»Sieht aus, als hätten wir Glück gehabt«, flüsterte Del. »Jetzt brauchen wir nur noch hinaufzukommen. Hat jemand vielleicht eine gute Idee dazu?«
Statt einer Antwort griff Coar unter ihren Mantel und nahm ein zusammengerolltes Tau mit einer dreizackigen Metallklaue hervor. Sie wickelte es sorgfältig ab, hielt das Ende mit den Widerhaken in der Hand und suchte nach einer passenden Stelle. Das Seil verwandelte sich in einen flirrenden Kreis und zischte, von einem mächtigen Schwung getragen, nach oben. Die stählerne Klaue prallte mit einem scheppernden Geräusch gegen den Baumstamm, rutschte ein Stück daran herunter und verkantete sich. Coar zerrte ein paarmal mit aller Kraft am Seil und begann dann mit geschickten Bewegungen den Baum zu erklimmen. Nacheinander stiegen sie auf den Baum. Die unteren zwanzig Meter des gewaltigen Stammes waren sorgfältig entastet und geglättet worden, aber hier, dicht unter der borkigen Unterseite Ipcearns, fanden ihre Hände und Füße genügend Halt, so daß sie ohne größere Schwierigkeiten weiterklettern konnten. Coar deutete schweigend auf das westliche Ende der gigantischen Plattform Ipcearns und hangelte sich rasch und sicher an den Bäumen entlang. Skar folgte ihr, wenn auch weit weniger elegant und leichtfüßig. Er vermied es, in die Tiefe zu sehen. Er hatte keine Angst vor großen Höhen, aber es war eine Sache, auf einen Baum zu steigen, und eine ganz andere, sich wie ein Affe von Ast zu Ast zu schwingen und darauf zu hoffen, daß er nicht plötzlich den Halt verlor oder die dünnen Zweige unter seinem Körpergewicht brachen.
Er war schweißgebadet, als sie endlich das Ende der Plattform erreicht hatten und über ihnen wieder ein Stück des Himmels sichtbar wurde. Es war taghell, und er begriff erst jetzt, wie lange sie sich unter der Festung aufgehalten haben mußten. Coar deutete nach oben und machte mit den Händen zupakkende, kletternde Bewegungen. Skar nickte. Es war besser, wenn sie jetzt nicht redeten.
Sie stiegen weiter. Die hölzerne Plattform, die das ungeheure Gewicht Ipcearns trug, erwies sich als längst nicht so massiv, wie Skar bisher geglaubt hatte. Über der untersten, aus nur einer einzigen Lage miteinander verbundener Baumstämme bestehenden Schicht erstreckte sich ein wahres Labyrinth von Pfeilern und Waben, Stützen und Trägern, die in scheinbar sinnlosem Durcheinander verspannt waren, so daß sie leichter und rascher weiterklettern konnten, als er gehofft hatte. Sie stiegen höher und erreichten eine zweite, fünf Meter über der ersten Ebene liegende Schicht massiver Stämme. Darüber erhob sich das eigentliche Ipcearn. Bernec deutete mit einer Kopfbewegung auf das überhängende Ende der Wand. »Darüber liegt ein Fenster«, sagte er im Flüsterton. »Wenn wir gleich dort einsteigen, gelangen wir in die Aufzugshalle.«
Skar überlegte. Seshars Gemächer lagen auf einer höhergelegenen Ebene, und die Aussicht, ungesehen durch die halbe Festung zu kommen, erschien ihm nicht sehr groß.
»Wie ist es weiter oben?« gab er ebenso leise zurück.
Bernec schüttelte den Kopf. »Unmöglich«, sagte er. »Zu viele Leute. Auf den Wehrgängen patrouillieren ununterbrochen Wachen, und jeder, der aus dem Wald kommt, muß uns sehen. Keine Chance«, fügte er überzeugt hinzu.
Skar zuckte resignierend die Achseln. »Na, dann los«, murmelte er ergeben. »Je länger wir hier warten, desto größer ist die Gefahr einer zufälligen Entdeckung. Wieviel Wachen sind dort oben?«
»Normalerweise zwei«, antwortete Bernec. »Aber es kann sein, daß sie sie verstärkt haben. Doch ich hoffe, daß sie nicht mit einem Angriff aus dieser Richtung rechnen.« Er stand vorsichtig auf, setzte den Fuß auf einen der fast meterstarken Querbalken und streckte die Finger nach dem überhängenden Ende der Plattform aus. Für einen Moment schwankte er bedrohlich, dann fand er festen Halt, zog die andere Hand nach und schwang sich mit einem entschlossenen Ruck nach außen. Seine Beine pendelten dreißig Meter über dem Boden. Bernecs Gesicht verzerrte sich vor Anstrengung. Er keuchte, zog sich in einer gewaltigen Kraftanstrengung nach oben und versuchte, das Knie auf der rettenden Kante abzustützen. Er rutschte ab, unterdrückte im letzten Moment einen verzweifelten Schrei und stemmte sich mit einer Kraft, die ihm nur die Angst verliehen haben konnte, in die Höhe.
Skar atmete hörbar auf, als Bernec aus ihrem Sichtfeld verschwand. Von oben erscholl eine rasche Folge polternder und scharrender Geräusche. Das Seil erschien über der Kante, pendelte einen Moment wild hin und her und kam mit einem Ruck zur Ruhe, als Del sich vorbeugte und danach griff.
»Hoffentlich kann er wenigstens einen vernünftigen Knoten machen«, murrte er. Er nahm Schwung, stieß sich wuchtig ab und sprang wie ein Trapezkünstler am Ende der Leine ins Nichts hinaus. Das Seil schwang wie ein überdimensionales Pendel nach außen, kam in einem perfekten Halbkreis zurück, und Del nutzte die Aufwärtsbewegung, um die Beine anzuziehen und sich mit einem eleganten Satz zu Bernec hinaufzukatapultieren. Skar und Coar folgten wenig später auf die gleiche Weise.
Der Sims, auf dem sie standen, war nur wenig breiter als zwei aneinandergelegte Hände. Der Wind traf sie hier oben ungeschützt und mit voller Wucht. Skar strauchelte, hielt sich hastig an der rauhen Außenseite der hölzernen Burg fest und blickte schaudernd in die Tiefe. Sie waren vielleicht dreißig Meter über dem Boden, aber es kam ihm höher vor, viel höher.
Er drehte sich vorsichtig um, suchte mit den Füßen nach festem Halt und wollte etwas sagen, aber Bernec legte hastig den Zeigefinger über den Mund und deutete mit einem warnenden Blick auf die schmale Fensteröffnung über seinem Kopf. Rötlicher Fackelschein, der im allmählich stärker werdenden Licht der aufgehenden Sonne kaum noch sichtbar war, drang aus dem Inneren der Festung, und als Skar einen Moment lang lauschte, glaubte er leises Stimmengemurmel zu hören. »Der Augenblick ist günstig«, flüsterte Bernec. »Die Wachablösung steht kurz bevor. Die Wachen dort drinnen haben eine lange Nacht hinter sich und müssen todmüde sein. Mit etwas Glück können wir sie überrumpeln.«
»Wann kommt die Ablösung?« fragte Skar im gleichen Ton.
»Bald«, antwortete Bernec nach einem kurzen Blick zum Himmel. »Aber wir haben Zeit genug. Eine Viertelstunde, vielleicht. Das muß reichen.«
Skar preßte sich eng an die Wand, hob vorsichtig die Arme über den Kopf und tastete nach dem Fenstersims. Sein Herz begann ein wenig schneller zu schlagen. Wenn in dem Raum auf der anderen Seite des Fensters Wachen waren und wenn sie zufällig zum Fenster sahen, während er hindurchstieg, dann war er für Sekunden hilflos. Er verscheuchte den Gedanken mit einem ärgerlichen Achselzucken, klammerte die Finger um den Sims und zog sich mit einem kraftvollen Ruck hinauf.
Der Raum dahinter war dunkel, nur von einer einzigen, bereits halb heruntergebrannten Fackel erleuchtet, und leer. Skar atmete lautlos auf, ließ sich nach vorne über die Brüstung kippen und kam mit einer unhörbaren Rolle wieder auf die Beine. Er blieb eine halbe Sekunde lang lauschend stehen, huschte dann auf Zehenspitzen durch den Raum und preßte sich dicht neben der halb offenstehenden Tür gegen die Wand. Hinter ihm stieg Del durch das Fenster, sah sich blitzschnell nach rechts und links um und winkte Coar und Bernec, ihnen zu folgen.
Skar ließ sich vorsichtig auf Hände und Knie sinken und versuchte, zwischen Türblatt und -rahmen hindurch in den angrenzenden Raum zu sehen. Er war nur wenig größer als das Zimmer, in dem sie waren, aber besser beleuchtet, und an der gegenüberliegenden Wand gab es gleich zwei Ausgänge, die mit schweren, hölzernen Türen verschlossen waren. Skar konnte drei Wächter erkennen, die an einem niedrigen, einfachen Tisch unweit der Tür saßen und leise miteinander redeten. Aber er konnte nur einen kleinen Teil des Raumes überblicken. Vielleicht hielten sich noch mehr Wachen darin auf. Seshar schien wirklich mit einem Angriff auf Ipcearn zu rechnen.