Skar ritt bis auf zehn Meter an das Rednerpodest heran und zügelte sein Pferd. Coar blieb an seiner rechten Seite stehen, Del, das zusätzliche Pferd zwischen sich und Skar haltend, links.
Bernec bewegte sich unruhig. Sein Blick tastete hilfesuchend über die stumme Mauer weißer, gebannt dreinschauender Gesichter hinter Skar, aber er schien zu spüren, daß er in diesem Augenblick keine Hilfe von ihnen zu erwarten hatte. »Du ... du bist also doch noch gekommen«, begann er, als klarwurde, daß Skar nicht von sich aus reden würde.
Skar lächelte stumm, aber in einer Art, die Bernec sichtlich erbleichen ließ. Er rang nervös mit den Händen, schluckte ein paarmal und fuhr sich hektisch mit dem Handrücken über die Stirn. Sein Blick saugte sich wie hypnotisiert am Griff von Skars Waffe fest. Er hatte Angst.
»Was ... wollt ihr?« fragte er unsicher.
Skar lächelte. »Wir reiten nach Ipcearn«, sagte er ruhig. Seine Hand machte eine einladende Bewegung auf den Sattel des überzähligen Pferdes an seiner Seite. »Kommst du mit?«
Bernecs Unterkiefer sank verblüfft herunter. »Ihr wollt ...?«
»Nach Ipcearn reiten«, bestätigte Skar. »Nur wir drei - und du, wenn du den Mut dazu hast.«
»Ihr seid verrückt!« keuchte Bernec. »Ihr seid tot, bevor ihr auch nur in die Nähe des Schlosses kommt. Seshar wird euch umbringen lassen.«
»Vielleicht«, gestand Skar gleichmütig. »Aber dieses Risiko müssen wir eingehen. Man kann keinen Krieg führen und hoffen, unbeschadet davonzukommen.«
»Aber es ist Wahnsinn, allein gegen Ipcearn zu ziehen! Seshar hat mindestens zweihundert Soldaten, und ...«
»Hast du Angst?« unterbrach ihn Skar lächelnd.
Bernec schwieg eine ganze Weile. Auf seinen Zügen war der innere Kampf, den er durchstehen mußte, überdeutlich zu sehen.
»Nein«, sagte er. »Ich habe keine Angst. Aber es ist sinnlos, wenn ihr euch opfert, und es ist auch sinnlos, wenn ich dabei mitmache. Seshar kann sich keinen besseren Weg wünschen, mich loszuwerden.«
»Und du glaubst, darauf wäre er angewiesen, wie?« fragte Skar höhnisch. »Mir scheint, du hältst dich bereits für unersetzlich. Aber du bist nicht so wichtig, wie du denkst, Bernec. Du hast deinem Volk die Wahrheit gesagt, und ich will mich nicht mit dir darüber streiten, ob es zu diesem Zeitpunkt richtig war oder nicht. Es zählt jetzt nicht mehr, ob es dich gibt oder nicht. Du bist unwichtig, Bernec. Dein Volk wird sich so oder so gegen Seshar auflehnen. Das einzige, was du noch tun kannst, ist, dich zum ersten Mal in deinem Leben wie ein Mann zu benehmen und den Kampf, den du begonnen hast, allein zu Ende zu bringen. Vielleicht stirbst du dabei, aber dann sterben wir alle. Dein Volk wird trotzdem überleben.«
»Ihr ... ihr verlangt von mir, daß«, stotterte Bernec, »daß ich...«
»Wir verlangen nicht mehr von dir, als wir von uns verlangen«, unterbrach ihn Skar. »Nicht mehr, als jeder Mann von selbst tun würde.« Er wußte, daß er gewonnen hatte. Bernec hatte den Moment, in dem er das Ruder noch hätte herumreißen können, verpaßt. Ihm blieb gar keine andere Wahl mehr, als auf Skars Vorschlag einzugehen, wenn er nicht vor all seinen Anhängern das Gesicht verlieren wollte.
»Gut«, sagte er mühsam. »Ich komme mit euch. Nur ich allein. Aber wenn wir nicht zurückkommen«, fügte er mit erhobener Stimme hinzu, »dann wird dieses Volk wie ein Mann aufstehen und Ipcearn vom Antlitz dieser Welt fegen!«
»Ihr Götter«, flüsterte Del so leise, daß nur Skar die Worte verstehen konnte. »Gleich wird er sich vor die Brust schlagen und Asche auf sein Haupt streuen.« Skar schüttelte unwillig den Kopf. »Still«, zischte er. »Verdirb nicht alles. Gib ihm wenigstens eine winzige Chance, heil davonzukommen.«
Del grinste und schwieg.
Bernec blieb noch einen Moment reglos auf seinem Podest stehen, als warte er auf irgend etwas. Schließlich wandte er sich um, sprang zum Boden herab und kam mit gezwungen ruhigen Schritten auf sie zu. Skar beugte sich vor, um ihm in den Sattel zu helfen. Bernec ignorierte seine Hand, schwang sich auf den Rücken des Tieres und riß unnötig hart und brutal an den Zügeln.
»Drei Tage!« rief er. »Wenn wir in drei Tagen nicht zurück sind, greift ihr an!« Ein paar vereinzelte Stimmen riefen ihre Zustimmung, und jemand versuchte, einen Hochruf anzustimmen, brach aber sofort wieder ab.
Sie ritten los. Die Menge teilte sich vor ihnen und wich weiter zurück, als nötig gewesen wäre. Eine beklemmende, unwirkliche Stimmung schien die Stadt erfaßt zu haben, ein Schweigen, das ihnen wie ein unsichtbarer, finsterer Hauch selbst dann noch folgte, als sie hintereinander durch das Tor ritten und in den Wald eindrangen.
Skar fühlte sich mit einemmal unendlich müde. Er hätte erleichtert oder zumindest zufrieden sein müssen, aber er spürte nichts davon. Es gab keinen Grund, auf seinen Sieg über Bernec stolz zu sein. Wenn es überhaupt ein Sieg gewesen war. Sie galoppierten in scharfem Tempo nach Westen. Coar hatte frische, ausgeruhte Pferde herausgesucht, so daß sie rasch vorankamen, ohne größere Pausen einlegen zu müssen. Gegen Mitternacht rasteten sie an einem der unzähligen kleinen Tümpel, die überall im Wald von Cearn verstreut waren, tränkten ihre Pferde und aßen, mehr aus Gewohnheit und um nicht untätig herumsitzen und schweigen zu müssen, als aus Hunger, brachen aber schon nach wenigen Minuten wieder auf, um weiterzureiten. Der Weg kam Skar verändert vor. Er war ihn schon dreimal gegangen, aber diesmal schien alles anders, fremd und ablehnend. Eine seltsame Stimmung des Abschiednehmens ergriff ihn. Er spürte, daß es das letzte Mal sein würde. Er würde nicht mehr nach Went zurückkehren, ganz gleich, was geschah. Als die Sonne aufging, waren sie nur noch wenig mehr als eine Meile von Ipcearn entfernt. Sie hatten auf dem gesamten Weg nicht einen Menschen getroffen, weder einen Waldläufer noch einen von Seshars Soldaten, aber Skar schob dies auf die Tatsache, daß Bernec den Wald kannte und die sicher vorhandenen Patrouillen umgangen hatte.
Sie stiegen ab, ließen ihre Tiere frei laufen und nahmen das letzte Stück des Weges zu Fuß in Angriff. Graue Dämmerung durchwob den Wald mit Schatten und verwirrenden Lichteffekten, und über dem Boden lag ein dünner, halbdurchsichtiger Nebelschleier, der das Geräusch ihrer Schritte dämpfte und die Unwirklichkeit des Augenblicks vertiefte.
Sie erreichten den Waldrand und blieben im Schutz der letzten Büsche stehen. Ipcearn lag wie ein grauer, abweisender Koloß vor ihnen, ein Titan, der sich auf einem Dutzend ungeheuerlicher Spinnenbeine hoch über dem Wald erstreckte und sie allein durch seine Größe zu verspotten schien. Es gab keine Möglichkeit, unentdeckt über die Lichtung zu gelangen. Der Wald war in jeder Richtung auf hundert Meter oder mehr abgeholzt worden, und Skar zweifelte keine Sekunde daran, daß Hunderte von mißtrauischen Augenpaaren jede noch so kleine Bewegung auf der Lichtung verfolgen würden. Aber es gab keinen anderen Weg. »Kommt«, murmelte er, »solange es noch nicht ganz hell ist. Vielleicht haben wir Glück, und sie sehen uns nicht.«
Er nickte Del aufmunternd zu und spurtete los, ohne auf eine Antwort zu warten. Es war jener Augenblick der Dämmerung, in der das Licht grau und unsicher ist und man fast weniger als in der Nacht sieht, und vielleicht hatten sie wirklich Glück und schafften es. Sie rannten in einer weit auseinandergezogenen Kette los und erreichten den schwarzen Schatten Ipcearns in weniger als einer halben Minute. Skar blieb keuchend stehen, lehnte sich gegen einen der mächtigen Baumstämme und lauschte angespannt. Über ihnen blieb alles ruhig.