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Bernec, der an der Spitze der Gruppe ging, blieb plötzlich stehen und hob warnend die Hand. »Still«, zischte er. »Ich glaube, da vorne ist irgend etwas.« Skar schob sich hastig an den vor ihm gehenden Kriegern vorbei und trat lautlos neben ihn. Bernec hatte die Fackel gesenkt und die Flamme zusätzlich mit seinem Mantel abgeschirmt, so daß nur ein schwaches rötliches Glimmen in die Höhle hinausfiel. Aber auch so spürte Skar, wie gewaltig der Raum sein mußte. Der Boden stürzte vor ihnen senkrecht in die Tiefe; der Gang endete nicht ebenerdig, sondern irgendwo mitten in einer der Höhlenwände. Skar wollte etwas sagen, aber Bernec schüttelte hastig den Kopf und deutete nach vorne.

Auch Skar starrte konzentriert nach vorne und versuchte die pechschwarze Finsternis mit Blicken zu durchdringen. Der rötliche Lichtschein, der unter Bernecs Mantel hervordrang, störte ihn, aber trotzdem glaubte er nach einer Weile etwas wahrzunehmen ... Bewegung ... ein kaum merkliches Erbeben noch schwärzerer Schattierungen in der Schwärze ... die reine Empfindung von Leben, Eindrücke, die er nicht einzeln und bewußt wahrzunehmen vermochte, die ihm in ihrer Gesamtheit aber zweifelsfrei mitteilten, daß da vorne etwas war ... irgend etwas ...

Er bückte sich, tastete mit den Händen über den Boden und hob einen faustgroßen Stein auf. Bernecs Brauen zogen sich mißbilligend zusammen. Aber sie würden nicht zum Ziel kommen, wenn sie ihre Umgebung nicht irgendwie erforschten, und das wiederum war kaum möglich, ohne ein Risiko einzugehen. Er beugte sich vor, streckte die Hand aus und ließ den Stein fallen. Schon nach knapp zwei Sekunden hallte das gedämpfte Geräusch des Aufpralles zu ihnen hinauf.

»Fünfzehn Meter«, schätzte Bernec. »Vielleicht zwanzig. Nicht mehr.«

Skar ließ sich auf ein Knie herabsinken und versuchte, mit der Hand über die senkrecht abfallende Wand unter sich zu tasten. Wie schon draußen im Gang bestanden die Wände nicht aus Fels und massivem Gestein, sondern aus Erdreich, von seinem eigenen Gewicht zusammengebacken und hart, aber nicht fest genug, um ohne Risiko daran hinunterklettern zu können.

»Haben wir ein Seil?« fragte er.

Bernec nickte überrascht. »Du willst hinunterklettern?«

»Hast du eine bessere Idee?« gab Skar zurück. Er stand auf, wischte sich die Hände an einem Zipfel seines Mantels ab und deutete mit einer Kopfbewegung auf Bernecs Fackel. »Mach Licht«, verlangte er.

Bernec zögerte. »Wenn dort unten irgend etwas ist -«

»Hat es uns sowieso längst entdeckt«, unterbrach ihn Skar ungeduldig. »Nun mach schon. Ich klettere nicht gerne irgendwo hinunter, ohne zu wissen, was mich erwartet.«

Bernec schien nicht gerade begeistert von Skars Vorschlag zu sein. Trotzdem senkte er nach sekundenlangem Zögern langsam den Mantel und hob die Fackel empor. Der flackernde Lichtschein verlor sich in der gewaltigen Weite der Höhle, aber das Wenige, was sie sahen, ließ ihnen allen einen eisigen Schauer über den Rücken laufen. Der gigantische unterirdische Dom war nicht leer, sondern von etwas erfüllt, das Skar im ersten Augenblick an ein gewaltiges schleimiges Spinnennetz denken ließ. Wie ein bizarres Wurzelgeflecht zogen sich unzählige, schwarzglänzende Linien zwischen dem Boden und der unsichtbaren Decke dahin, armdicke, schimmernde Taue, an denen eine ölig glänzende Flüssigkeit herablief und die Knoten und Verdickungen, Kreuzungspunkte und pulsierende, schleimige Schnittstellen bildete. Erneut drängte sich Skar der Vergleich mit irgend etwas Lebendigem, Organischem auf, fast als bewegten sie sich nicht durch ein System unterirdischer Höhlen und Gänge, sondern durch das Innere eines gigantischen, unbegreiflichen Lebewesens. Das da vor ihnen mochte sein Blut sein: schwarzes, zähflüssiges Blut, das von der Decke getropft und auf seinem Weg zum Boden zu schleimigen Fäden und dünnen, halbdurchsichtigen Schleiern erstarrt war. Er schüttelte sich, drängte die Vorstellung mit Gewalt zurück und versuchte, mehr Einzelheiten zu erkennen. Trotz des Lichtes war der Boden immer noch unsichtbar, und falls sich außer diesen schleimigen Gebilden noch etwas in der Höhle aufhalten sollte, so verbarg es sich außerhalb des Lichtkreises.

»Das Seil«, befahl er leise. Einer der Männer drückte ihm das Ende einer dünnen, aus Lederschnüren geflochtenen Leine in die Hand, ein zweiter Krieger entzündete eine zusätzliche Fackel und warf sie wortlos in die Tiefe. Skar beugte sich neugierig vor und verfolgte ihren Sturz. Sie überschlug sich ein paarmal, zeichnete ein funkensprühendes Feuerrad in die Luft und prallte tief unter ihnen auf den Boden. Die Flamme drohte für einen Moment zu erlöschen, fand dann neue Nahrung und loderte hell auf.

»Der Boden sieht stabil aus«, murmelte Bernec. »Jedenfalls hier.« Er trat zurück, winkte zwei seiner Krieger zu sich und nahm den Bogen vom Rücken. »Wir geben dir Deckung«, sagte er nervös.

Skar griff ohne ein weiteres Wort nach dem Seil, schwang sich über die Kante und stieg, gehalten von Del und drei weiteren Cearnern, rasch in die Tiefe.

Der Abstieg dauerte nur wenige Augenblicke, aber Skar schien es, als klettere er stundenlang an der senkrecht abfallenden Wand hinab. Er bewegte sich durch einen Bereich vollkommener, totaler Finsternis. Das Licht von Bernecs Fackel verlor sich über ihm in der Weite der unterirdischen Kathedrale, und die winzige, flakkernde Halbkugel aus Licht unter ihm schien Meilen entfernt, ein unendlich kleiner, verloren wirkender Hort des Lebens und der Helligkeit, gegen dessen Grenzen die Dunkelheit wie eine niemals ermüdende Woge anrannte. Das Seil schnitt schmerzhaft in seine Handflächen.

Nach einer Ewigkeit erreichte er den Boden, ließ das Seil los und wich mit einem raschen Schritt bis zur Wand zurück, das Schwert abwehrbereit erhoben. Aber es gab kein Gefahr, zumindest keine, gegen die er hätte kämpfen können. Die Höhle war, abgesehen vom leisen Knistern der Fackel und dem dumpfen Dröhnen seines eigenen Herzschlages, vollkommen still, als würde die Dunkelheit sämtliche Geräusche absorbieren. Er bückte sich, hob die Fackel auf und machte einen zögernden Schritt. Der Boden federte unter seinem Gewicht, und hier und da schimmerten flache, ölig glänzende Pfützen im Licht der Flammen. Er näherte sich einem der schwarzen Stränge, betrachtete ihn einen Moment lang und berührte ihn zögernd mit der Schwertspitze. Er war weich und nachgiebig, aber trotzdem zäh, so daß selbst die rasiermesserscharfe Klinge aus Sternenstahl die schwarzschimmernde Oberfläche nicht zu ritzen imstande war, und als er das Schwert zurückzog, vibrierte der Boden sichtlich, als stände er unter einer inneren Spannung. Skar ging noch ein paar Schritte, blieb stehen und legte den Kopf in den Nacken. Der Höhlenausgang schien unendlich weit entfernt zu sein, und Bernecs Fackel war nicht mehr als ein winziger roter Stern an einem ansonsten pechschwarzen Himmel.

Er winkte ein paarmal mit der Fackel, um zu zeigen, daß hier unten alles in Ordnung war, ging zur Wand zurück und bewegte sich geduckt daran entlang. Wieder glaubte er ein fernes, dumpfes Grollen wahrzunehmen. Und diesmal war er sicher, sich nicht zu täuschen. Er blieb stehen, lauschte in sich hinein und ging schließlich in die Hocke, die Hand auf den Boden gepreßt.

»Skar! Was ist passiert?« drang Bernecs Stimme von oben zu ihm herab. Er mußte gesehen haben, daß Skar stehengeblieben war, war aber zu weit entfernt, um Einzelheiten erkennen zu können.

»Nichts«, rief Skar zurück. »Hier unten ist alles in Ordnung. Ihr könnt nachkommen.« Er stand auf, blieb einen Moment unschlüssig stehen und ging schließlich zu der Stelle zurück, an der das Seil von der Wand hing. Das Tau begann wild hin und her zu pendeln, als der nächste Mann mit dem Abstieg begann. Skar trat zurück und packte die Fackel fester. Mit einemmal hatte er Angst, panische Angst, ohne zu wissen, wovor. Sein Atem ging schneller, und die Fackel in seiner Hand begann sichtlich zu zittern. Dies war kein Ort für Menschen. Er war nicht für Menschen gemacht, weder für sie noch für irgendeine andere Art von Leben, das er kannte. Aber er beherrschte sich und drängte die Angst zurück, bis sie nicht mehr als ein sanftes, drohendes Grollen hinter seinen Gedanken war, nicht viel mehr als die Erinnerung an einen Schmerz, der längst vergangen war. Doch sie würde zurückkommen, das spürte er. Und vielleicht würde er sie dann nicht mehr besiegen können.