»Diese Frau besitzt die Unverfrorenheit...!« platzte Nynaeve heraus, während sie der davoneilenden Frau nachblickte und mit beiden Händen ihren Zopf traktierte. »Nachdem ich mich dazu gezwungen habe...!« Sie erstickte fast an ihrer Wut. »Nun, ich habe es versucht.« Was sie, ihrer Stimme nach zu urteilen, jetzt zutiefst bedauerte.
»Das hast du«, bestätigte Elayne mit nachdrücklichem Nicken, »und mehr, als sie verdient. Zu leugnen, daß wir Aes Sedai sind! Ich werde das nicht mehr dulden! Bestimmt nicht!« Ihre Stimme hatte vorher nur kalt geklungen. Jetzt war sie kalt und grimmig.
»Kann man solch einem Menschen trauen?« murrte Aviendha. »Vielleicht sollten wir dafür Sorge tragen, daß sie sich nicht einmischen kann.« Sie betrachtete ihre Faust. Teslyn Baradon würde sie zu sehen bekommen. Die Frau verdiente es, von den Schattenseelen, Moghedien oder anderen, erwischt zu werden. Narren verdienten, was immer ihnen ihre Torheit einbrachte.
Nynaeve überdachte den Vorschlag anscheinend, aber sie sagte nur: »Wenn ich es nicht besser wüßte, würde ich glauben, sie sei bereit, sich gegen Elaida zu wenden.« Sie schnalzte verärgert mit der Zunge.
»Man kann daran verzweifeln, wenn man versuchen will, die politischen Strömungen der Aes Sedai zu ergründen.« Elayne sagte nicht, daß Nynaeve das inzwischen wissen müßte, aber ihr Tonfall drückte genau das aus. »Selbst eine Rote könnte sich aus einem unbestimmten Grund, den wir nicht erahnen, gegen Elaida wenden. Oder sie könnte uns dazu bewegen wollen, in unserer Wachsamkeit nachzulassen, damit sie uns durch irgendeine List veranlassen kann, uns in Elaidas Hände zu begeben, oder...«
Lan räusperte sich. »Wenn einer der Verlorenen kommt«, sagte er mit vollkommen glatter Stimme, »könnte er jeden Moment hier eintreffen. Oder dieser Gholam könnte hierherkommen. In beiden Fällen wäre es ratsam, sich woanders aufzuhalten.«
»Mit Aes Sedai muß man stets ein wenig Geduld üben«, murrte Birgitte, als zitiere sie ein Sprichwort. »Aber die Windsucherinnen haben anscheinend keine Geduld«, fuhr sie fort, »so daß es vielleicht besser wäre, Teslyn zu vergessen und sich an Renaile zu erinnern.«
Elayne und Nynaeve sahen die Behüter mit eisigem Blick an. Sie liefen nicht gern vor den Schattenseelen und diesem Gholam davon, auch wenn sie diejenigen waren, die beschlossen hatten, daß ihnen keine andere Wahl blieb. Und sicherlich wurden sie auch nicht gern daran erinnert, daß sie fast ebenso dringend die Windsucherinnen finden wie den Verlorenen entkommen mußten. Aviendha wollte jene Blicke genauer betrachten — Weisen Frauen genügte ein Blick oder wenige Worte, wofür sie stets die Bedrohung durch einen Speer oder eine Faust gebraucht hatte, und sie taten es üblicherweise schneller und erfolgreicher —, nur daß Elaynes und Nynaeves Blicke absolut keine sichtbare Wirkung auf die beiden hatten. Birgitte grinste und schaute zu Lan, der nachsichtig mit den Achseln zuckte.
Elayne und Nynaeve gaben auf. Sie richteten gemächlich und unnötigerweise ihre Röcke und ergriffen je einen Arm Aviendhas, bevor sie weitergingen, ohne sich auch nur mit einem Blick zu versichern, ob die Behüter ihnen folgten. Nicht daß Elayne es durch den Bund hätte tun müssen. Oder Nynaeve, wenn auch nicht aus demselben Grund. Aan'allein war vielleicht mit jemand anderem verbunden, aber sein Ring hing an dieser Kette um ihren Hals. Sie bemühten sich sehr, gemächlich vorwärts zu schlendern, wollten Birgitte und Lan nicht glauben machen, sie würden sich zur Eile antreiben lassen, aber tatsächlich gingen sie schneller als zuvor.
Wie um davon abzulenken, schwatzten sie eifrig über die nichtigsten Themen. Elayne bedauerte es, keine Gelegenheit gehabt zu haben, das Vogelfest vor zwei Tagen wirklich mitzuerleben. Sie war nicht einmal wegen der spärlichen Bekleidung errötet, welche viele Leute getragen hatten. Nynaeve war ebenfalls nicht errötet, aber sie begann jetzt eilig über das Fest der glühenden Kohlen zu sprechen, das heute nacht stattfinden sollte. Einige der Diener behaupteten, es gäbe ein Feuerwerk. Mehrere Wanderzirkusse mit seltenen Tieren und Akrobaten waren in der Stadt eingetroffen, die sowohl Elayne als auch Nynaeve interessierten, da sie einige Zeit bei solchen Zirkussen verbracht hatten. Sie sprachen über Näherinnen und die Vielzahl von in Ebou Dar erhältlicher Spitze sowie die verschiedenen Qualitäten von Seide und Leinen, die man kaufen konnte, und Aviendha genoß die Bemerkungen darüber, wie gut ihr das graue Seidenreitgewand und die anderen Kleidungsstücke aus edlem Tuch und Seidenstoffen standen, die Tylin Quintara ihr geschenkt hatte, wie auch die dazu passenden Strümpfe und Kleider zum Wechseln und den Schmuck. Elayne und Nynaeve hatten ebenfalls verschwenderische Geschenke erhalten. Insgesamt füllten ihre Geschenke eine Anzahl Kisten und Bündel, die zusammen mit ihren Satteltaschen von den Dienern zu den Ställen hinabgetragen worden waren.
»Warum blickst du so finster drein, Aviendha?« fragte Elayne, tätschelte deren Arm und lächelte ihr zu. »Sorge dich nicht. Du kennst das Gewebe. Du wirst es hervorragend machen.«
Nynaeve beugte sich gleichfalls zu ihr und flüsterte: »Ich werde dir einen Tee zubereiten, wenn ich die Gelegenheit dazu habe. Ich kenne mehrere Teesorten, die deinen Magen beruhigen werden, und auch jegliche andere Sorgen einer Frau.« Sie tätschelte Aviendhas Arm ebenfalls.
Sie verstanden nicht. Keine tröstenden Worte oder Tees konnten heilen, was sie plagte. Sie genoß Gespräche über Spitze und Stickerei! Sie wußte nicht, ob sie angewidert murren oder verzweifelt aufheulen sollte. Sie verweichlichte. Sie hatte niemals zuvor in ihrem Leben das Kleid einer Frau unter einem anderen Aspekt betrachtet als dem, wo sich darin vielleicht eine Waffe verbarg, niemals aber, um die Farbe oder den Schnitt zu bewundern oder darüber nachzudenken, wie es ihr stehen würde. Es war höchste Zeit, diese Stadt zu verlassen und aus den FeuchtländerPalästen herauszugelangen. Sie würde bald noch einfältig zu lächeln beginnen. Sie hatte Elayne und Nynaeve dies nie tun sehen, aber jedermann wußte, daß Feuchtländer-Frauen einfältig lächelten. Arm in Arm dahinzuschlendern und über Spitze zu plaudern! Wie sollte sie ihren Gürteldolch erreichen, wenn jemand sie angriff? Ein Dolch war gegen die bedrohlichsten Angreifer vielleicht nutzlos, aber sie hatte schon Vertrauen in Stahl gehabt, als sie noch nicht wußte, daß sie die Macht lenken konnte. Sollte jemand Elayne oder Nynaeve zu verletzen versuchen —besonders Elayne, aber sie hatte Mat Cauthon versprochen, sie beide ebenso sicher zu beschützen, wie Birgitte und Aan'allein es getan hatten —, sollte es also jemand versuchen, würde sie Stahl in deren Herzen pflanzen! Während sie vorangingen, beklagte sie ihre Verweichlichung insgeheim weiterhin.
Hohe Doppeltore reihten sich an drei Seiten des größten Stallhofs des Palasts; die Eingänge waren von Dienern in grünweißer Livree bevölkert. In den weißen, aus Stein erbauten Ställen hinter ihnen warteten gesattelte oder mit Weidenkörben beladene Pferde. Meeresvögel kreisten und schrien über ihnen, eine unerfreuliche Erinnerung daran, wieviel Wasser sich in der Nähe befand. Hitze strahlte von den hellen Pflastersteinen ab, und die Luft war schwer vor Anspannung. Aviendha hatte schon Blutvergießen gesehen, wo weniger Anspannung geherrscht hatte.
Renaile din Calon, gekleidet in roter und gelber Seide, die Arme überheblich unter den Brüsten verschränkt, stand vor neunzehn weiteren barfüßigen Frauen mit tätowierten Händen und bunten Blusen, die meisten mit ebenso bunten Hosen und Schärpen. Der auf ihren dunklen Gesichtern glänzende Schweiß tat ihrer ernsten Würde keinen Abbruch. Einige schnupperten an durchbrochenen Golddosen, die um ihren Hals hingen und mit einem schweren Duft gefüllt waren. Renaile din Calon trug fünf breite goldene Ohrringe, und an einer Kette, die von einem dieser Ringe über die linke Wange bis zur Nase verlief, hingen Medaillons. Jede der drei dicht hinter ihr befindlichen Frauen trug acht Ohrringe und nur geringfügig weniger Medaillons. So kennzeichnete das Meervolk untereinander die Ränge, zumindest bei den Frauen. Alle beugten sich Renaile din Calon, der Windsucherin der Herrin der Schiffe der Atha'an Miere, aber selbst die beiden Neulinge im Hintergrund in ihren dunklen Hosen und leinenen anstatt seidenen Blusen trugen eigenes Gold. Als Aviendha und die übrigen erschienen, schaute Renaile din Calon betont zur Sonne, die den Zenit bereits überschritten hatte. Sie wölbte die Augenbrauen, während sie ihren Blick dann auf sie richtete, die Augen so schwarz wie ihr von einer weißen Strähne gezeichnetes Haar, ein fordernder Blick voller Ungeduld, der herrisch wirkte.