»Das reicht!« Nynaeves durchdringender Schrei schnitt jedermann jäh das Wort ab. Erstaunte Gesichter wirbelten zu ihr herum. Sie wandte drohend den Kopf und streckte einen Finger in Richtung des Frauenkreises aus. »Hört auf, Euch wie Kinder zu benehmen!« Ihre Stimme klang kaum weniger schneidend. »Oder wollt Ihr Euch zanken, bis die Verlorenen kommen, um die Schale und uns zu holen? Und Ihr«, fuhr sie mit zu den Windsucherinnen ausgestrecktem Finger fort, »hört auf, Euch aus der Vereinbarung zu stehlen! Ihr werdet die Schale erst bekommen, wenn Ihr jedes Wort des Vertrags erfüllt habt! Glaubt nicht, daß es anders sein wird!« Dann fuhr Nynaeve zu den Aes Sedai herum. »Und Ihr...!« Die kühle Überraschung, der sie sich jäh gegenübersah, ließ ihren Wortfluß zu einem verärgerten Brummen versiegen. Die Aes Sedai hatten sich nur an dem Geschrei beteiligt, um zu versuchen, es zu unterbinden. Um keine Aes Sedai schimmerte Saidar.
Aber das genügte natürlich nicht, um Nynaeve vollständig zu besänftigen. Sie zog heftig an ihrem Hut, offensichtlich noch immer voller Zorn, den sie abreagieren wollte. Aber die Frauen der Schwesternschaft starrten mit vor Kummer geröteten Gesichtern auf die Pflastersteine, und selbst die Windsucherinnen schienen ein wenig beschämt — ein wenig — und murrten in sich hinein, mieden aber Nynaeves Blick ebenfalls. Das Schimmern verblaßte nacheinander um alle Frauen, bis nur noch Aviendha die Quelle festhielt.
Sie zuckte zusammen, als Elayne ihren Arm berührte. Sie verweichlichte. Menschen an sich heranschleichen zu lassen und bei einer Berührung zusammenzuzucken!
»Der Streit scheint gebannt«, murmelte Elayne. »Vielleicht sollten wir gehen, bevor der nächste ausbricht.« Leichte Röte auf ihren Wangen war das einzige Anzeichen dafür, daß sie noch kurz zuvor zornig gewesen war. Auch Birgittes Wangen waren ein wenig gerötet. Die beiden Frauen spiegelten einander seit Bestehen des Bundes auf mancherlei Art wider.
»Das sollten wir allerdings«, stimmte Aviendha ihr zu. Wenn sie noch länger hier verweilte, wäre sie tatsächlich ein weichherziger Feuchtländer.
Aller Augen folgten ihr, als sie in die Mitte des Stallhofs trat und zu dem Fleck ging, den sie geprüft und erspürt hatte, bis sie ihn mit geschlossenen Augen kannte. Es erfüllte sie mit einer Freude, Saidar zu benutzen, die sie nicht in Worte fassen konnte. Saidar zu umarmen, davon umarmt zu werden, ließ einen lebendiger erscheinen als alles andere. Eine Täuschung, sagten die Weisen Frauen, so trügerisch und gefährlich wie eine Luftspiegelung im Termool, und doch schien es realer als die Pflastersteine unter ihren Füßen, Sie bekämpfte den Drang, noch mehr Saidar heranzuziehen. Sie hielt bereits beinahe so viel fest, wie sie aufnehmen konnte. Alle drängten sich nahe an sie heran, als sie die Stränge zu weben begann.
Es erstaunte Aviendha nach allem, was sie erlebt hatte, noch immer, daß es Dinge gab, welche die Aes Sedai nicht tun konnten. Mehrere der Frauen des Zirkels waren ausreichend stark, aber nur Sumeko und überraschenderweise Reanne beobachteten offen, was sie tat. Sumeko ging sogar so weit, Nynaeves Versuche, sie aufmunternd zu tätscheln, abzuwehren — was einen bestürzten und entrüsteten Blick von Nynaeve bewirkte, den Sumeko jedoch nicht bemerkte, da sie sich auf Aviendha konzentrierte. Alle Windsucherinnen waren ausreichend stark. Sie beobachteten die Vorgänge genauso begierig, wie sie die Schale betrachtet hatten. Der Vertrag gab ihnen jegliches Recht dazu.
Aviendha konzentrierte sich, und die Stränge flössen ineinander und schufen Gleichheit zwischen diesem Ort und jenem, den sie und Elayne und Nynaeve auf einer Karte erwählt hatten. Sie vollführte eine Geste, als öffne sie einen Zelteingang. Es war kein Teil des Gewebes, das Elayne ihr gezeigt hatte, aber es war fast alles, woran sie sich erinnern konnte, etwas, das sie selbst vollbracht hatte, lange bevor Elayne ihr erstes Wegetor eröffnete. Die Stränge verschmolzen zu einem silbrigen, senkrechten Schlitz, der sich drehte und zu einer Öffnung in der Luft wurde, die größer als ein Mensch und ebenso breit war. Jenseits lag eine große Lichtung, von zwanzig oder dreißig Fuß hohen Bäumen umgeben, mehrere Meilen nördlich der Stadt auf der entgegengesetzten Flußseite. Kniehohes braunes Gras reichte bis zum Wegetor und neigte sich in einem leichten Wind hindurch. Das Tor hatte sich nicht wirklich gedreht, sondern es vermittelte nur den Eindruck. Einige der Halme waren jedoch sauber durchschnitten, einige sogar der Länge nach. Die Ränder eines sich eröffnenden Wegetors ließen eine Rasierklinge stumpf erscheinen.
Aviendha war über das Wegetor unzufrieden. Elayne konnte dieses Gewebe mit nur einem Teil ihrer Stärke gestalten, aber es erforderte aus einem unbestimmten Grund fast Aviendhas ganze Kraft. Sie war sich sicher, daß sie ein größeres Wegetor hätte weben können, so groß, wie Elayne es vermochte, welche die Gewebe gestaltet und benutzt hatte, ohne nachzudenken, als sie Rand al'Thor vor anscheinend sehr langer Zeit zu entkommen versuchte, aber ungeachtet dessen, wie oft Aviendha sich abmühte, erreichte sie nur Bruchstücke. Sie verspürte keinen Neid — sie war eher stolz auf die Fertigkeiten ihrer Nächstschwester —, aber ihr Versagen beschämte sie innerlich. Sorilea oder Amys würden sie hart angehen, wenn sie davon erfuhren. Von der Scham. Zuviel Stolz, würden sie es nennen. Amys sollte es verstehen. Sie war einst eine Tochter des Speers gewesen. Es war beschämend, bei etwas zu versagen, wozu man befähigt sein sollte. Hätte sie nicht das Gewebe festhalten müssen, wäre sie davongerannt, damit niemand sie sehen konnte.
Der Aufbruch war sorgfältig geplant worden, und der ganze Stallhof geriet abrupt in Bewegung, sobald sich das Wegetor vollständig eröffnet hatte. Zwei Frauen des Zirkels zogen die Schattenläufer in auf die Füße, und die Windsucherinnen bildeten hinter Renaile clin Calon eilig eine Reihe. Die Diener begannen Pferde aus den Ställen heranzuführen. Lan, Birgitte und einer der Behüter Careanes, ein schlanker Mann namens Cieryl Arjuna, sprangen sogleich einer nach dem anderen durch das Wegetor. Wie die Far
Dareis Mai beanspruchten auch die Behüter stets das Recht, als Kundschafter tätig zu werden. Aviendha wollte ihnen folgen, aber das war nicht möglich. Anders als Elayne konnte sie keine fünf oder sechs Schritte weit gehen, ohne daß ihr Gewebe schwächer wurde, und dasselbe geschah, wenn sie es abbinden wollte. Es war sehr enttäuschend.
Dieses Mal drohte keine erkennbare Gefahr, so daß die Aes Sedai unmittelbar folgten, auch Elayne und Nynaeve. Bauernhöfe standen in dem bewaldeten Gebiet dicht an dicht, und ein wandernder Schafhirte oder ein junges Paar, das Ungestörtheit suchte, müßten vielleicht daran gehindert werden, zuviel zu sehen, aber keine Schattenseelen oder Schattenläufer konnten diese Lichtung kennen. Nur sie, Elayne und Nynaeve kannten sie, und sie hatten bei ihrer Wahl des Ortes aus Angst vor Lauschern nicht darüber gesprochen. Auf der Lichtung sah Elayne Aviendha fragend an, aber Aviendha bedeutete ihr weiterzugehen. Pläne wurden gemacht, um befolgt zu werden, es sei denn, es gab einen Grund, sie zu ändern.
Die Windsucherinnen betraten nacheinander die Lichtung, alle plötzlich unschlüssig, als sie sich diesem Wegetor näherten, von dem sie niemals auch nur geträumt hatten. Sie atmeten tief durch, bevor sie hindurchtraten. Das Kribbeln kehrte jäh zurück.
Aviendha hob den Blick zu den auf den Stallhof hinausführenden Fenstern. Jedermann könnte sich hinter den weißen schmiedeeisernen oder holzgeschnitzten Sichtblenden verbergen. Tylin hatte den Dienern befohlen, diesen Fenstern fernzubleiben, aber wer würde Teslyn aufhalten oder Joline oder... Etwas zog ihren Blick höher hinauf, zu den Kuppeln und Türmen. Schmale Gänge umgaben einige der schlanken Türme, und auf einem sehr hoch aufragenden Turm war eine schwarze Gestalt zu sehen, von dem in ihrem Rücken befindlichen Strahlenkranz der Sonne scharf abgezeichnet. Ein Mann.