»Laß ihn, Skar«, bat Seshar sanft. »Er hat unrecht, aber er weiß es nicht besser.« Er lächelte, betrachtete Bernec sekundenlang mit einem fast freundschaftlichen Blick und ließ sich wieder auf seinen Stuhl sinken. »Du glaubst, ich hasse dich«, begann er. »Du bist hierhergekommen, um mich zu töten, und nun nimmst du an, daß ich dich deswegen umbringen lasse, Bernec. Aber das stimmt nicht. Ich habe es schon einmal zu Skar gesagt, und ich sage es jetzt noch einmal zu dir: Du ähnelst mir mehr, als du glaubst. Viel von der Ungeduld und Wut, die in dir ist, war auch in mir, als ich so alt war wie du. Ich glaube, ich wäre fast ein bißchen enttäuscht gewesen, wenn du nicht versucht hättest, mich zu töten. Nach dem, was du erfahren hast - oder glaubst, erfahren zu haben -, mußt du mich hassen.«
»Warum?« keuchte Bernec. »Warum hast du das getan? Warum, Seshar? WARUM??!«
Seshar antwortete nicht sofort. Seine Hände verkrampften sich für einen Moment um die Lehnen seines Sessels, als wolle er sie zerbrechen. »Willst du die Antwort wirklich wissen?« fragte er. »Es könnte sein, daß sie dir nicht gefällt.«
Bernec lachte schrill. »Darauf kannst du Gift nehmen, du Ungeheuer!« Er machte einen Schritt in Seshars Richtung und blieb abrupt stehen, als Skar warnend die Hand hob.
»Du bist jung«, murmelte Seshar, »jung und ungeduldig, und du glaubst, deine Ziele nur noch mit Gewalt erreichen zu können. Aber das stimmt nicht. Ich weiß, daß du es im Moment noch nicht begreifst - noch nicht begreifen kannst -, aber irgendwann wirst du einsehen, daß Gewalt niemals zum Ziel führt.« Er schwieg für die Dauer von drei, vier Herzschlägen, und für einen kurzen Moment schienen seine Gedanken weit, weit weg zu sein. »Du hast nach dem Warum gefragt, Bernec, und ich werde dir deine Frage beantworten. Komm mit mir.« Er stand auf, winkte Bernec zu sich heran und ging mit schlurfenden Schritten zu dem Tisch hinüber, auf dem das Modell des Waldes aufgebaut war. Bernec starrte den Miniaturwald mit fragendem Gesichtsausdruck an.
»Darum habe ich es getan«, sagte Seshar. »Du hast mich gefragt, und dies ist die Antwort. Darum. Um all dies zu erhalten. Um die Menschen, die Cearn geschaffen haben, zu behüten und zu beschützen. Ich habe es getan, weil es der einzige Weg war, Cearn am Leben zu erhalten.«
»Am Leben?« krächzte Bernec. »In der Sklaverei, meinst du! Generation um Generation habt ihr getäuscht. Ihr habt ihnen vorgelogen, daß es keinen anderen Weg gibt, nach Urc zu gelangen, und ...«
»Du meinst den Fluß«, unterbrach ihn Seshar sanft.
Bernec lachte, aber es hörte sich eher wie ein hysterisches Kreischen an. »Erzähl mir jetzt nicht, daß er nicht nach Urc fließt!«
»Nein, gewiß nicht«, antwortete Seshar. »Die alten Legenden stimmen. Der Koth fließt tief unter der Nonakesh hindurch und mündet im Lande Urc. Ihr hättet ihn niemals finden dürfen.«
»Aber wir haben ihn gefunden.« Bernec ballte in hilflosem Zorn die Fäuste. »Du kannst mit mir machen, was du willst, Seshar, es ist zu spät. Das Volk von Cearn hat die Wahrheit erfahren.«
»Das habt ihr nicht!« fuhr Seshar, nun doch sichtlich verärgert, auf. »Ihr habt eine Höhle und einen unterirdischen Fluß gefunden, das ist alles. Und was wollt ihr nun mit eurem neu erworbenen Wissen anfangen?« Er schüttelte wütend den Kopf und schlug wuchtig mit der flachen Hand auf den Tisch. »Du bist zornig, Bernec, zornig und verzweifelt«, fuhr er im gleichen, scharfen Tonfall fort. »Aber das gibt dir nicht das Recht, alles zu zerstören, wofür dein Volk jahrhundertelang gekämpft und gelitten hat.«
Bernec reckte kampflustig das Kinn vor. »Rede ruhig«, sagte er leise. »Das kannst du ja. Reden! Lügen! Ich glaube dir kein Wort mehr, Seshar. Deine Zeit ist abgelaufen. Wir werden Ipcearn stürzen und hinaus in die Wüste gehen und die Höhlen erobern. Und dann werden wir nach Urc gehen. Du kannst uns nicht mehr aufhalten.«
Seshar schüttelte traurig den Kopf. »Nach Urc?« fragte er. »Du willst Urcöun sehen, Bernec? Dann komm - ich zeige es dir.«
Bernec schien für einen Moment sprachlos vor Verblüffung. »Du ... du willst ... was?« keuchte er.
»Wenn es wirklich dein Wunsch ist, so bringe ich dich nach Urcöun«, murmelte Seshar tonlos. »Doch ich warne dich noch einmal - es ist nicht immer gut, alles zu wissen.«
»Du bist verrückt!« keuchte Bernec. »Du bist verrückt, wenn du glaubst, daß ich mit dir gehe und mich dort draußen in der Wüste umbringen lasse!«
Auf Seshars Zügen erschien ein seltsam weicher, verzeihender Ausdruck. Er sah Bernec mit einem undefinierbaren Blick an, trat einen Schritt vom Tisch zurück und klatschte in die Hände.
In den vorher scheinbar fugenlosen Wänden entstanden plötzlich eine Reihe mannshoher, flacher Nischen, und ein Dutzend Soldaten, jeder mit einer schweren, gespannten Armbrust bewaffnet, trat in den Raum.
»Glaubst du wirklich, ich hätte das nötig?« fragte Seshar sanft.
Skar erstarrte. Er stand in Seshars Nähe, und vielleicht wäre es ihm gelungen, mit einem blitzschnellen Satz über den Tisch zu flanken und den alten König als Schutzschild an sich zu reißen - aber wahrscheinlicher war, daß er vorher von einem halben Dutzend Armbrustbolzen durchbohrt würde.
»Steckt eure Waffen weg«, verlangte Seshar ruhig. »Ihr braucht sie nicht.« Skar blickte verblüfft auf das Schwert in seiner Hand, dann auf die Soldaten. »Ihr könnt sie behalten«, bestätigte Seshar. »Aber steckt sie weg. Bitte.«
Skar zögerte noch eine halbe Sekunde und schob das Tschekal dann resignierend in die Scheide zurück. Del folgte seinem Beispiel und hob langsam die Hände. »Du siehst«, fuhr Seshar, an Bernec gewandt, fort, »daß ich es nicht nötig hätte, euch in eine Falle zu locken. Ich will dich nicht töten, Bernec, weder dich noch Coar oder die beiden Satai. Außer, ihr zwingt mich dazu.« Er drehte sich um, gab den Wachen einen Wink. »Ihr könnt gehen«, sagte er. »Ich brauche euch nicht mehr.«
Die Männer wandten sich stumm ab und verließen den Raum. Seshar wartete, bis sie allein waren, trat dann um den Tisch herum und legte Bernec die Hand auf die Schulter.
»Ich verlange nicht, daß du mir plötzlich vertraust«, sagte er. »Aber ich möchte dein Ehrenwort, daß du mit deiner Entscheidung wartest, bis wir in Urcöun waren. Wenn du mich hinterher immer noch töten und Ipcearn niederbrennen willst, so tu es.«
Bernec schlug seine Hand wütend beiseite. »Das ist doch nur wieder ein neuer Trick!« sagte er trotzig. Aber seine Stimme schwankte, und Skar spürte deutlich, daß sein Selbstvertrauen tief erschüttert war und er im Grunde nichts mehr als Verwirrung empfand.
»Und du, Skar?« fragte Seshar. »Glaubst du auch, daß es nur ein Trick ist?« Skar zuckte unschlüssig die Achseln. »So, wie die Dinge liegen, spielt es keine Rolle, was ich glaube«, antwortete er ausweichend. »Aber Ihr habt mich schon einmal belogen.«
»Ich weiß«, murmelte Seshar. »Und es tut mir leid. Hätte ich gewußt, wie alles kommen würde, hätte ich es nicht getan. Aber auch ein König macht Fehler.« Das ist Wahnsinn! dachte Skar ungläubig. Dieser Mann hat die Macht, uns mit einem Fingerschnippen zu vernichten! Und er bittet mich um Verzeihung!! »Wenn ... dein Angebot auch für uns gilt«, sagte er stockend, »so nehmen wir es an.«
»Und du, Coar?«
Coar nickte wortlos. Sie hatte noch keinen Laut von sich gegeben, seit sie den Raum betreten hatte, und selbst jetzt schien es ihr schwerzufallen, auf Seshars Frage zu reagieren.
»Jetzt liegt es an dir, Bernec«, sagte Seshar.
Bernec wand sich wie unter Schmerzen. »Ich ... ich weiß einfach nicht, was ich noch glauben soll«, sagte er schließlich. Von dem Haß und der Wut in seiner Stimme war nichts mehr geblieben. Er war jetzt nur noch ein großes, verängstigtes Kind, das zu begreifen begann, daß es einen schrecklichen Fehler begangen hat und sich mit aller Kraft gegen diesen Gedanken zu wehren versucht.