»Und das mir«, stöhnte er zwischen zwei schnellen, hektischen Atemzügen. »Ich hätte Bergführer werden sollen statt Satai.«
Skar grinste flüchtig. Es war Dels Art, innere Spannungen mit einer sarkastischen Bemerkung - oder was er dafür hielt - abzutun, aber er kannte ihn zu lange, um nicht zu merken, wie nervös der junge Satai in Wahrheit war. Er ging zu ihm hinüber, hockte sich dicht neben ihm auf den Boden und legte ihm die Hand auf die Schulter. Dels Haut war feucht vor Schweiß, und sein Herz pochte so heftig, daß er die Schläge bis in die Fingerspitzen fühlen konnte.
»Wenn es zuviel für dich wird«, sagte er leise, »mache ich es allein. Ich glaube kaum, daß es mehr als zwei oder drei Mann sein werden.«
Del hob müde den Kopf und versuchte zu lächeln. »Den Tag, an dem ich vor dir aufgebe, erlebst du nicht mehr, alter Mann«, sagte er spitz.
Skar schüttelte den Kopf. »Ich meine es ernst. Du hast eine Menge hinter dir, vergiß das nicht. Und du tust mir keinen Gefallen, wenn du den Helden spielst. Wir haben auch so genug Probleme. Und ich habe keine Lust, dich an die Oberfläche tragen zu müssen.«
Del richtete sich in eine hockende Stellung auf und schob seine Hand beiseite. »Ich bin in Ordnung«, sagte er verärgert. »Aber ich beginne allmählich an deinem Verstand zu zweifeln. Ich wollte dir vorhin nicht in den Rücken fallen, aber hältst du es wirklich für eine gute Idee, wie ein Affe in dem Zeugs da draußen herumzuklettern und zu warten, bis sie kommen? Wer immer sie sein mögen.«
»Nein«, gestand Skar. »Aber hast du eine bessere?«
Del wandte den Kopf und starrte eine Zeitlang in den schwarzen Abgrund neben sich hinab. »Nein«, gestand er. »Aber es gefällt mir trotzdem nicht.«
»Mir auch nicht«, murmelte Skar. »Aber es ist möglich. Seshar hat sicher nicht mehr als zwei oder drei Mann hinter uns hergeschickt. Wir steigen an dem gleichen Strang empor, den du vorhin benutzt hast. Du kletterst etwas höher und suchst eine Stelle, an der du das Seil festbinden kannst. Wenn sie kommen, schwinge ich mich daran in den Tunnel und überrumpele sie. Selbst wenn es drei oder vier sind, habe ich den Vorteil der Überraschung auf meiner Seite.«
»Aber sicher«, bestätigte Del. »Es kann ja auch gar nichts schiefgehen. Wenn dieses Zeug da draußen das Gewicht von zwei Männern trägt, heißt das. Wenn das Seil nicht reißt und du dich nicht verschätzt und dir an der Wand den Schädel einrennst, und wenn du nicht mit einem Schwertstreich oder einem Pfeil empfangen wirst.«
»Du hast eine herzerfrischende Art, mir Mut zu machen«, sagte Skar säuerlich. Del grinste. »Ich weiß noch mehr.«
»Oh, danke. Es reicht, es reicht. Heb dir deine Phantasie auf, bis wir hier heraus sind. Ich habe das Gefühl, der Ärger geht dann erst richtig los.«
»Was ist aus deinem festen Vorsatz geworden, dich nicht einzumischen?« fragte Del überrascht. »Ich dachte, du wolltest so rasch wie möglich weg von hier?«
»Das will ich immer noch«, entgegnete Skar. »Aber glaubst du wirklich, daß sie uns so einfach gehen lassen werden? Seshar wird Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um uns mundtot zu machen. Außerdem habe ich noch eine Rechnung zu begleichen. In Ipcearn.«
»Seit wann bist du rachsüchtig?« spottete Del.
Skar dachte an einen zehnjährigen Jungen mit großen, unschuldigen Augen und schwieg. Ein leises, schabendes Geräusch drang aus der Tiefe des Stollens zu ihnen herauf und verklang, ehe er sicher sein konnte, ob er es wirklich gehört oder sich nur eingebildet hatte. Er wandte den Kopf, versuchte einen Moment lang, die Dunkelheit mit Blicken zu durchdringen, und kroch dann auf Händen und Knien zur Kante hinüber. Das rote Licht der Fackeln drang wie ein geheimnisvolles Leuchten aus einem schwarzen, grundlosen See zu ihnen hinauf.
»Wie weit seid ihr?« rief er hinab.
Einen Augenblick lang erfolgte keine Reaktion auf seine Worte, dann drang Bernecs Stimme leise und verzerrt zu ihnen hinauf: »Wir sind fertig. Thenan kann mit dem Aufstieg beginnen, wenn ihr wollt.«
Skar tauschte einen raschen Blick mit Del und nickte. »In Ordnung«, rief er. »Fangt an.«
Der armdicke schwarze Strang vor dem Stollenausgang begann zu beben. Ein dumpfer, vibrierender Laut dicht an der untersten Grenze des überhaupt Hörbaren lief durch die Höhle und verklang. Skar schauderte. Obwohl er sich dagegen wehrte, begann ein eisiges, lähmendes Gefühl der Angst in ihm emporzukriechen. Er war es gewohnt zu kämpfen, auch in Situationen, die jedem anderen aussichtlos erschienen wären, und gegen Feinde, die ihm weit überlegen waren. Aber dies hier war etwas anderes. Sie kämpften weniger gegen einen körperlichen Feind als vielmehr gegen die Dunkelheit und das Schweigen, und die Angst, die er verspürte, war anders als sonst, schleichend und leise, ein Gefühl, das die Schutzmauern seines Willens nicht durchbrach, sondern unterlief und gegen das er hilflos war. Er stand auf, machte einen Schritt in den Stollen hinein und blieb abrupt stehen. »Was ist los?« fragte Del.
Skar winkte hastig ab. »Still!« zischte er. »Ich glaube, ich höre etwas!« Er schloß die Augen, legte den Kopf auf die Seite und lauschte mit angehaltenem Atem. Diesmal war er sicher, sich das Geräusch nicht nur eingebildet zu haben, und nach einer Weile hörte er es wieder: ein hoher, unangenehmer, schwingender Laut, vermischt mit einem Rascheln und Zerren, als würde Horn oder versteinertes Holz über Fels geschleift.
Und dann wußte er, wo er den Laut schon einmal gehört hatte ...
Er fuhr herum, riß den völlig verblüfften Del in die Höhe und gab ihm einen Stoß, der ihn zurücktaumeln ließ. »Weg hier!« brüllte er. »Das sind Khtaäm! Spring!« Er erreichte das Stollenende, stieß sich mit aller Kraft ab und sprang mit weit ausgebreiteten Atmen ins Nichts hinaus. Etwas Dunkles, Formloses schien auf ihn zuzurasen. Er griff blind zu, bekam einen der ölig glänzenden schwarzen Stränge zu fassen und klammerte sich mit aller Kraft fest. Ein schmerzhafter Schlag traf ihn an Gesicht und Brust, und für einen Moment drohten seine Finger an der glitschigen Oberfläche des Gewebes den Halt zu verlieren. Er rutschte ab, griff noch einmal mit aller Gewalt zu und kam mit einem grausamen Ruck, der ihm schier die Arme aus den Gelenken zu reißen schien, zum Halten. Wie durch einen Nebel von Schmerzen registrierte er, wie Del sich ebenfalls aus dem Gang herauskatapultierte und verzweifelt einen der Stränge zu fassen versuchte. Er glitt ab, rutschte drei, vier Meter in die Tiefe und prallte auf eine der knollenartigen Verdickungen. Ein keuchender, halberstickter Schrei wehte zu Skar herauf. Del griff in blinder Panik um sich, bekam einen der Stränge zu fassen und hing für eine endlose, schreckliche Sekunde an nur einer Hand in der Luft, ehe es ihm gelang, seine wilden Pendelbewegungen zu bremsen und mit der anderen Hand und den Beinen ebenfalls festen Halt zu finden. Skar hob mühsam den Kopf und blickte zum Tunnelausgang empor. Die dunkle Öffnung schien zu brodelndem, schwarzem Leben erwacht zu sein. Eine riesige, formlose Woge wälzte sich aus dem Gang, quoll über die Kante und begann wie eine träge, zähe Flüssigkeit die Wand hinunterzufließen. Ein hoher, sirrender Laut, als würde irgendwo eine gigantische Bogensehne gespannt, quälte Skars Trommelfelle.
»Khtaäm!« würgte er verzweifelt. »Bei allen Göttern - Coar! Bernec! Flicht! Lauft um euer Leben!!!«
Das Licht unter ihm flackerte. Skar hörte das Geräusch hastig trappelnder Füße, dann einen dumpfen Laut, als schlüge ein schwerer Körper auf den Boden auf. Dann erscholl ein hoher, unmenschlich spitzer Aufschrei, ein Geräusch, das Skar auf grausige Weise bekannt vorkam und ihm schier das Blut in den Adern gerinnen ließ. Das Licht erlosch übergangslos, und dann hörte er nichts mehr außer dem hellen Sirren und Summen der Ungeheuer.