»Die Schwestern sollten sie jetzt übernehmen.« Reannes hohe Stimme klang so unsicher, daß sie der von Kirstian abgeschirmten Schwarzen Schwester hätte gehören können. »Nynaeve Sedai, wir ... wir sollten nicht bewach ... ehm ... unter den Augen ... einer Aes Sedai.«
»Das ist richtig«, warf Sumeko schnell und beinahe ängstlich ein. »Die Aes Sedai sollten sie jetzt übernehmen.« Sibella wiederholte ihre Worte, und Nicken und zustimmendes Murmeln lief durch die Schwesternschaft. Sie glaubten zutiefst, weit unter den Aes Sedai zu stehen, und hätten es höchstwahrscheinlich vorgezogen, Trollocs zu bewachen, statt eine Aes Sedai festhalten zu müssen.
Die mißbilligenden Blicke von Merilille und den anderen Schwestern wandelten sich, als Ispan Shefars Gesicht enthüllt wurde. Sareitha Tomares, die ihre mit braunen Fransen versehene Stola erst wenige Jahre trug und noch nicht die alterslose Erscheinung besaß, starrte die Schattenläuferin höchst angewidert an. Adeleas und Vandene, die Hände in die Röcke verkrampft, schienen mit dem Haß gegenüber der Frau zu kämpfen, die ihre Schwester gewesen war und sie verraten hatte. Und doch sahen sie den Frauenzirkel nicht wesentlich freundlicher an. Auch sie wußten in ihren Herzen, daß die Schwesternschaft weit unter ihnen stand. Aber die Verräterin war eine von ihnen gewesen, und niemand außer ihnen hatte das Recht, sie zu richten. Aviendha stimmte zu. Eine Tochter des Speers, die ihre Speerschwestern verriet, starb weder schnell noch ehrenvoll.
Nynaeve zog den Sack nachdrücklich wieder über Ispan Shefars Kopf. »Ihr habt sie bisher gut bewacht, und Ihr werdet sie weiterhin gut bewachen«, belehrte sie die Schwesternschaft bestimmt. »Wenn sie Anzeichen zeigt, sich zu erholen, zwingt ihr ein wenig von der Kräutermischung die Kehle hinab. Das wird sie wieder trunken machen. Haltet ihr die Nase zu, wenn sie nicht schlucken will. Selbst eine Aes Sedai wird schlucken, wenn man ihr die Nase zuhält und ihr droht, sie zu ohrfeigen.«
Reannes Kinn sank herab, und ihre Augen weiteten sich wie auch die Augen der meisten ihrer Begleiterinnen. Sumeko nickte zögerlich und blickte fast genauso starr wie die anderen. Wenn Frauen der Schwesternschaft den Namen Aes Sedai aussprachen, könnten sie ebensogut den Schöpfer benennen. Der Gedanke daran, einer Aes Sedai die Nase zuzuhalten, selbst einer Schattenläufer in, zeichnete ihre Gesichter mit Entsetzen.
Den geweiteten Augen der Aes Sedai nach zu urteilen, gefiel ihnen die Vorstellung noch weniger. Merilille Öffnete den Mund, wobei sie Nynaeve ansah, aber genau in diesem Moment erreichte Elayne sie, und die Graue Schwester wandte sich statt dessen ihr zu, wobei sie für Birgitte kaum ein mißbilligendes Stirnrunzeln übrig hatte. An ihrer eher lauter als leiser werdenden Stimme konnte man das Maß ihrer Erschütterung erkennen. Merilille war für gewöhnlich sehr besonnen. »Elayne, Ihr müßt mit Nynaeve sprechen. Diese Frauen sind bereits verwirrt und zutiefst verängstigt. Es wird nicht sehr hilfreich sein, wenn Nynaeve sie noch weiter aufregt. Wenn der Amyrlin-Sitz ihnen wirklich die Erlaubnis geben will, zur Burg zu gehen«, sie schüttelte zögernd den Kopf, um den Gedanken weit von sich zu weisen, »wenn sie das beabsichtigt, müssen sie eine klare Vorstellung von ihrem Platz bekommen und...«
»Das beabsichtigt die Amyrlin tatsächlich«, unterbrach Elayne sie. Bei Nynaeve wirkte ein bestimmter Tonfall wie eine unter der Nase geschüttelte Faust. Bei Elayne vermittelte er ruhige Gelassenheit. »Sie werden eine zweite Chance bekommen, und wenn sie versagen, werden sie dennoch nicht fortgeschickt werden. Keine Frau, welche die Macht lenken kann, wird wieder von der Burg abgeschnitten werden. Sie werden alle Teil der Weißen Burg bleiben.«
Aviendha betastete müßig ihren Gürteldolch und wunderte sich über Elaynes Worte. Egwene, Elaynes Amyrlin-Sitz, dachte ungefähr dasselbe. Sie war auch eine Freundin, aber sie hielt ihr Herz in der Nähe von Aes Sedai verhüllt. Aviendha selbst wollte kein Teil der Weißen Burg sein, und sie bezweifelte stark, daß Sorilea oder eine andere Weise Frau dies wollte.
Merilille seufzte und faltete die Hände, senkte ihre Stimme aber trotz ihrer nach außen gezeigten Billigung nicht. »Wie Ihr meint, Elayne. Aber wegen Ispan — wir können einfach nicht zulassen...«
Elayne hob jäh eine Hand und gebot gebieterisch Schweigen. »Hört auf, Merilille. Ihr müßt die Schale der Winde bewachen. Das genügt jedermann. Es wird auch Euch genügen.«
Merilille öffnete den Mund, schloß ihn dann wieder und beugte nachgiebig ein wenig den Kopf. Die anderen Aes Sedai beugten ihre Köpfe unter Elaynes stetem Blick ebenfalls. Wenn einige Widerwillen zeigten — wie schwach auch immer —, so galt das doch nicht für alle.
Sareitha nahm rasch das scheibenförmige Bündel auf, das zu ihren Füßen gelegen hatte und mit Schichten weißer Seide umwickelt war. Ihre Arme reichten kaum darum herum, als sie die Schale der Winde an ihren Busen drückte und Elayne besorgt anlächelte, als wolle sie zeigen, daß sie die Schale wirklich gut bewachte.
Die Meervolk-Frauen betrachteten das Bündel begierig und beugten sich beinahe vor. Aviendha wäre nicht überrascht gewesen, wenn sie über die Steine gesprungen wären, um die Schale zu ergreifen. Die Aes Sedai sahen eindeutig das gleiche. Sareitha umklammerte das weiße Bündel noch fester, und Merilille trat tatsächlich zwischen sie und die Atha'an Miere. Glatte Aes Sedai-Gesichter spannten sich an, vergeblich um Ausdruckslosigkeit bemüht. Sie waren der Meinung, die Schale sollte ihnen gehören. Alle Dinge, welche die Eine Macht benutzten oder beeinflußten, gehörten ihrer Meinung nach der Weißen Burg, ungeachtet dessen, wer sie im Moment besaß. Aber da war der Vertrag.
»Die Sonne steigt, Aes Sedai«, verkündete Renaile din Calon laut, »und Gefahr droht. Also bewahrt sie. Wenn Ihr Euch irgendwie herauswinden wollt, indem ihr Zeit schindet, überlegt es Euch lieber zweimal. Versucht, den Vertrag zu brechen, und ich werde beim Herzen meines Vaters die Schiffe sofort zurückkehren lassen und die Schale zurückfordern. Sie hat von der Zerstörung an uns gehört.«
»Hütet in Gegenwart von Aes Sedai Eure Zunge«, stieß Reanne barsch hervor, von ihrem blauen Strohhut bis zu den unter grünweißen Rocksäumen hervorsehenden, festen Schuhen empörte Entrüstung.
Renaile din Calon verzog höhnisch den Mund. »Die Medusen haben anscheinend Zungen. Es überrascht mich jedoch, daß sie diese auch benutzen können, wenn keine Aes Sedai es erlaubt hat.«
Der Stallhof war im Handumdrehen von zwischen der Schwesternschaft und den Atha'an Miere hin und her fliegenden Beleidigungen erfüllt: »Wilde«, »Barbaren« und Schlimmeres; schrille Schreie übertönten Merililles Versuche, Reanne und ihre Begleiterinnen mit der einen und das Meervolk mit der anderen Hand zu beruhigen. Mehrere Windsucherinnen hörten auf, nach den hinter ihren Schärpen steckenden Dolchen zu tasten, statt dessen ergriffen sie die Hefte. Das Schimmern Saidars sprang um die erste und dann eine weitere der farbenfroh gekleideten Frauen auf. Die Frauen der Schwesternschaft wirkten bestürzt, obwohl es ihren Redefluß nicht behinderte, aber dann umarmte auch Sumeko die Quelle, dann Tamarla, schließlich die geschmeidige, rehäugige Chilares, und bald schimmerte jede einzelne von ihnen und von den Windsucherinnen, während Worte flogen und Temperamente überschäumten.
Aviendha hätte am liebsten gestöhnt. Jeden Moment würde Blut fließen. Sie würde Elaynes Führung folgen, aber ihre Nächstschwester starrte die Windsucherinnen und den Frauenzirkel gleichermaßen mit kaltem Zorn an. Elayne hatte wenig Geduld mit Einfältigkeit, weder bei sich selbst noch bei anderen, und Beleidigungen herauszuschreien, wenn vielleicht ein Feind nahte, war das schlimmste von allem. Aviendha umfaßte entschlossen ihren Gürteldolch und umarmte kurz darauf Saidar. Leben und Freude erfüllten sie so stark, daß sie am liebsten geweint hätte. Weise Frauen benutzten die Macht nur, wenn Worte versagten, aber hier würden weder Worte noch Stahl genügen. Sie wünschte, sie hätte eine Ahnung, wen sie zuerst töten sollte.