Seshar stieg vom Pferd und deutete auf einen kaum meterbreiten, sanft nach außen geneigten Sims, der neben dem Abgrund an der Felswand entlangführte und sich irgendwo im Dunkel verlor. »Von hier ab müssen wir laufen und die Pferde führen«, sagte er. »Aber es ist nicht mehr weit.«
Del verzog mißbilligend die Lippen. »Gibt es keinen anderen Weg?«
»Nein«, antwortete Seshar. »Keinen, der ungefährlicher wäre.«
Del seufzte und schwang sich mit einem fatalistischen Achselzucken aus dem Sattel. Er trat an Seshar vorbei, blinzelte in das schwarze, bodenlose Nichts vor ihnen hinunter und schüttelte abermals den Kopf. Aus der Tiefe drang ein machtvolles Rauschen und Gurgeln zu ihnen hinauf. »Der Fluß?«
Seshar nickte. »Ja. Ich sagte bereits, es ist nicht mehr weit. Aber ihr müßt vorsichtig sein. Wenn ihr einen Fehltritt macht, seid ihr rettungslos verloren. Und nun kommt.« Er wandte sich um, nahm sein Pferd bei den Zügeln und führte es unter beruhigendem Zureden auf den schmalen, feuchtglänzenden Sims hinaus. Das Tier scheute vor dem Abgrund zurück und schlug nervös mit den Hinterbeinen aus, so daß Del sich mit einem erschrockenen Satz in Sicherheit bringen mußte.
»Es wäre besser, die Pferde hier zurückzulassen«, sagte er. »Wenn es wirklich nicht mehr weit ist, können wir genausogut zu Fuß gehen.«
»Wir brauchen die Tiere für den Rückweg«, gab Seshar unwillig zurück. »Und nun kommt. Wir haben keine Zeit zu verlieren!«
Del schluckte die spöttische Antwort, die ihm auf den Lippen lag, hinunter und blickte ihm kopfschüttelnd nach. »Ich möchte wissen, wovor er Angst hat«, murmelte er.
Skar dachte an das körperlose, böse Etwas, das ihnen auf dem Weg hier herunter gefolgt war, und schwieg. Er griff nach dem Zaumzeug seines Pferdes, streichelte dem Tier sanft und beruhigend die Nüstern und machte sich daran, Seshar zu folgen.
Der Sims führte auf einer Länge von drei-, vierhundert Metern an der senkrechten Felswand entlang und wurde zum Fels hin so schmal, daß sie ihre Pferde nur noch durch ununterbrochenes Zureden und viel Geduld überhaupt zum Weitergehen bewegen konnten. Auch Skar fühlte eine immer stärker werdende Beklemmung. Der Stein war glitschig und naß, und eine winzige Unachtsamkeit konnte genügen, um abzustürzen. Die Flanke des Pferdes scheuerte hörbar an der rauhen Wand entlang. Das Tier stieß kleine, schmerzhafte Laute aus und versuchte immer wieder stehenzubleiben.
Es wurde dunkel. Der grüne Schimmer blieb hinter ihnen zurück. Die letzten fünfzig Schritte tastete sich Skar durch absolute Finsternis voran.
»Vorsichtig jetzt«, erklang Seshars Stimme vor ihm. »Das letzte Stück ist gefährlich!«
»Witzbold«, knurrte Del böse.
Skars tastender Fuß stieß plötzlich ins Leere, und für einen winzigen Moment durchzuckte ihn ein eisiger, tödlicher Schrecken.
»Spring«, sagte Seshar. »Es ist nicht weit. Ein halber Meter.«
Skar schloß die Augen, zählte in Gedanken bis zehn und stieß sich mit einer kräftigen Bewegung ab. Für den Bruchteil einer Sekunde hatte er das Gefühl, ins Nichts zu stürzen, dann prallte er hart auf den felsigen Untergrund auf. Sein Pferd folgte wenige Sekunden später mit einem ängstlichen Aufschrei.
»Wir sind in Sicherheit«, sagte Seshar erleichtert. Skar hatte das Gefühl, daß seine Worte nicht unbedingt der gefährlichen Klettertour über den Sims galten. Er tastete im Dunkel nach dem Zaumzeug des Pferdes. Das Tier tänzelte nervös auf der Stelle. Auf seiner Haut perlte der kalte, salzige Schweiß der Angst. Skar fuhr ihm beruhigend mit den Fingern durch die Mähne. »Wir hätten eine Fackel mitnehmen sollen«, murmelte er.
»Das ist nicht notwendig«, antwortete Seshar. »Weiter unten gibt es Licht. Von hier aus ist der Weg nicht mehr gefährlich. Wir können wieder reiten.« Skar hörte, wie Seshar sich irgendwo vor ihm in den Sattel schwang und nach dem metallbeschlagenen Zaumzeug griff. Skar zögerte einen Herzschlag lang, stieg dann ebenfalls auf und drängte sein Pferd in die Richtung, in der er Seshar vermutete. Hinter ihm sprang Del vom Sims herunter, prallte hörbar gegen ein Hindernis und fluchte ungehemmt. Irgend etwas klirrte, dann folgte ein Geräusch, als schlüge Fleisch gegen Stein. Ein Pferd wieherte schmerzhaft.
Sie warteten, bis Bernec und Coar ebenfalls bei ihnen angelangt waren, und ritten dann ohne Verzögerung weiter. Es war ein unheimliches, beängstigendes Gefühl, sich durch absolute Dunkelheit zu bewegen, ohne zu wissen, was rechts und links des Weges war. Skar versuchte, sich anhand der Geräusche, die sie verursachten, ein Bild von ihrer Umgebung zu machen, aber es erwies sich als unmöglich. Die Höhle hatte eine fremdartige, verwirrende Akustik, die ihn einmal glauben ließ, sich durch einen niedrigen Stollen zu bewegen, während sich das Echo ihrer Schritte Augenblicke später wieder irgendwo in der Unendlichkeit verlor oder plötzlich von einer nicht existierenden Wand genau vor ihnen zurückgeworfen wurde. Schließlich gab er auf.
Das Geräusch des Flusses wurde nun ständig lauter und steigerte sich schließlich zu einem gewaltigen Brüllen und Tosen, das nach und nach alle anderen Laute übertönte und eine Unterhaltung unmöglich werden ließ. Es wurde kalt, sehr kalt, und nach einer Weile ritten sie durch einen eisigen, feinen Sprühregen, der sie in wenigen Augenblicken bis auf die Haut durchnäßte. Der Fluß konnte nicht mehr weit sein.
Trotzdem schien es Skar, als wären Stunden vergangen, ehe die Dunkelheit endlich wich und vor ihnen der rötliche, flackernde Schein brennender Teerfackeln auftauchte.
»Wir sind da«, sagte Seshar. Er hielt an, stieg aus dem Sattel und führte sein Pferd die letzten Meter am Zügel. Skar sah jetzt, daß sie die ganze Zeit durch einen hohen, gewölbten Tunnel geritten waren. Der Boden war sonderbar eben und wirkte an vielen Stellen wie poliert, und entlang der Wände waren ... seltsame Dinge. Der trübe Schein der Fackeln reichte nicht weit genug in den Stollen hinein, um Einzelheiten erkennen zu können, aber es schien ihm, als entzöge sich das, was immer dort an den Felswänden war, auf geheimnisvolle Weise seinen Blicken. Es war jedenfalls kein Stein. Nichts, was er kannte.
Er wandte sich schaudernd ab und beeilte sich, hinter Seshar und Del den Tunnel zu verlassen. Vielleicht war es manchmal besser, nicht alles zu wissen.
Vor ihnen lag der Fluß. Das Licht reichte nicht aus, um sein gegenüberliegendes Ufer erkennen zu können, aber er mußte gewaltig sein. Der Fels unter seinen Füßen bebte, und das Wasser schoß mit so ungeheurer Geschwindigkeit vorüber, daß Skar keine einzelnen Wellen ausmachen konnte, sondern nur eine fließende, glitzernde Masse: Ein formloses schwarzes Ding schoß vorüber und verschwand in der Dunkelheit, ehe er erkennen konnte, was es war.
Del berührte ihn an der Schulter und deutete auf das Floß, das wenige Schritte flußabwärts auf dem Wasser schaukelte. »Dieser Irre glaubt doch wohl nicht, daß ich nur einen Fuß auf dieses Ding setze!« brüllte er über das Tosen der Wellen hinweg.
»Du wirst es müssen!« schrie Skar zurück. »Ich glaube kaum, daß du den Rückweg allein finden würdest!« Aber ihm war selbst nicht sehr wohl bei dem Gedanken, sich dem Fluß anzuvertrauen. Das Floß sah stabil aus - ein mehr als zehn Meter langes Rechteck aus drei Lagen sorgfältig übereinandergeschichteter Baumstämme -, aber die gewaltige Strömung würde es trotzdem wie ein Spielzeug hin und her werfen und am geringsten Hindernis zerbersten lassen. Er überlegte einen Moment, wie es Seshar wohl gelungen sein mochte, das Fahrzeug hier herunterzubringen, und schob den Gedanken dann mit einem Achselzucken beiseite. Nach allen Rätseln und Geheimnissen, auf die sie bisher gestoßen waren, interessierte ihn diese Frage kaum noch.