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Skar trat ein paar Schritte zur Seite und verfolgte mit klopfendem Herzen, wie Del rasch emporkletterte. Er erreichte eine der Verdickungen, setzte den Fuß darauf und ruhte ein paar Sekunden aus, ehe er weiterstieg. Das Netz bebte unter seinem Gewicht, aber es hielt. Aber darum machte Skar sich die geringsten Sorgen. Er wußte, daß Del ein geschickter Kletterer war, und vermutlich würde er auch den Sprung zum Stolleneingang bewältigen können. Die Gefahr war eine andere. Was immer den Mann zu ihren Füßen - und vermutlich auch den anderen - getötet hatte, konnte noch dort oben lauern. Del wußte sich seiner Haut zu wehren und würde sicher auch mit einem einzelnen Hoger fertig werden, aber irgendwie glaubte Skar trotz seiner eigenen Worte nicht mehr daran, daß die beiden Männer wirklich einem Hoger zum Opfer gefallen waren. Sie hatten das Geheimnis dieser Höhlen entschleiert, aber er war plötzlich sicher, daß sie noch ein zweites, schrecklicheres bargen.

»Ich bin da!« drang Dels Stimme von oben zu ihnen herab.

»Wie sieht es aus?«

»Finster!« antwortete Del. »Sehr finster.«

»Hör mit dem Blödsinn auf!« rief Skar.. »Kannst du den Stollen sehen?« Del antwortete nicht sofort. Ein leises, schleifendes Geräusch drang zu ihnen herab, und der dunkelrote Lichtschein seiner Fackel begann für einen Moment wild hin und her zu schwanken.

»Was ist los?« rief Skar besorgt.

»Nichts. Ich versuche Schwung zu nehmen. Es ist weiter, als ich dachte.«

»Spring nicht, wenn du es nicht schaffst!« warnte Skar.

»Keine Sorge«, antwortete Del. »Der Eingang ist groß genug. Wenn ich ihn verfehle, wirst du es hören.« Er fuhr fort, auf dem Strang hin und her zu pendeln, um Schwung zu holen. Für einen Moment verwandelte sich seine Fackel in einen funkensprühenden, sanft nach unten geneigten Strich, dann war er verschwunden. Ein dumpfes, polterndes Geräusch erklang.

»Del?«

Keine Antwort. Ein Stein löste sich von der Wand und polterte lautstark hinab, und irgendwo über ihnen schien sich etwas zu bewegen.

»Del?!« rief Skar noch einmal. »Bist du in Ordnung?«

Wieder vergingen endlose Sekunden voller quälender Ungewißheit, dann erschien Del unter dem Höhleneingang und winkte mit der Hand. »Schrei nicht so«, sagte er übellaunig. »Ich bin schließlich nicht taub. Und andere auch nicht.«

»Was ist da oben los?« fragte Skar.

»Nichts. Das heißt ... komm rauf und sieh es dir selbst an. Und beeilt euch.« Er trat vom Eingang zurück, hantierte eine Zeitlang im Dunkeln herum und erschien dann wieder unter der Tunnelöffnung. »Vorsicht da unten. Tretet ein Stück zurück!« Er holte aus, warf das Seil zu ihnen herab und zog es so weit wieder hoch, daß das Ende einen halben Meter über dem Boden pendelte. »Los jetzt«, befahl er. »Der erste! Und beeilt euch.« In seiner Stimme war ein leiser, nervöser Unterton, unhörbar für die anderen, aber für Skar Signal genug, ihn davon zu überzeugen, daß da oben längst nicht alles so in Ordnung war, wie Del sie glauben machen wollte. Er fingerte nervös an seinem Schwert und trat beiseite, als Coar nach dem Seil griff und sich das Ende ein paarmal um die Handgelenke wickelte.

»Sei vorsichtig«, mahnte er.

Sie nickte, stemmte den rechten Fuß in die Wand und begann sich langsam am Seil emporzuziehen. Die dünne Leine straffte sich und begann zu vibrieren, als Coar auch den anderen Fuß vom Boden löste und für einen Moment scheinbar frei in der Luft hing. Eine Lawine kleiner Steine und losen Erdreiches polterte von oben herab und überschüttete sie mit Staub. Del keuchte vor Anstrengung; ein Laut, der trotz der großen Höhe noch deutlich zu vernehmen war.

»Hilf ihm«, sagte Skar hastig. »Er kann dich nicht allein hinaufziehen. Du mußt klettern.« Er sah, wie sich Coars Gesicht vor Anstrengung verzerrte. Aber sie gehorchte, beugte sich weiter hintenüber und stemmte mühsam einen Fuß vor den anderen in die Wand, um langsam nach oben zu steigen.

»Das schafft er nicht«, sagte Bernec nervös. »Kein Mensch hat soviel Kraft.« Er begann unruhig auf der Stelle zu treten und mit den Händen zu ringen. »Wenn ich wüßte, wie sicher diese Dinger sind«, murmelte er mit einem Blick auf den schwarzen Strang, an dem Del nach oben gestiegen war, »könnte ich hinaufklettern und ihm helfen ...«

»Er schafft es schon«, versuchte ihn Skar zu beruhigen. »Coar wiegt nicht viel. Wenn sie oben ist und ihm helfen kann, ist es leichter. Und jetzt hör auf, uns alle nervös zu machen«, fügte er etwas schärfer hinzu.

Bernec zuckte zusammen und sah ihn einen Herzschlag lang wütend an. Dann senkte er den Blick und nickte unmerklich. Skar konnte seine Gefühle nur zu gut verstehen. Er hatte zuviel hinnehmen müssen, um nun auch noch Coar zu verlieren. Aber wenn es in ihrer Situation überhaupt noch etwas gab, was ihnen helfen konnte, dann nur Ruhe.

Coar brauchte nur wenige Minuten, um mit Dels Hilfe an der senkrechten Wand emporzusteigen und den Stollen zu erreichen, aber Skar und den anderen erschien es, als vergingen Stunden, bis Del sie endlich an den Handgelenken ergreifen und mit einem letzten Ruck zu sich heraufziehen konnte.

Das Licht über ihnen begann zu flackern. Für einen Moment hörten sie gedämpfte Stimmen, ohne die Worte zu verstehen, dann fiel das Seil ein zweites Mal zu ihnen herab und pendelte lose an der Wand.

»Skar - jetzt du.«

Skar griff nach dem dünnen Lederriemen, zögerte aber noch einen Moment. »Du solltest dich einen Augenblick ausruhen!« rief er hinauf. »Ich bin schwerer als Coar, weißt du.«

»Hör auf, blöd rumzuquatschen, und komm endlich!« brüllte Del. Diesmal war die Angst in seiner Stimme nicht mehr zu überhören. Skar zog das Seil straff, stemmte den Fuß in das lockere Erdreich der Wand und begann rasch und sicher hinaufzusteigen. Das Seil zitterte in seinen Händen. Er wußte, daß sein Gewicht und die grausamen Rucke Del halbwegs die Arme aus den Gelenken reißen mußten. Trotzdem stieg er so schnell wie möglich weiter. Auch Dels Kräften waren Grenzen gesetzt, und Coar würde ihm kaum viel helfen können.

Er brauchte nur wenig mehr als eine Minute, um die fünfzehn Meter hinaufzusteigen und den Stolleneingang zu erreichen. Dels Hand erschien über der zerbröckelten Kante und tastete nach seinen Fingern. Skar ergriff sie, zog sich mit einer letzten, verzweifelten Anstrengung hinauf und blieb keuchend auf Händen und Knien hocken. Neben ihm brach Del mit einem wimmernden Schmerzlaut zusammen. Sein Körper glänzte vor Schweiß, und die dünne rote Narbe an seiner Schulter schien wild im Rhythmus seines Herzschlages zu pulsieren. Seine Hände waren blutig, wo der dünne Lederriemen eingeschnitten hatte. Er versuchte etwas zu sagen, bekam aber nur ein schmerzhaftes Keuchen heraus.

Skar blieb sekundenlang reglos hocken. Seine überanstrengten Muskeln schrien vor Schmerz, und vor seinen Augen flimmerten rote und grüne Punkte. Der Gang schien für einen Moment zu verschwimmen, wand und bog sich auf unmögliche Weise und kippte dann um. Erneut fühlte sich Skar an seinen sonderbaren Traum erinnert, und wieder hatte er das Gefühl, dies alles schon einmal erlebt zu haben, schon einmal hiergewesen zu sein.

»Was ... ist passiert?« fragte er schweratmend.

Del stemmte sich mühsam hoch, fuhr sich mit dem Handrücken über die Stirn und deutete wortlos hinter sich. »Vornash«, stieß er hervor. »Er liegt dort hinten. Sieh selbst.«

Skar stand auf und ging schwankend in die Richtung, in die Del gewiesen hatte. Coar hockte zusammengekauert neben einem verkrümmten, reglosen Körper. Ihre Haltung erschien ihm unnatürlich und steif, als wäre sie mitten in der Bewegung erstarrt.

Der Mann vor ihr war tot, ebenso tot wie Horum, den sie unten in der Höhle gefunden hatten. Aber er war keinem Hoger zum Opfer gefallen, und auch keiner anderen Alptraumbestie, die vielleicht in diesem Reich der Dunkelheit und des Schweigens lauern mochte.