Ihr stockte der Atem. Nichts an seiner Haltung mit den Händen auf der Steinbrüstung zeugte von Gefahr, und doch wußte sie, daß er derjenige war, der das Kribbeln zwischen ihren Schulterblättern verursachte. Eine der Schattenseelen würde nicht einfach dort stehenbleiben und beobachten, aber dieses Wesen, dieser Gholam... Eis bildete sich in ihrer Magengrube. Er war vielleicht einfach nur ein Palastdiener. Vielleicht, aber sie glaubte es nicht. Man mußte sich nicht schämen, Angst zu empfinden.
Sie schaute besorgt zu den noch immer mit quälender Langsamkeit durch das Wegetor ziehenden Frauen. Die Hälfte der Meervolk-Frauen war hindurch gelangt, und der Frauenkreis wartete hinter den übrigen, die Schattenläuferin fest im Griff, während ihr Unbehagen, dort hindurchgehen zu müssen, von Unmut überlagert wurde, weil es den MeervolkFrauen erlaubt war, zuerst zu gehen. Wenn sie ihren Verdacht äußerte, würden sich die Frauen der Schwesternschaft gewiß beeilen — die bloße Erwähnung der Schattenseelen versetzte sie in Angst und Schrecken —, während die Windsucherinnen durchaus versuchen könnten, die Schale sofort für sich zu beanspruchen. Für sie war die Schale wichtiger als alles andere. Aber nur eine blinde Närrin blieb gemächlich stehen, während sich ein Löwe an die Herde anschlich, die sie bewachen sollte. Sie ergriff eine der Atha'an Miere an einem roten Seidenärmel.
»Sagt Elayne...« Ein Gesicht wie glatter schwarzer Stein wandte sich ihr zu. Irgendwie gelang es der Frau, ihre vollen Lippen dünn erscheinen zu lassen. Ihre Augen waren schwarze Kieselsteine, flach und hart. Welche Botschaft konnte sie schicken, die nicht all die Schwierigkeiten heraufbeschwor, die sie von diesen Frauen fürchtete? »Sagt Elayne und Nynaeve, sie sollen vorsichtig sein. Sagt ihnen, Feinde kämen stets dann, wenn man sie am wenigsten erwartet. Ihr müßt ihnen dies wörtlich ausrichten.« Die Windsucherin nickte mit kaum verhaltener Ungeduld, wartete aber überraschenderweise, bis Aviendha sie losließ, bevor sie zögernd durch das Wegetor trat.
Der Gang oben um den Turm war nun verlassen. Aviendha verspürte keine Erleichterung. Er konnte überall sein. Vielleicht auf dem Weg zum Stallhof hinab. Wer auch immer er war, was auch immer er vorhatte — er war gefährlich. Die Gefahr existierte nicht nur in ihrer Einbildung. Die letzten vier Behüter hatten ein Viereck um das Wegetor gebildet, eine Wache, die als letzte gehen würde, und so sehr sie ihre Schwerter auch verachtete, war sie doch dankbar, daß noch jemand außer ihr mit dem scharfen Metall umgehen konnte. Nicht daß die Behüter gegen einen
Gholam — oder, noch schlimmer, gegen eine der Schattenseelen — eine größere Chance als die bei den Pferden wartenden Diener gehabt hätten. Oder eine größere Chance als sie selbst.
Sie zog grimmig die Macht heran, bis die Süße Saidars fast schmerzhaft wurde. Ein Quentchen mehr, und der Schmerz würde während der zum Sterben oder der dafür nötigen Zeit, die Fähigkeit vollkommen zu verlieren, blendende Marter werden. Wenn diese Frauen sich doch nur beeilen würden! Man mußte sich nicht schämen, Angst zu empfinden, aber sie fürchtete doch sehr, daß ihr die Angst ins Gesicht geschrieben stand.
2
Auflösung
Elayne trat zur Seite, sobald sie das Wegetor passiert hatte, aber Nynaeve stapfte über die Lichtung, scheuchte braune Grashüpfer aus dem verdorrten Gras auf und sah sich überall nach den Behütern um. Zumindest nach einem der Behüter. Ein hellroter Vogel schoß über die Lichtung und verschwand dann wieder. Sonst regte sich nichts. Ein Eichhörnchen keckerte irgendwo in den überwiegend unbelaubten Bäumen, und dann herrschte Stille. Es schien Elayne unmöglich, daß die drei Behüter hier entlang gekommen sein konnten, ohne solch breite Spuren zu hinterlassen wie Nynaeve, und doch vermochte sie kein Zeichen dafür zu erkennen, daß sie überhaupt hiergewesen waren.
Sie spürte Birgitte irgendwo weitab zu ihrer Linken, ungefähr südwestlich, wie sie glaubte, und erkannte zufrieden, daß keine unmittelbare Gefahr drohte. Careane, die mit anderen Frauen einen Schutzkreis um Sareitha und die Schale bildete, neigte den Kopf fast so, als lausche sie auf etwas. Ihr Cieryl war offensichtlich nach Südosten gegangen, was bedeutete, daß Lan sich nördlich befand. Seltsamerweise blickte Nynaeve auch gen Norden, während sie unentwegt leise vor sich hin murmelte. Vielleicht hatte ihre Ehe ein Gespür für ihn erweckt. Aber wahrscheinlicher war, daß sie eine Spur entdeckt hatte, die Elayne entgangen war. Nynaeve wußte genausoviel über den Wald wie über Kräuter.
Von Elaynes erstem Standort aus war Aviendha durch das Wegetor deutlich zu sehen, während sie die Dächer des Palasts betrachtete, als erwarte sie einen Hinterhalt. Ihrer Haltung nach hätte sie einen Speer in Händen halten und bereit sein können, in ihrem Reitgewand einen Kampf anzutreten. Es entlockte Elayne ein Lächeln, daß sie so tapfer verbarg, wie enttäuscht sie über ihre Unzulänglichkeit war, wenn es darum ging, ein Wegetor zu eröffnen. Aber Elayne konnte gleichzeitig nicht umhin, sich Sorgen zu machen. Aviendha war tapfer, und niemand, den Elayne kannte, bewahrte einen kühleren Kopf. Aber sie könnte vielleicht beschließen, daß das Ji'e'toh von ihr zu kämpfen verlangte, auch wenn keine andere Möglichkeit bestand als davonzulaufen. Das Licht um sie herum schimmerte so hell, daß sie offensichtlich nicht viel mehr Saidar heranziehen konnte. Wenn einer der Verlorenen erschien...
Ich hatte bei ihr bleiben sollen. Aber Elayne verwarf den Gedanken sofort wieder. Welche Entschuldigung sie auch ersann — Aviendha würde die Wahrheit kennen, und sie war manchmal reizbar wie ein Mann. Meistens. Besonders wenn es um ihre Ehre ging. Elayne ließ sich seufzend von den aus dem Wegetor strömenden Atha'an Miere fortdrängen. Sie blieb jedoch ausreichend nahe, um jeglichen Schrei auf der anderen Seite hören zu können. Ausreichend nahe, um Aviendha im Handumdrehen zu Hilfe zu eilen. Und noch aus einem anderen Grund.
Die Windsucherinnen kamen in der Reihenfolge ihrer Rangordnung durch das Wegetor und bemühten sich um unbewegte Mienen, aber selbst Renaile lockerte ihre angespannten Schultern, als ihre bloßen Füße auf das hohe braune Gras traten. Einige erschauderten leicht, was sie aber rasch unterdrückten, oder schauten mit geweiteten Augen zu der in der Luft hängenden Öffnung zurück. Alle sahen Elayne mißtrauisch an, während sie an ihr vorübergingen, und zwei oder drei öffneten den Mund, vielleicht um zu fragen, was sie tat, vielleicht um sie zu bitten — oder ihr zu befehlen — weiterzugehen. Elayne war durchaus froh, daß sie auf Renailes knappes Drängen hin gehorsam weitereilten. Sie würden nur allzu bald eine Gelegenheit erhalten, den Aes Sedai zu sagen, was sie tun sollten. Es mußte nicht mit ihr beginnen.
Dieser Gedanke verursachte ihr Übelkeit, und die Anzahl der Windsucherinnen ließ sie den Kopf schütteln. Sie besaßen das Wissen über das Wetter, wodurch sie die Schale angemessen benutzen konnten, und doch stimmte sogar Renaile — wenn auch widerwillig — zu, daß die Aussichten, das Wetter heilen zu können, um so besser waren, je mehr Macht durch die Schale gelenkt würde. Sie mußte mit unglaublicher Genauigkeit gelenkt werden, die nur einer Frau allein oder einem Kreis möglich war. Es mußte ein voller Kreis von Dreizehn sein. Diese Dreizehn würden Nynaeve und Aviendha und Elayne selbst sicherlich einschließen, und wahrscheinlich auch einige Frauen der Schwesternschaft, aber Renaile beabsichtigte eindeutig auf dem Teil des Vertrags zu bestehen, der besagte, daß sie ein Anrecht darauf hätten, jegliche Fähigkeiten zu erlernen, welche die Aes Sedai lehren konnten. Das Wegetor zu gestalten, war die erste Lektion gewesen, und die zweite würde die Bildung eines Kreises sein. Es war ein Wunder, daß sie nicht jede Windsucherin im Hafen mitgebracht hatten. Man stelle sich vor, mit drei- oder vierhundert dieser Frauen umzugehen! Elayne stieß ein kleines Dankgebet aus, daß nur zwanzig Windsucherinnen mitgekommen waren.