Er wies mit einer Kopfbewegung auf die Treppe. »Dort oben ist es«, sagte er. »Kommt.«
»Warte noch.« Del hielt ihn mit raschem Griff am Handgelenk zurück und sah sich mißtrauisch um. »Hinter dieser Tür liegen Seshars Räume?« fragte er.
Skar nickte. »Ja.«
»Das gefällt mir nicht«, murmelte Del. »Es sind keine Wachen da. Überhaupt nichts. Ich ... ich hatte schon die ganze Zeit über ein ungutes Gefühl. Es war zu leicht, bis hier vorzudringen.«
»Wäre es dir lieber gewesen, wenn wir angegriffen worden wären?« fragte Bernec verärgert.
»Beinahe ja«, antwortete Del ruhig. »Entweder euer König ist der leichtsinnigste Herrscher, dem ich jemals begegnet bin, oder das Ganze hier ist eine verdammte Falle.« Er zögerte einen Moment, trat ans Fenster und blickte über die Brüstung in den Innenhof hinab. »Du warst schon einmal hier«, fuhr er, an Skar gewandt, fort. »Waren damals auch keine Wachen hier postiert?«
Skar hatte sich über diese Frage bereits seit dem Moment, in dem sie den Raum betreten hatten, den Kopf zerbrochen, aber er kam zu keiner befriedigenden Antwort. Er erinnerte sich einfach nicht. »Ich bin mir nicht sicher«, antwortete er. »Ich glaube fast, es waren keine da, aber ich kann mich täuschen.« Er schlug den Umhang zurück, legte die Hand auf das Griffstück des Tschekal und zog die Waffe halb aus der Scheide. »Wenn es eine Falle ist, ist es sowieso zu spät, um noch umzukehren«, sagte er. »Wenn nicht - wir brauchen nur diese Tür zu öffnen, um es herauszubekommen.«
Er zog die Waffe vollends aus dem Gürtel, bedeutete Bernec und Coar mit einem warnenden Blick, zurückzubleiben und ging mit entschlossenen Schritten auf die Tür zu. Del folgte, zwei Schritte hinter und ein Stück neben ihm, bereit, ihm den Rücken zu decken.
Skar legte die Hand auf das Türblatt, drückte mit der anderen die Klinke herunter und spähte mißtrauisch durch den entstehenden Spalt. Der Raum dahinter war dunkel. Er hatte keine Fenster, wie er sich jetzt erinnerte. Seine Besorgnis wuchs. Einen besseren Ort für einen Hinterhalt konnte er sich kaum denken.
»Was ist?« flüsterte Del hinter ihm. »Siehst du irgend etwas?«
Skar schüttelte stumm den Kopf, wartete noch einen Sekundenbruchteil und öffnete die Tür dann mit einem entschlossenen Ruck. Ein dreieckiger Lichtstreifen fiel in den Raum, beleuchtete das kostbare Bodenmosaik und riß Teile der spartanischen Möblierung aus dem Dunkel. Skar lauschte angespannt. Aber der Raum schien tatsächlich leer zu sein.
»Kommt«, flüsterte er. Er duckte sich, hetzte mit zwei, drei schnellen Schritten durch die Kammer und preßte sich neben dem Durchgang auf der gegenüberliegenden Seite gegen die Wand. Del postierte sich auf der anderen Seite des schweren Vorhanges, während Coar und Bernec immer noch zurückblieben. Del runzelte die Stirn und machte mit übertriebener Mimik ein fragendes Gesicht. Skar zuckte die Achseln. Es gab nur einen einzigen Weg, um herauszubekommen, was hinter dem Vorhang auf sie wartete.
Er trat zurück, nahm einen halben Schritt Anlauf und setzte mit einem Hechtsprung durch den Eingang. Der Vorhang wurde krachend aus seiner Führung gerissen und flatterte zu Boden, während Skar bereits mit einer Rolle auf die Füße kam, das Schwert kampfbereit erhoben. Hinter ihm sprang Del durch den Eingang, drehte sich einmal um seine Achse und blieb verblüfft stehen. »Beeindruckend«, sagte Seshar ruhig. »Wirklich beeindrukkend. Ich möchte Männer wie euch nicht zum Feind haben, Satai.« Er saß auf einem hochlehnigen, geschnitzten Stuhl dicht neben dem Fenster, hatte die Hände vor der Brust verschränkt und betrachtete Skar und Del ohne das geringste Zeichen von Angst oder auch nur Überraschung.
Hinter Skars Stirn schien gleich ein ganzes Dutzend von Alarmgongs zu dröhnen. Eine Falle! dachte er mit einem Anflug von Panik. Er hat uns erwartet! Er hat ganz genau gewußt, daß wir kommen!Er duckte sich, setzte mit einem federnden Sprung durch den Raum und stieß die Klinge des Tschekal wuchtig durch den Vorhang des schweren Himmelbettes, das einzige Versteck im Raum, das groß genug war, mehr als einem Hund Deckung zu bieten.
Der Hieb ging ins Leere. Skar riß den Vorhang mit einer wütenden Bewegung vollends herunter und starrte eine halbe Sekunde lang verblüfft auf die leeren Decken und Kissen.
»Du bemühst dich umsonst«, sagte Seshar sanft. »Wir sind allein.«
Skar drehte sich ungläubig herum.
Seshar lächelte auf eine ruhige, beinahe zufriedene Art. »Es sind keine Soldaten da, Skar«, sagte er geduldig. »Nur ich.«
»Aber Ihr ...«
»Ich muß dir noch danken«, unterbrach ihn der König, »daß du die drei Männer im Wachzimmer nicht getötet hast. Jeder andere hätte es getan.«
»Ihr wißt davon?« keuchte Skar fassungslos. »Ihr ... habt die ganze Zeit gewußt, wo wir waren?«
Seshar nickte. »Schon, als ihr aus Went herausgeritten seid. Ich verfüge über Möglichkeiten, mich zu informieren, die dich in Erstaunen setzen würden. Aber ihr seid sicher nicht gekommen, um mit mir zu plaudern, nicht? Zumindest«, fuhr er mit erhobener Stimme fort, »was Coar und Bernec angeht.«- Er stemmte sich mühsam aus dem Sessel hoch und blickte zur Tür hinüber. »Kommt herein«, sagte er. »Ich bin ein alter Mann und kann nicht mehr so laut reden.«
Aus dem Nebenraum erklangen langsame, zögernde Schritte, dann erschien Bernec unter der Tür, dicht gefolgt von Coar. Er blieb eine halbe Sekunde stehen, stieß plötzlich einen gellenden Schrei aus und stürmte mit hoch erhobenem Schwert auf Seshar zu.
Skar vertrat ihm den Weg, schlug ihm die Waffe aus der Hand und stieß ihn grob zu Boden. Bernec fiel aufs Gesicht, stemmte sich mit einer überraschend geschmeidigen Bewegung wieder hoch und machte Anstalten, sich mit bloßen Händen auf den König zu stürzen. Diesmal versetzte Skar ihm einen Schlag in den Nacken, der ihn halb betäubt in die Knie brechen ließ.
»Narr«, sagte er wütend. »Glaubst du wirklich, wir wären auch nur lebendig in die Festung gekommen, wenn er es nicht gewollt hätte? Gib ihm wenigstens eine Chance.«
Seshar lächelte still. »Ich habe mich nicht in dir getäuscht«, sagte er.
»Verräter!« keuchte Bernec. »Du ... verdammter ... Verräter. Deshalb also hast du mich überredet, mit dir zu kommen. Aber das wird dir nichts nützen. Ihr könnt mich umbringen, aber dadurch wird alles nur noch schlimmer werden.«
»Du täuschst dich«, sagte Seshar sanft. »Skar hat dich nicht verraten. Er ist mit der gleichen Absicht hierhergekommen wie du.«
»Wenn ich dich hätte töten wollen, hätte ich das ein Dutzend Mal und leichter haben können«, bestätigte Skar ungerührt.
Bernec hob trotzig den Kopf. In seinen Augen flatterte ein unstetes, fanatisches Feuer. Seine Hände zuckten. »Dann laß mich«, schnappte er. »Laß mich los, damit ich dieses Ungeheuer töten kann!«
»Du bist sehr rasch mit dem Töten, nicht?« fragte Seshar. »Glaubst du wirklich, dadurch etwas ändern zu können?«
Bernec wollte erneut auffahren. Skar legte ihm die Hand auf die Schulter und drückte kurz und warnend zu. Bernec stöhnte und sank mit einem wimmernden Laut zurück.
»Laß mich dieses Ungeheuer umbringen!« keuchte er. »Er hat es verdient. Er hat uns belogen, uns und alle anderen.«
Skar schüttelte den Kopf. »Laß ihn reden, Bernec. Vielleicht töte ich ihn hinterher selbst, aber hör dir wenigstens an, was er zu sagen hat.«
»Lügen!« schrie Bernec. »Er wird uns nur weitere Lügen auftischen. So, wie er uns die ganze Zeit über belogen hat!«
Skars Geduld war nun endgültig erschöpft. Er riß Bernec grob auf die Füße, versetzte ihm eine schallende Ohrfeige und stieß ihn gegen die Wand. Bernec keuchte und hielt sich die brennende Wange. Seine Gesichtshaut begann sich zusehends rot zu färben.