Zorn wallte jäh in Moridins Kopf auf, und schwarze Flecke tanzten vor seinen Augen, als er die Wahre Macht ergriff. Sich zu Schmerz steigernde Raserei toste in ihm. Seine Hand umfaßte die beiden Geistfallen, und die Wahre Macht schloß sich um den Fischer, riß ihn hoch und zermahlte ihn fast zu Pulver, zermahlte das Pulver beinahe zu Nichts. Der Becher barst in Moridins Hand. Er hätte beinahe auch den Coursouvra zerdrückt. Die Saa waren ein schwarzer Blizzard, aber sie behinderten seine Sicht nicht. Der Fischer war stets als Mann gearbeitet. Eine Augenbinde machte ihn blind, und er preßte eine Hand auf die Seite, wo einige Tropfen Blut durch seine Finger rannen. Die Gründe dafür, wie auch der Ursprung des Namens, waren im Dunst der Zeit verloren. Manchmal erzürnte es ihn, welches Wissen bei den Umdrehungen des Rades verlorenging, Wissen, das er brauchte, Wissen, auf das er ein Recht hatte. Ein Recht!
Er stellte den Fischer langsam wieder aufs Spielbrett zurück. Seine Finger lösten sich allmählich vom Cour'souvra. Die Vernichtung war noch nicht notwendig. Noch nicht. Eisige Ruhe ersetzte im Handumdrehen den Zorn. Blut und Wein tropften unbemerkt von seiner zerschnittenen Hand. Vielleicht kam der Fischer aus irgendeinem verschwommenen Erinnerungsrest Rand al'Thors, der Schatten eines Schattens. Es war unwichtig. Er bemerkte, daß er lachte, und bemühte sich nicht innezuhalten. Der Fischer stand noch abwartend auf dem Spielbrett, aber in dem größeren Spiel bewegte sich al'Thor bereits nach seinen Wünschen. Und bald... Es war sehr schwer, ein Spiel zu verlieren, wenn man beide Gegner führte. Moridin lachte so sehr, daß Tränen seine Wangen hinabliefen, aber er war sich ihrer nicht bewußt.
1
Den Vertrag einhalten
Das Rad der Zeit dreht sich, Zeitalter kommen und vergehen und hinterlassen Erinnerungen, die zu Legenden werden. Legenden verblassen zu Mythen, und selbst der Mythos ist schon lange vergessen, wenn das Zeitalter, das ihn geboren hat, wiederkehrt. In einem Zeitalter, das von einigen das Dritte Zeitalter genannt wird, ein Zeitalter, das noch kommen wird und ein lange vergangenes Zeitalter, erhob sich ein Wind über der großen, gebirgigen Insel Tremalking. Der Wind war nicht der Anfang. Es gibt weder einen Anfang noch ein Ende bei der Drehung des Rades der Zeit. Aber es war ein Anfang.
Der Wind wehte von Osten über Tremalking, wo die hellhäutigen Amayar ihre Felder bestellten, edles Glas und Porzellan verfertigten und dem friedlichen Wasserweg folgten. Die Amayar beachteten die Welt jenseits der weit verstreuten Inseln nicht, weil der Wasserweg lehrte, daß diese Welt nur eine Illusion war, ein gespiegeltes Bild des Glaubens, und doch beobachteten einige, wie der Wind Staub und schwüle Sommerhitze herantrug, wo kalter Winterregen fallen sollte, und sie erinnerten sich an Geschichten, die sie von den Atha'an Miere gehört hatten. Geschichten von der jenseitigen Welt und was die Prophezeiung verkündete. Einige schauten zu einem Berg, wo eine wuchtige Felshand aus der Erde ragte, die eine klare Kristallkugel hielt, größer als viele Häuser. Die Amayar hatten ihre eigenen Prophezeiungen, und einige davon sprachen von der Hand und der Kugel. Und vom Ende der Illusionen.
Der Wind blies ostwärts ins Meer der Stürme, unter einer sengenden Sonne an einem wolkenlosen Himmel, peitschte die Kämme grüner Meereswogen, tosende Winde von Süden und Westen, verheerend und wild, während das Wasser anstieg. Es waren noch nicht die Stürme, die im tiefsten Winter hereinbrachen, obwohl der Winter bereits halbwegs vorüber sein sollte, und auch nicht die noch stärkeren Stürme eines vergehenden Sommers, sondern Winde und Strömungen, die vom seefahrenden Volk genutzt wurden, um den Kontinent an der Küste entlang vom Ende der Welt bis Mayene und darüber hinaus und auch wieder zurück zu umfahren. Der Wind heulte ostwärts, über das wogende Meer, wo die großen Wale aufstiegen und sangen und fliegende Fische auf ausgestreckten Flossen von zwei und mehr Schritt Spannweite zu sehen waren, ostwärts und nordwärts wirbelnd, über kleine Flotten von Fischerbooten hinweg, die ihre Netze durch flachere Gewässer zogen. Einige jener Fischer standen mit offenem Mund da, die Hände müßig auf den Seilen ruhend, und betrachteten das gewaltige Aufgebot von großen und kleineren Schiffen, die zielbewußt hart vor dem Wind fuhren und die Wogen mit ihrem breiten Bug brachen oder sie mit schmaleren durchschnitten, ihr Banner ein goldener Falke mit einem Blitz in den Klauen, eine Vielfalt wehender Banner wie Vorzeichen des Sturms. Ostwärts und nordwärts und weiter, bis der Wind den weiten, von Schiffen bevölkerten Hafen Ebou Dars erreichte, in dem wie in vielen anderen Häfen Hunderte von Meervolk-Schiffen lagen und auf Nachricht des Coramoor, des Auserwählten, warteten.
Der Wind heulte über den Hafen, erschütterte kleine und große Schiffe, fegte über die Stadt selbst, die unter der gleißenden Sonne weiß leuchtete, über Erker und Mauern und Kuppeln hinweg und durch die von den berühmten Gewerben des Südens geschäftigen Straßen und Kanäle. Der Wind wirbelte rund um die schimmernden Kuppeln und die schlanken Türme des Tarasin-Palasts, trug den Geruch von Salz heran, erfaßte die Flagge von Altara, zwei goldene Leoparden auf rotblauem Feld, und die Banner des regierenden Hauses Mitsobar, das Schwert und der Anker, Grün auf Weiß. Noch nicht der Sturm, aber ein Vorbote von Stürmen.
Aviendha verspürte ein Kribbeln zwischen den Schulterblättern, als sie vor ihren Begleitern her durch die in Dutzenden freundlich heller Schattierungen gefliesten Gänge des Palasts schritt. Ein Gefühl, beobachtet zu werden, das sie zuletzt empfunden hatte, als sie noch mit dem Speer verbunden war.
Einbildung, sagte sie sich. Einbildung und das Wissen, daß Feinde in der Nähe sind, denen ich nicht die Stirn bieten kann! Vor noch gar nicht allzu langer Zeit hatte dieses Kribbeln bedeutet, daß jemand sie vielleicht zu töten beabsichtigte. Der Tod war nichts, was man fürchten mußte — jedermann starb, heute oder an einem anderen Tag —, aber sie wollte nicht wie ein in der Falle gefangenes Kaninchen sterben. Sie mußte ihrem Toh begegnen.
Diener hasteten dicht an den Wänden vorüber, verbeugten sich, vollführten Hofknickse und senkten die Blicke, fast als verstünden sie das Beschämende ihrer Lebensführung, obwohl gewiß nicht sie die Ursache dafür sein konnten, daß Aviendha am liebsten mit den Achseln gezuckt hätte. Sie hatte sich Mühe gegeben, Diener anzusehen, aber selbst jetzt, wo die Haut zwischen ihren Schulterblättern kribbelte, wich ihr Blick ihnen noch aus. Es mußte Einbildung sein — und die Nerven. Dies war ein Tag für Einbildungen und schlechte Nerven.
Die üppigen Seidentapeten wie auch die vergoldeten Lampen und Kandelaber, welche die Gänge säumten, zogen ihren Blick an. Hauchdünnes Porzellan in Rot-, Gelb-, Grün- und Blautönen stand in Wandnischen und hohen, durchbrochenen Schränken, Seite an Seite mit Gold- und Silberschmiedearbeiten sowie Elfenbein und Kristall, eine Vielzahl von Schalen und Vasen und Schatullen und Statuetten. Nur die Wunderschönsten zogen ihren Blick wirklich an. Was auch immer Feuchtländer glaubten — Schönheit war mehr wert als Gold. Hier war so viel Schönes zu sehen. Sie hätte nichts dagegen gehabt, am Fünften dieses Ortes beteiligt zu werden.
Verärgert über sich selbst runzelte sie die Stirn. Das war kein ehrenhafter Gedanke unter einem Dach, das ihr bereitwillig Schatten und Wasser gespendet hatte. Zugegebenermaßen unzeremoniell, aber auch ohne Schuld oder Blut Stahl oder Not. Aber immer noch besser das, als über einen kleinen Jungen nachdenken zu müssen, der irgendwo dort draußen in dieser ruchlosen Stadt allein unterwegs war. Jede Stadt war ruchlos — dessen war sie sich inzwischen sicher, nachdem sie vier Städte kennengelernt hatte —, aber Ebou Dar war die letzte Stadt, in der sie ein Kind hätte allein herumlaufen lassen. Sie konnte nicht verstehen, warum die Gedanken an Olver kamen, wenn sie sich nicht bemühte, sie zu verdrängen. Er war kein Teil des Toh, das sie Elayne und Rand al'Thor gegenüber verpflichtete. Ein Shaido-Speer hatte ihm den Vater genommen und Hunger und Not die Mutter, aber selbst wenn es ihr eigener Speer gewesen wäre, der beide genommen hätte, war der Junge noch immer ein Cairhiener, ein Baummörder. Warum sollte sie sich wegen eines Kindes dieser Abstammung quälen? Warum? Sie versuchte, sich auf das zu gestaltende Gewebe zu konzentrieren, aber obwohl sie unter Elaynes Aufsicht geübt hatte, bis sie es im Schlaf hätte gestalten können, drängte sich Olvers Gesicht mit dem breiten Mund dazwischen. Birgitte sorgte sich noch mehr um ihn als sie selbst, aber in Birgittes Brust schlug ein ohnehin eigenartig weiches Herz für kleine — und besonders garstige —Jungen.