Der Strang, an den er sich klammerte, begann zu vibrieren, und obwohl es absolut finster war, glaubte er deutlich zu erkennen, wie die Höhlenwand dicht neben ihm zu pulsierendem, ekelhaften Leben erwachte.
Der Spuk verging so rasch, wie er gekommen war. Das Geräusch des vorüberziehenden Khtaäm-Schwarmes verklang, aber die darauf folgende Stille erschien Skar fast bedrückender. Irgendwo an der unsichtbaren Decke hoch über seinem Kopf löste sich ein Stein und prallte mit schmatzendem Geräusch auf den Boden, und an der Wand neben ihm, der Spur der Ungeheuer folgend, rieselte ein Strom von losgerissenem Erdreich und Sand herab.
Seine Hände begannen zu zittern. Sein Körper schien plötzlich Tonnen zu wiegen, und er konnte sich nur noch mit Mühe an dem dünnen, glitschigen Strang halten. Er stöhnte, löste vorsichtig die Finger der Rechten von seinem Halt und begann Hand über Hand hinunterzusteigen. Die Dunkelheit hüllte ihn ein wie eine finstere, erstickende Decke. Die Luft schien mit einem Mal trocken und kalt geworden zu sein und schmerzte in seinen Lungen, und in seinem Mund war der bittere, metallische Geschmack von Überanstrengung und Blut.
Ein leises, schmerzerfülltes Stöhnen drang von unten zu ihm herauf.
»Del?« rief er halblaut. »Bist du ... in Ordnung?«
Sekundenlang antworteten ihm nur das Schweigen und das leise, monotone Geräusch rieselnder Erde.
»Ich lebe noch«, sagte Del schließlich. »Jedenfalls glaube ich es. Aber ich hänge fest.«
»Was ist passiert?« fragte Skar erschrocken.
»Meine Schulter«, stöhnte Del. »Ich ... kann den Arm nicht bewegen. Es ... schmerzt höllisch.«
»Rühr dich nicht«, befahl Skar. »Ich hole dich.« Er kletterte schneller, obwohl seine Rücken- und Schultermuskeln bei jeder Bewegung vor Schmerzen zu zerbrechen schienen. Sein Fuß stieß auf etwas Weiches, Nachgiebiges, und unter ihm erscholl ein wütender Grunzer.
»Kein Grund, mir ins Gesicht zu treten«, murrte Del. Seine Stimme schwankte, und Skar konnte hören, wie schnell und hektisch sein Atem ging. »Beeil dich«, stöhnte er. »Ich ... kann mich nicht mehr lange halten. Mein Arm ...«
Skar verharrte einen Moment auf der Stelle, um neue Kraft zu schöpfen, tastete mit den Zehenspitzen nach Dels Schulter und schob sich behutsam daran vorbei. »Versuch dich an meiner Schulter festzuhalten«, sagte er, als sie auf gleicher Höhe waren. »Ich trage dich. Es sind nur noch ein paar Meter.«
Del keuchte. Er roch durchdringend nach Schweiß und Blut, und als Skar vorsichtig eine Hand von seinem Halt löste und nach ihm griff, konnte er spüren, daß er am ganzen Leib zitterte.
»Es ... geht nicht«, murmelte Del. »Ich ... kann mich nicht halten ... mein Arm ...«
»Du mußt!« sagte Skar. »Halt dich fest, Junge. Es dauert nicht lange. Reiß dich zusammen!«
Sein befehlender Ton schien Erfolg zu haben. Del bewegte sich neben ihm in der Dunkelheit. Seine Hand glitt über Skars Gesicht, suchte mit kleinen, hektischen Bewegungen nach den Schulterriemen von Skars Harnisch und sackte kraftlos zurück.
»... kann nicht«, stöhnte er. »Hilf mir, Skar... ich ...«
»In Ordnung«, murmelte Skar. »Dann eben anders. Beiß die Zähne zusammen - wir springen!« Er atmete noch einmal tief ein, schloß die Augen und ließ sich zur Seite fallen. Seine Arme schossen vor und umschlangen Dels Hüfte.
Der Sturz schien endlos zu dauern. Skar war sicher gewesen, sich nicht mehr als vier oder fünf Meter über dem Boden der Höhle zu befinden, aber der schwarze Abgrund, in den sie fielen, schien bodenlos zu sein. Er preßte Del so fest an sich, wie er konnte, zog die Beine an und versuchte, sich auf den bevorstehenden Anprall vorzubereiten, aber die Zeit schien plötzlich träge wie Öl zu fließen und - Ein gigantischer Hammer schlug von unten gegen Skars Füße und versuchte ihm die Beine in den Leib zu rammen, dann traf ihn Dels Gewicht wie der Tritt einer Feuerechse, riß ihm die Arme aus den Gelenken und stauchte sein Rückgrat zusammen. Er fiel hintenüber, kam, durch die Wucht des Aufpralles weitergerissen, noch einmal auf die Füße und stürzte ein zweites Mal. Sein Kopf schlug gegen etwas Weiches, Nachgiebiges. Er rollte weiter, schrammte schmerzhaft mit den Rippen über einen Stein und fiel schwer aufs Gesicht. Dann - endlich - verlor er das Bewußtsein.
20.
»Bleib liegen«, murmelte eine Stimme. »Bleib liegen und bewege dich nicht. Wir sind in Sicherheit.«
Skar versuchte die Hand zu heben, aber die Bewegung wurde von einem so unerträglichen Schmerz begleitet, daß er es vorzog, lieber still liegenzubleiben und zu tun, was die Stimme befahl. Er blinzelte. Zum dritten Mal in kurzer Zeit erwachte er aus tiefer Bewußtlosigkeit, und zum dritten Mal war Coars Gesicht das erste, was er sah.
»Ihr seid in Sicherheit«, sagte sie noch einmal. »Und wir auch. Du brauchst dir keine Sorgen zu machen.«
Skar wollte auffahren, aber Coar schob ihn mit sanfter Gewalt zurück. Er lag auf einem weichen, angenehm warmen Lager, und irgend etwas kitzelte an seinen Füßen. »Was ...«, murmelte er verwirrt, »ist passiert? Was ist mit Del?«
»Er ist unverletzt. Seine Schulter ist verrenkt, mehr nicht.«
»Und ihr?« Skars Erinnerungen kamen nur langsam und bruchstückweise zurück. »Die ... die Khtaäm!« keuchte er erschrokken. »Was ist geschehen? Ihr ...« Coar hob besänftigend die Hand. Irgendwo hinter ihr loderte ein Feuer, und ihr Haar war vom hellen Widerschein der Flammen eingerahmt wie von einer sanften, halbtransparenten Aura. »Sie sind fort«, sagte sie. »Zwei von uns sind tot. Aber wir wären alle gestorben, wenn du uns nicht rechtzeitig gewarnt hättest.«
Skar setzte sich nun doch auf und schob ihre Hand beiseite. Er lag dicht am Feuer auf einem Lager aus zusammengerollten Mänteln. Seine Arme waren bis zu den Ellbogen hinauf bandagiert, und sein Körper schien nur noch aus blauen Flecken und Prellungen zu bestehen.
»Ihr Satai seid wirklich großartige Krieger«, stellte Coar mit einem spöttischen Lächeln fest. »Aber mir scheint, ihr müßt immer jemanden bei euch haben, der euch hinterher wieder gesundpflegt.«
»Was ist geschehen?« fragte Skar, ohne auf ihre Bemerkung einzugehen.
Coar zuckte die Achseln. »Das weiß ich ebensowenig wie du. Wir sind geflohen, als die Bestien aus dem Tunnel kamen. Sie verschwanden irgendwo in einem Seitengang, glaube ich. Seitdem hat sich da oben nichts mehr gerührt.«
»Wie lange war ich bewußtlos?«
»Nicht lange. Eine Stunde vielleicht. Bernec wollte hinaufsteigen und oben im Tunnel nach dem Rechten sehen, aber Del war dagegen. Er fürchtet wohl, daß noch mehr dieser Ungeheuer dort oben lauern.« Sie setzte sich auf, schüttelte mit einer unbewußten Bewegung eine Haarsträhne aus der Stirn und sah über die Schulter zum Feuer zurück. »Wir werden hier warten, bis du dich erholt hast. Es ist sowieso Zeit zum Rasten. Draußen muß bald wieder Tag sein. Du solltest versuchen, ein wenig zu schlafen.«
»Schlafen?« echote Skar. »Jetzt?«
»Wir haben Wachen aufgestellt«, antwortete Coar. »Und das Feuer wird die Bestien abhalten, falls sie zurückkommen sollten.«
»Wie habt ihr es gemacht?«
»Das Feuer?« Coar deutete mit einer Kopfbewegung auf das schwarzglänzende Gewebe über ihren Köpfen. »Das Zeug brennt sehr gut. Es läßt sich schwer abtrennen, aber es brennt besser als Reisig. Wir wissen zwar immer noch nicht, was es ist, aber es scheint ganz nützlich zu sein. Kannst du dir erklären, woher die K6ataäm plötzlich kamen? Ich habe noch nie eine so große Menge von ihnen versammelt gesehen«, fragte sie, plötzlich das Thema wechselnd.
Skar zögerte einen Moment. Er schüttelte den Kopf, nickte, schüttelte noch einmal den Kopf und grinste verlegen, als er Coars erstaunten Blick bemerkte. »Erklären nicht«, murmelte er undeutlich. »Aber ich habe eine Vermutung, schon seit wir ihre Spuren in der Wüste gefunden haben.«