulsierenden Khtaäm, hämmerte durch die Kehle des Mannes und fuhr mit einem saugenden Geräusch in den Sand. Der Cearner zuckte ein letztes Mal und lag dann still.
Skar wandte sich ab. Er wußte, daß Coar das einzig Richtige getan hatte. Ein schneller, gnädiger Tod war das einzige gewesen, was sie noch für den Mann hatte tun können. Trotzdem erschütterte ihn die Kälte, mit der sie geschossen hatte. Del war es, der schließlich die bedrückende Stille brach. »Aber wieso ...«, keuchte er. »Was ... was war das?«
»Ein Khtaäm«, antwortete Skar tonlos.
»Eines von ... von den Biestern, die dich auch erwischt hatten?« keuchte Del. Skar nickte.
»Aber ... ich dachte, sie ... sie halten sich nur im Wald auf«, stotterte Del. »Das dachten wir alle«, murmelte Bernec. Seine Stimme klang belegt. »Ich ... ich habe nie gehört, daß sie so weit draußen in der Wüste ...« Er brach ab. Sein Gesicht zuckte vor Schmerz, und seine Hände krallten sich in die Mähne seines Pferdes, als brauche er etwas, an dem er sich festhalten konnte. Ein plötzlicher Windstoß überschüttete die Gruppe mit Sand und Hitze, und für einen Moment schien sich das leise Wimmern der Böen in grausames Hohngelächter zu verwandeln. Die Nonakesh hatte ihnen ihren ersten Gruß ausgerichtet. Sie hatten ihr Ziel noch nicht einmal erreicht, und schon den ersten Mann verloren. »Reiten wir weiter«, sagte Skar halblaut. »Wir können nichts mehr für ihn tun.« Bernec schwang sich aus dem Sattel, kniete neben dem Getöteten nieder und schlug seinen Mantel zur Seite. In seiner Hand blitzte ein winziger, gekrümmter Dolch. Die Spitze fuhr mit einem reißenden Geräusch durch Stoff und Fleisch und schnitt zentimetertief in die Brust des Toten. Er richtete sich auf, schloß die Faust um die Eyhaka des Gefallenen und trat dann mit einer ruckhaften Bewegung auf Skar zu.
»Nimm sie«, sagte er. Seine Stimme zitterte, und er sah weg, während er die Hand ausstreckte und Skar den winzigen, blutigen Samen entgegenhielt.
Skar starrte ihn fassungslos an. Er wußte, was diese Geste bedeutete, wie groß die Achtung sein mußte, die Bernec ihm trotz seiner unverhohlenen Abneigung entgegenbrachte. Er vertraute ihm mehr an als eine Knospe, aus der irgendwann einmal ein Baum entspringen würde. Was er dort in der Hand hielt, war die Seele seines Kameraden, alles, wofür der Mann jemals gelebt hatte. »Das ist ... zuviel der Ehre«, murmelte er schwach. »Ich kann das nicht annehmen.«
»Nimm«, beharrte Bernec. »Du ... du hast von uns allen die größten Aussichten, lebend zurückzukommen. Nimm sie!«
Skar atmete hörbar ein, griff nach der Samenkapsel und schob sie unter seinen Gürtel. Bernec fuhr herum, sprang in den Sattel und griff nach den Zügeln. »Weiter!« kommandierte er. »Und wIcht den Spuren aus.«
Icht setzten ihren Weg fort, schneller als nötig und vor allem gut für die Pferde gewesen wäre. Das monotone Auf und Ab der Wü ste flog an ihnen vorüber, und mit jeder Meile, die sie weiter nach Westen kamen, schien sich die stumme Drohung, die wie der Griff einer unsichtbaren, eisigen Hand über ihren Seelen lag, zu vertie fen. Skar keuchte. Sein eigener Atem brannte schmerzhaft in sei ner Kehle, und sein Herz hämmerte wütend und rasch. Aber es war nicht nur die Hitze.
Die Khtaäm-Spuren mehrten sich, je weiter sie sich den Höhlen näherten, so daß sie ihre geordnete Formation schließlich aufgeben und langsamer reiten mußten, um ihre Tiere behutsam zwischen den tödlichen geraden Linien hindurchzulenken. Als die Dämmerung hereinbrach, erreichten sie die Höhlen.
18.
Der Anblick war beinahe enttäuschend. Skar hatte nichts Bestimmtes erwartet, aber irgendwie hatte der Anblick der gewaltigen schwarzen Bestien die Vorstellung von etwas ebenso Gewaltigem und Finsterem in ihm ausgelöst. Die Höhle war nicht mehr als ein Loch im Boden: ein flacher, nach innen hin sanft abfallender Krater, als wäre der massive Fels eingebrochen und der Sand einfach nachgerutscht. Am Grunde des runden, senkrecht in die Tiefe führenden Schachtes lauerte Finsternis: Schwärze, die seine überreizten Nerven mit der Illusion von Bewegung zu füllen versuchten.
Bernec blinzelte zum Himmel empor, schlug seine Kapuze zurück und schwang sich aus dem Sattel. »Beeilt euch«, sagte er. »Die Sonne geht bald unter. Wir haben nicht mehr viel Zeit.« Er öffnete die Satteltaschen seines Pferdes, nahm ein zusammengerolltes Seil hervor und band das eine Ende am Sattelknauf fest. Dann trat er zurück, holte aus und warf das Tau in den Schacht hinab, eine Handlung, die so völlig undramatisch und der Situation unangemessen schien, daß Skar beinahe aufgelacht hätte. Das Seil fiel lautlos in die Tiefe und schlug irgendwo unten auf. Ein helles, metallisches Echo wehte aus dem Schacht empor. Bernec starrte einen Moment in das finstere runde Loch hinab, rüttelte dann prüfend am Seil und näherte sich, rückwärts gehend und die Hände um das Tau verkrampft, dem Schachtrand.
»Bist du sicher, daß es klug ist, jetzt dort hinunterzugehen?« fragte Skar.
»Und warum nicht?« entgegnete Bernec, ohne stehenzubleiben. »In einer halben Stunde ist es dunkel. Wenn wir dann noch hier sind, können wir uns genausogut gegenseitig die Kehlen durchschneiden. Die Hoger fangen an zu schwärmen, sobald die Sonne untergegangen ist.«
»Wir könnten uns eingraben und warten, bis sie abgezogen sind«, schlug Skar vor. Bernec schüttelte den Kopf, schwang die Beine über den Rand der Höhle und stützte sich an der senkrechten Wand ab. Das Seil spannte sich, und für einen Moment hing er in bedrohlicher Schräglage frei in der Luft, ehe er wieder festen Halt gewann. »Wenn ich ums Leben komme«, sagte er, »übernimmst du das Kommando, Skar. Dann dein Freund und Coar. Sollten sie auch fallen, versuchen die anderen auf eigene Faust zurückzukommen. Und jagt die Pferde davon.« Skar sah schweigend zu, wie Bernec langsam in der Tiefe verschwand. Er kletterte rasch und mit sicheren, geübten Bewegungen und war bereits nach wenigen Augenblicken aus ihrem Sichtbereich verschwunden. Nur das straff gespannte Seil und das leise Poltern und Schaben, das aus dem Schacht empordrang, bewiesen noch, daß er überhaupt existierte. Vielleicht, dachte Skar, war dieses Loch gar nicht der Eingang zu einer Höhle, sondern der Schlund eines gigantischen schwarzen Etwas, der Eingang zu einem Reich des Nichts, in dem sie einfach aufhören würden zu existieren, sobald sie es betreten hatten.