Am Ende bietet man ihm die Schwerterkrone Illians an, und er hat einen neuen Verbündeten gefunden.
Aber die Lage bleibt bedrohlich. Da ist Moridin, über den nichts bekannt ist, außer daß sein Name Tod bedeutet und er so mächtig ist, daß er Moghedien, der er die Flucht ermöglichte, zu seiner Sklavin machen konnte. Da ist die Amyrlin Elaida, die trotz aller Rückschläge ihren Plan, sich den Drachen gefügig zu machen, noch längst nicht aufgegeben hat. Da sind die Invasoren aus Seanchan, die Ebou Dar erobern. Da sind die abtrünnigen Shaido-Aiel unter ihrer Anführerin Sevanna, die unter den Einfluß der Verlorenen gerieten. Da ist Egwenes Heer, das auf die Stadt Tar Valon und die Weiße Burg zumarschiert, um die Amyrlin zu vertreiben. Und da sind die Schwarzen Ajah — allen voran Alviarin, die Behüterin der Chronik —, die im Herzen der Aes Sedai dem Dunklen König dienen.
Das Rad dreht sich, und die Letzte Schlacht rückt immer näher. Die Heere sammeln sich, und der Wiedergeborene Drache muß kämpfen, wenn die Welt kein zweites Mal untergehen soll.
Prolog
Trugbilder
Ethenielle hatte niedrigere Berge gesehen als diese unzutreffend Schwarze Hügel genannten gewaltigen Haufen halbwegs vergrabener Felsblöcke, die mit steilen, gewundenen Wegen überzogen waren. Einige dieser Wege hätten sogar einer Ziege Schwierigkeiten bereitet. Man konnte drei Tage durch von der Dürre ausgetrocknete Wälder und über Wiesen mit braunem Gras reiten, ohne auch nur ein Anzeichen menschlicher Besiedelung zu sehen, um sich dann unvermittelt eine halbe Tagesreise von sieben oder acht kleinen Dörfern entfernt wiederzufinden, die nichts von der Welt wußten. Die Schwarzen Hügel waren für Bauern eine rauhe Gegend, weitab von den Handelsrouten, und jetzt noch rauher als gewöhnlich. Ein magerer Leopard, der beim Anblick von Menschen hätte fliehen sollen, beobachtete sie von einem steilen Hang aus, keine vierzig Schritte entfernt, während sie mit ihrer bewaffneten Eskorte vorüberritt. Westwärts drehten Geier unheilverkündend ihre Kreise. Keine Wolke verunstaltete die blutrote Sonne, doch wenn der warme Wind blies, wirbelte er Staub wände auf.
Ethenielle ritt mit fünfzig ihrer besten Männer im Gefolge unbesorgt und gemächlich dahin. Anders als ihre fast legendäre Vorfahrin Surasa hegte sie nicht die Illusion, daß sich das Wetter nach ihren Wünschen richten würde, nur weil sie den Wolkenthron innehatte. Eile mit Weile... Ihre sorgfältig verschlüsselten, gut verwahrten Briefe enthielten genaue Anweisungen über die Marschordnung, um dem Bedürfnis aller Beteiligten zu entsprechen, auf ihrer Reise keinerlei Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Keine leichte Aufgabe. Einige hatten es für unmöglich gehalten.
Sie dachte stirnrunzelnd darüber nach, daß sie sich glücklich schätzen konnte, so weit gelangt zu sein, ohne jemanden töten zu müssen, indem sie jene kleinen Dörfer gemieden hatte, selbst wenn es zusätzliche Reisetage bedeutete. Die wenigen Ogier-Stedding stellten keinen Grund zur Sorge dar — Ogier kümmerten sich meist wenig darum, was unter Menschen geschah, und in letzter Zeit anscheinend noch weniger als gewöhnlich —, aber die Dörfer... Sie waren zu klein, als daß sich dort Augen-und-Ohren der Weißen Burg aufhielten, oder dieser Bursche, welcher der Wiedergeborene Drache zu sein behauptete — vielleicht war er es; sie konnte nicht entscheiden, was schlimmer wäre —, und doch zogen möglicherweise Händler hindurch, die ebenso viel Gerede mit sich brachten wie Waren und die sich mit Menschen unterhielten, die wiederum mit anderen Menschen sprachen, so daß sich Gerüchte wie ein immer weiter anschwellender Fluß durch die Schwarzen Hügel und in die Außenwelt verbreiteten. Ein einziger Schafhirte, welcher der Aufmerksamkeit entging, konnte mit wenigen Signalen noch fünfhundert Meilen entfernt sichtbare Leuchtfeuer in Gang setzen. Die Art Leuchtfeuer, die Wälder und Wiesen in Flammen aufgehen ließen. Und vielleicht Städte. Nationen.
»Habe ich die richtige Wahl getroffen, Serailla?« Ethenielle grinste, obwohl sie sich über sich selbst ärgerte. Sie war vielleicht kein Mädchen mehr, aber ihre wenigen grauen Haare ließen auf ihre noch unzureichende Erfahrung schließen. Die Entscheidung war getroffen. Sie hatte jedoch daran gedacht. Beim Licht, in Wahrheit war sie keineswegs so unbesorgt, wie sie es gern gewesen wäre.
Ethenielles erste Beraterin brachte ihre graue Stute näher an den glänzend schwarzen Wallach der Königin heran. Mit ihrem Gelassenheit ausstrahlenden runden Gesicht und den nachdenklichen dunklen Augen hätte Lady Serailla eine Bäuerin sein können, die jäh in das Reitgewand einer Adligen gesteckt wurde, aber der Verstand hinter dieser glatten, verschwitzten Stirn war ebenso scharf wie der jeder beliebigen Aes Sedai. »Die zweite Wahlmöglichkeit enthielt lediglich andere Risiken, nicht jedoch geringere«, sagte sie ruhig. Untersetzt und im Sattel dennoch genauso anmutig wie als Tänzerin, war Serailla stets bedächtig. Nicht schmeichlerisch oder unaufrichtig, nur einfach unerschütterlich. »Was auch immer die Wahrheit ist, Majestät — die Weiße Burg ist anscheinend handlungsunfähig und auch zerschlagen.
Ihr hättet vielleicht die Große Fäule bemerkt, während die Welt hinter Euch zerfiel. Das hättet Ihr tun können, wenn Ihr jemand anders wärt.«
Die einfache Notwendigkeit zu handeln. Hatte sie das hierher gebracht? Nun, wenn die Weiße Burg nicht tun wollte oder konnte, was getan werden mußte, dann mußte es ein anderer tun. Was nützte es, die Große Fäule zu bewachen, wenn die Welt hinter ihr tatsächlich zerfiel?
Ethenielle schaute zu dem schlanken Mann, der an ihrer anderen Seite ritt. Weiße Streifen an seinen Schläfen verliehen ihm ein würdiges Aussehen. Das in einer verzierten Scheide steckende Schwert von Kirukan ruhte in seiner Armbeuge. Es wurde zumindest das Schwert von Kirukan genannt. Die sagenhafte Kriegerkönigin von Aramaelle hatte es angeblich getragen. Die Klinge war uralt, und einige behaupteten, sie sei mit Macht gestaltet worden. Das beidhändige Heft zeigte auf sie, wie es die Tradition erforderte, obwohl sie kein Schwert wie ein hitzköpfiger Saldaeaner führen würde. Eine Königin sollte nachdenken, anführen und befehlen, was sie jedoch nicht bewerkstelligen konnte, wenn sie zu tun versuchte, was jeder Soldat in ihrem Heer besser konnte. »Und Ihr, Schwertträger?« fragte sie. »Habt Ihr zu dieser späten Stunde noch irgendwelche Bedenken?«
Lord Baldhere wandte sich auf seinem goldverzierten Sattel um und schaute zu den nachfolgenden Reitern mit den Bannern zurück, die in bearbeitetem Leder und besticktem Samt aufbewahrt wurden. »Ich verberge nicht gern, wer ich bin, Majestät«, sagte er mißmutig und wandte sich wieder um. »Die Welt wird uns nur allzubald kennenlernen und erfahren, was wir getan haben. Oder was wir zu tun versucht haben. Wir werden sterben oder in die Geschichte eingehen oder beides, so daß sie ebensogut wissen können, welche Namen sie vermerken müssen.« Baldhere besaß eine scharfe Zunge, und er kümmerte sich lieber um Musik und seine Kleidung als um alles andere — diese gut geschnittene blaue Jacke war bereits die dritte, die er heute trug —, aber wie auch bei Serailla trog die Erscheinung. Die Verantwortung, die auf dem Schwertträger des Wolkenthrons lastete, wog weitaus schwerer als das Schwert in seiner edelsteinbesetzten Scheide. Seit dem Tod von Ethenielles Ehemann vor gut zwanzig Jahren hatte Baldhere die Truppen Kandors an ihrer Stelle im Felde befehligt, und die meisten ihrer Soldaten wären ihm sogar nach Shayol Ghul gefolgt. Er zählte nicht zu den größten Befehlshabern, aber er wußte, wann es zu kämpfen galt und wie er einen Sieg erringen konnte.
»Der Treffpunkt muß unmittelbar vor uns liegen«, sagte Serailla unvermittelt, gerade als Ethenielle auf dem Gipfel des vor ihnen liegenden Passes den Kundschafter sein Pferd verhalten sah, den Baldhere vorausgeschickt hatte, ein durchtriebener Bursche namens Lomas, der einen Helmschmuck mit einem Fuchskopf trug. Seinen langen Speer schräg geneigt, vollführte er mit dem Arm die Geste, die ›Treffpunkt in Sicht‹ bedeutete.