»Ich ... nichts«, murmelte Skar schwach. Er schob Dels Hand beiseite und trat einen Schritt zurück. »Es ist nichts.«
»Nichts?« Del runzelte zweifelnd die Stirn und starrte ihn sekundenlang durchdringend an. »Du siehst aus, als wärst du einem Gespenst begegnet«, behauptete er ernsthaft.
Skar schüttelte den Kopf. »Es ist ... nichts«, sagte er noch einmal. Aber er spürte selbst, wie wenig überzeugend seine Worte klangen. »Ich möchte nicht darüber reden, wenigstens jetzt noch nicht«, sagte er hastig. »Wo sind wir?«
Del zuckte mit den Achseln und drehte sich wortlos um. Coar hatte ihre Fackel wieder entzündet und stand unschlüssig in der Mitte des großen, leeren Gewölbes. Ihr ehemals brauner Mantel war mit Schlamm und dünnen Fäden einer schwarzen, schleimigen Masse besudelt. Skar sah an sich herab und registrierte angeekelt, daß auch er das Zeug an Kleidern und Händen hatte. Er zuckte zusammen, wischte sich hastig die Hände an den Hosenbeinen ab und fuhr sich mit den Fingern durch Gesicht und Haar.
»Dort drüben ist ein Ausgang«, sagte Del. Skars Blick folgte seiner Geste. An der gegenüberliegenden Wand der Höhle, beinahe in geradliniger Verlängerung des Stollens, aus dem sie gekommen waren, befand sich der Durchgang zu einer weiteren Höhle, höher und breiter als der Gang, aus dem sie gekommen waren, und - das erste Mal, seit sie dieses irrsinnige Labyrinth betreten hatten - aus Fels. »Sag mal«, sagte Del nachdenklich, »habe ich schon Halluzinationen, oder hörst du es auch?«
»Das Wasser?« Skar nickte und deutete mit einer Kopfbewegung auf das niedrige Felsentor. »Es scheint von dort zu kommen.« Er machte einen Schritt, zögerte und zog sein Schwert aus dem Gürtel, ehe er weiterging. Er durchquerte die Höhle, blieb stehen und legte die Handfläche auf die zerfurchte Steinwand. Sie vibrierte. Und sie war feucht.
»Licht!« verlangte er. Einer der Krieger reichte ihm eine brennende Fackel. Der Mann wollte an ihm vorbei in den Stollen eindringen, aber Skar hielt ihn mit einem raschen Griff zurück.
»Wir sollten jetzt vorsichtig sein«, warnte er. »Ich glaube, wir sind fast am Ziel. Del - komm mit.« Er wartete, bis der junge Satai eine zweite Fackel entzündet hatte und neben ihn getreten war, dann drang er gebückt und mit vorsichtigen Schritten in den Stollen ein. Der Gang war nur etwa dreißig Schritte lang. Das Licht ihrer Fackeln verlor sich plötzlich im Nichts, als sie aus dem Tunnel heraus und in eine gewaltige, hallende Höhle traten. Es wurde spürbar kälter, und ein feuchter, böiger Luftzug ließ sie frösteln.
Skar blieb stehen, deutete mit einer Kopfbewegung auf den Boden und ging dann langsamer weiter. Der Fels brach wenige Schritte vor ihnen in einer messerscharf gezogenen Linie ab und verschwand im Nichts. Skar drehte sich einmal um seine Achse und hielt die Fackel höher, um mehr Einzelheiten erkennen zu können. Sie befanden sich auf einem nur wenige Schritte breiten, steinernen Sims, der wie ein natürlicher Balkon über einen bodenlosen, schwarzen Abgrund hinausragte. Und von unten, von irgendwo aus der absoluten Schwärze unter ihnen, drang das Rauschen eines mächtigen Flusses zu ihnen herauf.
Lange, endlos lange standen sie wie gelähmt da und starrten in das schwarze Nichts zu ihren Füßen hinab. Schließlich, nach einer Ewigkeit, brach Del das Schweigen.
»Weißt du, Skar«, sagte er halblaut, »ich habe mich schon die ganze Zeit über gefragt, woher dieser verdammte Wald sein Wasser nimmt. Jetzt wissen wir es.« Hinter ihnen begann Coar leise und hysterisch zu lachen.
19.
Es dauerte lange, bis Skar der sonderbare Unterton in Coars Stimme auffiel. Sie lachte, aber es war ein schmerzhaftes, von krampfhaften Schluchzern und mühsamen, würgenden Geräuschen unterbrochenes Lachen, und als er sich herumdrehte und auf sie zuging, sah er, daß ihr Gesicht verzerrt war und Tränen über ihre Wangen rannen. Er berührte sie zaghaft an der Schulter, aber sie schlug seine Hand zur Seite und fuhr mit einer so abrupten Bewegung herum, daß er erschrocken zurückprallte. »Coar«, murmelte er leise, »was ... was ist los?« Sie antwortete nicht, aber ihr Lachen klang plötzlich schriller und ging allmählich in ein hysterisches Kreischen über. Skar wollte erneut nach ihrer Schulter greifen, aber seine Hand erstarrte mitten in der Bewegung, als er den Ausdruck auf ihrem Gesicht gewahrte. Mit einem Mal fühlte er sich furchtbar hilflos.
»Laß sie, Skar«, murmelte Bernec hinter ihm. Auch seine Stimme zitterte. Er schien Mühe zu haben, die Worte überhaupt hervorzubringen.
Skar ließ die Arme sinken und drehte sich um. Bernec war, ohne daß er es bemerkt hätte, an ihm vorbeigegangen und dicht vor der Felskante stehengeblieben. Er hatte die Kapuze zurückgeschlagen, und die rechte Hälfte seines Gesichtes wurde vom flackernden roten Licht von Dels Fackel rot und gelb erleuchtet, während die Linke im Dunkel lag; verborgen hinter einer messerscharfen Trennlinie zwischen Licht und Schatten. Zum ersten Mal, seit Skar den jungen Krieger getroffen hatte, sah er ihn wirklich so, wie er war - es gab zwei Bernecs, das begriff er jetzt. Die Hälfte, die er bis dahin gesehen hatte, der junge, ungeduldige, stolze Krieger, war nicht der wirkliche Bernec. Nicht der Mann, den Coar einmal geliebt und mit dem sie ein Kind bekommen hatte. Trotz des harten, blutigen Lichtes, das sein Gesicht wie einen Ausschnitt aus einem dräuenden Alptraum dem Dunkel entriß, wirkten seine Züge weich und verwundbar, beinahe sanft.
»Laß sie«, sagte er noch einmal. »Sie ... sie muß auf ihre Art damit fertig werden.«
»Womit?« schnappte Skar. Seine Verwirrung verwandelte sich schlagartig in Zorn. »Verdammt - was ist hier überhaupt los? Dort unten fließt ein unterirdischer Fluß, aber das ist doch kein Grund ...«
»Es ist nicht irgendein Fluß«, murmelte Bernec. »Es ist der Koch.«
»Und was ist daran so außergewöhnlich?« fragte Del. »Ich habe die ganze Zeit mit so etwas gerechnet. Cearn mag groß sein, aber lange nicht groß genug, um überhaupt ein eigenes Klima zu entwickeln.«
»Umsonst«, murmelte Bernec, als hätte er Dels Worte überhaupt nicht gehört. »Es war alles umsonst. All die Jahre, alle Hoffnung, alles ...« Er fuhr plötzlich herum, warf den Kopf in den Nacken und stieß einen gellenden Schrei voll unendlicher Verzweiflung aus. Seine Stimme brach sich irgendwo an der unsichtbaren Höhlendecke hoch über ihren Köpfen und wurde vom Rauschen und Gurgeln des Flusses aufgesogen. »Es ist der Koth, der verschwundene Fluß aus unseren Legenden. Und er fließt nach Westen! Nach Urc!!« Seine Stimme kippte um, wurde zu einem unverständlichen, mühsamen Schluchzen. Er wankte, brach in die Knie und schlug sich drei-, viermal hintereinander wuchtig mit den Fäusten vor die Schläfe. »Belogen«, murmelte er immer wieder. »Sie haben uns belogen. All die Jahre hindurch. Es war umsonst. Umsonst!«
Del schien etwas sagen zu wollen, aber Skar brachte ihn mit einem raschen, warnenden Blick zum Verstummen. Bernecs Verhalten wirkte theatralisch und gekünstelt, und doch glaubte er zu verstehen, was in dem jungen Mann vorging. In ihm, in Coar und den anderen, die mit ihnen hier herunter gekommen waren. Sie waren in gerader Linie aus Cearn heraus nach Westen geritten, und nun trafen sie auf diesen Fluß. Der gleiche Fluß, der das gewaltige grüne Areal von Cearn mit Wasser versorgte, dessen Weg die unendlich langsame Wanderung des Waldes und seiner Bewohner vorausbestimmte, ein Fluß, der irgendwo in den Weiten Enwors entsprang und tief unter der Nonakesh hindurchfloß. Ein Fluß, dachte er noch einmal, und erst jetzt, beim zweiten Mal, wurde ihm die volle Tragweite des Gedankens klar, der die tödliche Unendlichkeit der Nonakesh umging, auf dem es möglich sein mußte, die Küste und Urc zu erreichen!!
Wieder fühlte er sich hilflos, eine Hilflosigkeit, die mit Wut gemischt war und dadurch noch schlimmer wurde. Er begriff plötzlich, was Bernec gemeint hatte, als er sagte, man hätte sie belogen. Generation um Generation hatten die Herrscher Ipcearns die Geschiche ihres Volkes gelenkt, ihnen immer und immer wieder eingehämmert, daß es nur einen einzigen Weg gab, die Nonakesh zu durchqueren und das Gelobte Land ihrer Vorfahren zu erreichen. Aber sie mußten es gewußt haben, dachte er entsetzt. Cearn war ein durch und durch künstliches Gebilde. Jeder Baum, jeder Strauch, jeder Fußbreit Boden dieses gewaltigen wandernden Waldes war geplant. Wer immer den Gedanken an dieses phantastische Unternehmen gefaßt hatte, mußte von diesem Fluß gewußt haben!