Er sah auf, als ein Schatten über den geflochtenen Fußboden fiel. Es war Del. Skar lächelte matt. »Hallo. Schön, daß du kommst. Ich habe kaum noch zu hoffen gewagt, daß überhaupt noch jemand mit mir redet.«
Del bewegte sich einen Schritt in den Raum hinein und blieb stehen. »Glaubst du wirklich, daß das nötig war?« fragte er leise.
»Nötig?« Skar überlegte einen Moment und zuckte die Achseln. »Ich weiß es nicht. Vielleicht. Vielleicht war es auch sinnlos.«
Del lächelte traurig. »Weißt du, was Bernec gerade tut?« fragte er.
Skar schüttelte erneut den Kopf. »Nein«, antwortete er, »und es interessiert mich auch nicht. Wir sollten verschwinden, Del. Sofort. Laß uns ein Pferd und Lebensmittel stehlen und fliehen.«
»Er hält Reden«, sagte Del, ohne seine Worte zu beachten. »Er hat ihnen alles erzählt. Von den Hogern, dem Fluß, Chaime ... Er putscht sie auf.«
»So?« machte Skar desinteressiert. »Tut er das? Ich hatte gedacht, daß der Schock länger anhält.«
»Ich glaube, du verstehst mich nicht«, sagte Del eindringlich. »Dieser Narr ist dabei, ganz Went in einen Hexenkessel zu verwandeln. Wenn ihn niemand aufhält, hat er sie in zwei Stunden soweit, daß sie ihm begeistert nach Ipcearn folgen!«
»Und was soll ich, deiner Meinung nach, dagegen tun?« fragte Skar ruhig. »Hinuntergehen und ihn auch noch erschlagen? Vielleicht auch gleich noch Nopath und die anderen?« Er seufzte. »Es ist zu spät, Del. Wir können nichts mehr tun. Gar nichts mehr. Die Dinge sind uns längst entglitten, wenn wir sie überhaupt jemals in der Hand gehabt haben. Das einzige, was uns noch bleibt, ist, zu verschwinden. Sofort. Ich will nicht auch noch mitansehen, wie dieses Volk zugrunde geht.«
»Dieses Selbstmitleid steht dir nicht«, murmelte Del.
»Selbstmitleid«, wiederholte Skar. »Vielleicht ist es das, mag sein. Aber ich will einfach nicht mehr, begreifst du das?«
»Du willst davonlaufen«, behauptete Del. »Du willst dich feige davonstehlen, das ist alles.«
Skar nickte. »Und wenn?«
Del verzog gequält das Gesicht. »Skar«, sagte er. »Ich ... ich weiß, wie du dich fühlst. Aber wir können jetzt nicht gehen! Nicht in diesem Moment!«
»Und was schlägst du vor?« fragte Skar sarkastisch. »Soll ich mir eine goldene Rüstung anlegen und an der Spitze von Bernecs Heer gegen Ipcearn reiten? Ich bin sicher, daß wir siegen. Zwei so fabelhaften Kriegern wie uns dürfte das nicht schwerfallen, dieses alberne Baumhaus zu stürmen. Überhaupt kein Problem.« Del knurrte. »Muß ich dich erst verprügeln, bis du Vernunft annimmst?« fragte er. »Oder hättest du vielleicht die Güte, die Scheuklappen wenigstens für fünf Minuten herunterzunehmen und mir zuzuhören?«
Skar gab einen seltsamen, halb amüsierten, halb wimmernden Laut von sich. »Bitte«, sagte er. »Ich höre. Welche Strategie schlägst du vor? Zünden wir Ipcearn an, oder versuchen wir es im Sturmangriff ?«
Del schüttelte verzweifelt den Kopf. »Es gibt einen Weg«, sagte er. »Es gibt eine winzige Chance, Skar. Vielleicht ist es noch nicht zu spät, das Schlimmste zu verhindern. Ich habe mit Coar gesprochen.«
Skar hob verwirrt den Blick. »Coar?«
Del nickte. »Sie verachtet dich nicht, wenn du das glaubst. Ich glaube, sie ... sie hat nur noch Mitleid für dich.«
»Was soll das?« schnappte Skar wütend.
Del machte eine besänftigende Handbewegung. »Wir können Bernec nicht mehr aufhalten«, sagte er. »Selbst wenn wir ihn töten, würde das die anderen nur noch mehr aufbringen. Aber es gibt vielleicht einen anderen Weg.«
»Und welchen?«
»Wir müssen nach Ipcearn«, sagte Del nach einer langen, hörbaren Pause. »Nur du und ich und Coar und Bernec.«
»Du mußt verrückt sein«, sagte Skar, »wenn du glaubst, daß er sich darauf einläßt.«
»Vielleicht doch«, antwortete Del hastig. »Wir müssen es versuchen, Skar! Es ist unsere letzte Chance. Ihre letzte Chance. Wenn es uns gelingt, Seshar unschädlich zu machen, können wir den Krieg noch verhindern.«
»Noch ein Mord?« fragte Skar.
Del verzog das Gesicht. »Der Gedanke gefällt mir ebensowenig wie dir. Aber ich sehe keinen anderen Weg. Es ... es geht nicht mehr ohne Blutvergießen ab, Skar, so grausam es klingt. Aber du hast die Wahl zwischen einem Menschenleben und hunderten.«
Skar schwieg betroffen. Es war das alte Problem, ob man Menschenleben gegeneinander aufrechnen durfte, ob irgend jemand - ganz egal, aus welchen Gründen - das Recht besaß, über Leben und Tod eines Menschen zu entscheiden. Niemand hatte es je gelöst, und auch ihnen würde es nicht gelingen. Aber vielleicht mußten sie das Falsche tun, um am Ende das Richtige zu erreichen. Vielleicht, dachte er matt, würden sie auch bei dem Versuch sterben, Ipcearn zu betreten. Und vielleicht war es das beste.
Er stand auf und ging an Del vorbei zur Tür.
23.
Der Himmel über dem Wald glühte im Licht unzähliger, hell lodernder Feuer. Ein dumpfes Raunen und Brausen, das an das Geräusch ferner Meeresbrandung erinnerte, brachte die Luft in der Stadt zum Erbeben.
Skar verharrte unwillkürlich, als er die Menschenmenge sah, die sich auf der Lichtung im Zentrum Wents versammelt hatte. Es mußten sieben-, vielleicht achthundert sein: Männer, Frauen und Kinder, Greise und Krieger. Jeder Bewohner der Stadt schien anwesend zu sein. Und er konnte die knisternde Spannung, die von der Menge Besitz ergriffen hatte, fühlen. Bernecs Worte hatten ihre Wirkung nicht verfehlt. Im Moment mochte die Menge noch betäubt und gelähmt von dem Schock sein, den Bernecs Enthüllungen für sie bedeutet haben mußten. Aber dieser Zustand würde nicht lange anhalten: Schon in kurzer Zeit würde aus dieser Menschenmenge ein tobender Mob werden, ein gigantisches, vielkörperiges Tier, das nach Blut schrie und seinem Anführer blind in den Tod folgen würde.
Skar schloß für einen Moment die Augen und versuchte, das dumpfe Murmeln und Wispern in seinem Inneren zu ignorieren.
Sein dunkler Bruder war noch da, lauernd und wach, bereit, bei der ersten sich bietenden Gelegenheit aus seinem Versteck zu springen und wieder Gewalt über ihn zu erlangen.
»Kommt«, flüsterte er. »Und seid vorsichtig. Eine falsche Bewegung, und sie zerreißen uns.«
Sie ritten los, Skar an der Spitze, gefolgt von Coar und Del, der ein viertes, reiterloses Pferd am Zügel führte. Coar hatte ihn und Del mit den fertig gesattelten Tieren am Fuße der Brücke vor dem Haus der Heilerin erwartet, als hätte sie keine Sekunde daran gezweifelt, daß Skar sie begleiten würde. Sie hatten kein Wort miteinander geredet, aber das war auch nicht nötig gewesen. Coar war seinem Blick ausgewichen, aber es war nicht Haß oder Abneigung oder Furcht gewesen, sondern etwas anderes, etwas, das Skar nicht mit Gewißheit bestimmen konnte und das ihn erschaudern ließ.
Die Menge teilte sich vor ihnen, als sie langsam auf das Zentrum des Platzes zuritten. Skar bemühte sich, starr geradeaus zu blicken, wo Bernec auf einem provisorisch errichteten Podest aus Fässern und eilig zusammengenagelten Brettern stand, aber er spürte trotzdem, wie die Menschen rechts und links von ihm ängstlich zurückwichen und ihm furchtsame Blicke zuwarfen. Vielleicht war er einmal ein Held für sie gewesen. Jetzt hatten sie nur noch Angst vor ihm. Er spürte, wie sich die Stille wie eine schwere, erstickende Decke über den Platz senkte. Bernec verstummte, als er ihn, Coar und Del heranreiten sah, und für einen Moment huschte ein furchtsamer, erschrockener Ausdruck über seine Züge. Dann hatte er sich wieder in der Gewalt.