»Was ist in dich gefahren, Aviendha?« fragte Nynaeve und stieß sie mit einem durchgedrückten Finger an. »Willst du den ganzen Tag mit geröteten Wangen dastehen? Wir sind in Eile.«
Erst jetzt erkannte Aviendha an der Hitze ihres Gesichts, daß sie ebenso errötet sein mußte wie Elayne. Außerdem stand sie stocksteif da, obwohl sie sich beeilen mußten. Von Worten getroffen — wie ein frisch mit dem Speer verheiratetes Mädchen, das die Neckerei unter den Töchtern des Speers — nicht gewohnt ist. Sie war es bereits seit fast zwanzig Jahren gewohnt und benahm sich wie ein Kind, das mit seinem ersten Bogen spielt. Dieser Gedanke ließ sie noch stärker erröten. Was der Grund dafür war, daß sie die nächste Biegung zu hastig nahm und beinahe mit Teslyn Baradon zusammengestoßen wäre.
Aviendha glitt auf den rotgrünen Bodenfliesen aus und hielt sich nur an Elayne und Nynaeve aufrecht. Dieses Mal gelang es ihr, nicht zutiefst zu erröten, aber sie hätte es gern getan. Sie beschämte ihre Nächstschwester ebenso wie sich selbst. Elayne bewahrte stets Haltung, egal was geschah. Glücklicherweise verkraftete Teslyn Baradon das Zusammentreffen kaum besser.
Die Frau mit dem scharfgeschnittenen Gesicht schrak zurück, keuchte wider Willen und straffte dann verärgert die schmalen Schultern. Die hageren Wangen und die schmale Nase verbargen die Alterslosigkeit der Züge der Roten Schwester, und ihr rotes, mit dunkelblauem, fast schwarzem Brokat besetztes Gewand ließ sie nur noch knochiger erscheinen, obwohl sie schnell wieder die Selbstbeherrschung der Dachherrin eines Clans annahm, die dunkelbraunen Augen so kühl wie tiefe Schatten. Sie glitt mißbilligend an Aviendha vorbei, würdigte Lan keines Blickes und funkelte Birgitte einen Moment an. Den meisten Aes Sedai mißfiel, daß Birgitte eine Behüterin war, obwohl niemand einen anderen Grund dafür nennen konnte, als etwas über Traditionen zu murren, Elayne und Nynaeve jedoch sah sie nacheinander forschend an. Aviendha hatte eher dem gestrigen Wind nachspüren als etwas auf Teslyn Baradons Gesicht lesen können.
»Ich habe es Merilille bereits gesagt«, äußerte sie in breitem illianischem Akzent, »aber ich kann Euch ebensogut auch beruhigen. Welches ... Mißgeschick ... auch immer Ihr begehen werdet — Joline und ich mischen uns nicht ein. Dafür habe ich gesorgt. Elaida muß niemals davon erfahren, wenn Ihr vorsichtig seid. Hört auf, mich wie Karpfen anzustarren, Kinder«, fügte sie mit angewidertem Gesichtsausdruck hinzu. »Ich bin weder blind noch taub. Ich weiß, daß sich Windsucherinnen des Meervolks im Palast aufhalten und geheime Treffen mit Königin Tylin stattfinden. Wie auch andere Dinge.« Sie preßte die schmalen Lippen zusammen, und obwohl ihr Tonfall ruhig blieb, flammte ihr dunkler Blick vor Zorn. »Für jene anderen Dinge werdet Ihr jedoch bitter bezahlen müssen, Ihr und jene, die Euch erlauben, Aes Sedai zu spielen, aber im Moment werde ich darüber hinwegsehen. Sühne kann warten.«
Nynaeve zog fest an ihrem Zopf, den Rücken starr aufgerichtet, den Kopf hoch erhoben, und ihre Augen loderten. Unter anderen Umständen hätte Aviendha vielleicht Mitleid mit dem Opfer von Nynaeves Spitzzüngigkeit empfunden, die eindeutig bald explodieren würde. Nynaeves Zunge besaß mehr und schärfere Nadeln als ein Segade-Kaktus. Aviendha dachte emotionslos über diese Frau nach, die glaubte, sie könne durch sie hindurchsehen. Eine Weise Frau ließ sich nicht dazu herab, jemanden mit Fäusten zu traktieren, aber sie war noch ein Neuling. Vielleicht würde es nicht ihr Ji kosten, wenn sie Teslyn Baradon nur ein wenig verletzte. Sie öffnete im selben Moment den Mund, um der Roten Schwester Gelegenheit zur Verteidigung zu geben, als Nynaeve den Mund öffnete, aber Elayne sprach als erste.
»Was wir vorhaben, Teslyn«, sagte sie mit eisiger Stimme, »geht Euch nichts an.« Auch sie stand starr aufrecht, ihre blauen Augen funkelten kalt. Ein zufälliger Lichtstrahl von einem hohen Fenster fing sich in ihren rotgoldenen Locken und schien sie zu entflammen. In diesem Moment hätte Elayne eine Dachherrin wie eine Ziegenhirtin mit zuviel Oosquai im Bauch erscheinen lassen können. Es war eine gut geschulte Fähigkeit. Sie äußerte jedes Wort mit kristallkalter Würde. »Ihr habt kein Recht, Euch in unsere Belange einzumischen, in irgend etwas, was irgendeine Schwester tut. Überhaupt kein Recht. Also nehmt Eure Nase aus unseren Jacken, Ihr Stümperin, und seid froh, daß wir nicht mit Euch uneins über die Unterstützung eines Eindringlings auf dem Amyrlin- Sitz sind.«
Aviendha schaute verwirrt zu ihrer Nächstschwester. Ihre Nase aus ihren Jacken nehmen? Zumindest sie und Elayne trugen keine Jacken. Eine Stümperin? Was sollte das bedeuten? Feuchtländer sagten oft merkwürdige Dinge, und die anderen Frauen schienen alle ebenso verwirrt wie sie. Nur Lan, der Elayne fragend ansah, schien zu verstehen, und er musterte sie ... erstaunt. Und vielleicht belustigt. Es war schwer zu sagen. Aan'allein hatte seine Züge gut unter Kontrolle.
Teslyn Baradon schnaubte und kniff die Lippen noch fester zusammen. Aviendha bemühte sich sehr, diese Menschen nur mit einem Teil ihres Namens anzusprechen, so wie sie es auch taten — wenn sie einen vollständigen Namen benutzte, glaubten sie, sie sei aufgebracht! —› aber sie konnte sich nicht vorstellen, mit Teslyn Baradon so vertraut umzugehen. »Ich werde Euch törichte Kinder Euch selbst überlassen«, grollte die Frau. »Versichert Euch, daß Ihr Eure Nasen nicht mehr gefährdet, als dies bereits der Fall ist.«
Als sie würdevoll ihre Röcke raffte und sich zum Gehen wandte, ergriff Nynaeve ihren Arm. Feuchtländer zeigten ihre Empfindungen offen, und Nynaeve war ein Abbild des Konflikts, während Zorn die feste Entschlossenheit zu durchbrechen versuchte. »Wartet, Teslyn«, sagte sie widerwillig. »Ihr und Joline seid möglicherweise in Gefahr. Ich habe es Tylin gesagt, aber ich denke, sie fürchtet sich vielleicht, es sonst jemandem zu sagen. Zumindest tut sie es nicht gern. Niemand spricht darüber wirklich unbefangen.« Sie atmete tief durch, und wenn sie in diesem Augenblick an ihre eigenen Ängste dachte, hatte sie auch allen Grund dazu. Es war keine Schande, Angst zu empfinden, nur ihr nachzugeben oder sie zu zeigen. Aviendha spürte ein Flattern in der Magengrube, während Nynaeve fortfuhr. »Moghedien war hier in Ebou Dar. Sie könnte noch immer in der Stadt sein. Und vielleicht auch andere Verlorene. Mit einem Gholam, einem Schattengezücht, dem die Macht nichts anhaben kann. Er sieht aus wie ein Mensch, wurde aber dazu erschaffen, Aes Sedai zu töten. Auch Stahl scheint ihn nicht zu verletzen, und er kann sich sogar durch ein Mauseloch zwängen. Die Schwarze Ajah befindet sich ebenfalls hier. Zudem kommt ein Sturm auf, ein schlimmer Sturm, Nur daß es kein wirklicher Sturm ist, jedenfalls kein wetterbedingter Sturm. Ich kann ihn spüren. Das ist eine Fähigkeit, die ich besitze, vielleicht ein Talent. Ebou Dar droht Gefahr und schlimmeres Ungemach, als Wind oder Regen oder Blitze sonst darstellen.«
»Ich habe niemals zuvor von den Verlorenen, einem Sturm, der kein Sturm ist, und irgendwelchem Schattengezücht gehört«, sagte Teslyn Baradon angespannt. »Ganz zu schweigen von der Schwarzen Ajah, Licht! Die Schwarze Ajah! Und vielleicht auch noch der Dunkle König selbst?« Sie lächelte spöttisch und pflückte verächtlich Nynaeves Hand von ihrem Ärmel. »Wenn Ihr wieder in der Weißen Burg seid, wo Ihr hingehört, in Weiß, das Euch wahrhaftig allen gebührt, werdet Ihr lernen, Eure Zeit nicht mehr mit Hirngespinsten zu vergeuden. Und Eure Geschichten nicht Schwestern zuzutragen.« Sie sah sie alle an, wobei sie Aviendha erneut ausließ, schnaubte geräuschvoll und marschierte dann so energisch den Gang hinab, daß die Diener ihr aus dem Weg springen mußten.