Sie war jedoch nicht hier, um sie zu zählen. Während die einzelnen Windsucherinnen nahe an ihr vorübergingen, erlaubte sie sich, die Stärke der Frauen im Gebrauch der Macht zu er spüren. Zuvor war lediglich genug Zeit gewesen, in die Nähe einer Handvoll von ihnen zu gelangen, und das vor dem Hintergrund all der Schwierigkeiten, Renaile davon zu überzeugen, überhaupt mitzukommen. Offensichtlich hatte das Erringen eines Ranges unter den Windsucherinnen weder etwas mit dem Alter noch mit der Stärke zu tun. Renaile war selbst bei den ersten drei oder vier Frauen bei weitem nicht die Stärkste, während eine der letzten Windsucherinnen, Senine, wettergegerbte Wangen und dichtes graues Haar aufwies. Seltsamerweise schien es, den Durchstichen an ihren Ohren nach zu urteilen, als hätte Senine einst mehr als sechs und dickere Ohrringe getragen als heute.
Elayne ordnete Gesichter ein und merkte sie sich zusammen mit den ihr bekannten Namen mit einem zunehmenden Gefühl der Zufriedenheit. Die Windsucherinnen hatten sich vielleicht in gewisser Weise die Oberhand gesichert, und sie und Nynaeve waren möglicherweise in großen Schwierigkeiten, in sehr großen Schwierigkeiten, wenn die Bedingungen des Vertrags Egwene und dem Saal der Burg bekannt wurden, aber keine dieser Frauen würde unter den Aes Sedai einen besonders hohen Rang bekleiden. Allerdings auch keinen niedrigen Rang. Sie sagte sich, daß sie nicht selbstgefällig sein durfte — das änderte nichts an dem, was sie vereinbart hatten —, und doch war es sehr schwer, nicht selbstgefällig zu werden. Dies waren immerhin die besten der Atha'an Miere. Zumindest hier in Ebou Dar. Und wenn sie Aes Sedai gewesen wären, jede einzelne von ihnen, von Kurin mit dem harten schwarzen Blick bis zu Renaile selbst, hätten sie ihr zugehört, wenn sie sprach, und hätten sich erhoben, wenn sie den Raum betrat. Wenn sie Aes Sedai gewesen wären und sich so verhalten hätten, wie sie es sollten.
Und dann erschienen die letzten der Reihe, und Elayne zuckte unwillkürlich zusammen, als eine junge Windsucherin von einem der kleineren Schiffe an ihr vorüberging, eine Frau mit rundlichen Wangen namens Rainyn in schlichter blauer Seide und mit kaum einem halben Dutzend Medaillons an ihrer Nasenkette. Die beiden Neulinge, die jungenhaft schmale Talaan und Metarra mit den großen Augen, eilten mit verstörten Mienen heran. Sie hatten sich den Nasenring noch nicht verdient und noch viel weniger die Kette, und nur ein einziger dünner Goldring im linken Ohr kennzeichnete die drei als gleichgestellt. Elaynes Blick folgte ihnen angespannt.
Die Atha'an Miere scharten sich erneut um Renaile, wobei die meisten begierig zu den Aes Sedai und der Schale blickten. Die letzten drei Frauen blieben im Hintergrund, Neulinge mit dem Gesichtsausdruck jener, die sich nicht sicher waren, ob sie überhaupt ein Recht hatten hierzusein, wobei Rainyn in Nachahmung Renailes die Arme kreuzte und doch kaum selbstbewußter wirkte als die anderen beiden. Die Windsucherin eines Springers, dem kleinsten der Meervolk-Schiffe, befand sich wahrscheinlich selten in Gesellschaft der Windsucherin der Wogenherrin ihres Clans, ganz zu schweigen von der Windsucherin der Herrin der Schiffe. Rainyn war ohne weiteres ebenso stark im Gebrauch der Macht wie Lelaine oder Romanda, und Metarra stand auf gleicher Ebene mit Elayne selbst, während Talaan... Talaan, die in ihrer roten Leinenbluse so bescheiden wirkte, mit anscheinend ständig gesenkten Lidern, kam Nynaeve sehr nahe. Sehr nahe. Und mehr noch — Elayne wußte, daß sie selbst ihr volles Potential noch nicht erreicht hatte, und Nynaeve ebenfalls nicht. Wie stark würden Metarra und Talaan einst sein? Sie hatte sich an das Wissen gewöhnt, daß nur Nynaeve und die Verlorenen stärker waren als sie. Nun, auch Egwene, aber sie war gezwungen worden, und ihr eigenes und Aviendhas Potential entsprachen dem Egwenes. Soviel zur Zufriedenheit, schalt sie sich reumütig. Lini hätte ihr gesagt, sie verdiene dies dafür, daß sie die Dinge als selbstverständlich betrachtete.
Elayne lachte leise in sich hinein und wandte sich dann wieder zu Aviendha um, aber der Frauenzirkel stand wie angewurzelt auf einem Fleck vor dem Wegetor. Sie zuckten unter kalten Blicken von Careane und Sareitha zusammen. Alle außer Sumeko, doch sie trat ebenfalls nicht vor, obwohl sie den Blicken der Schwestern begegnet war. Kirstian schien kurz davor, in Tränen auszubrechen.
Elayne unterdrückte ein Seufzen und scheuchte die Frauen der Schwesternschaft aus dem Weg, da die Stallburschen die Pferde durch das Wegetor bringen wollten. Der Frauenzirkel trottete wie eine Herde Schafe voran — sie war die Hirtin und Merilille und die übrigen die Wölfe —, und sie waren gewiß noch schneller vorangegangen, wenn Ispan nicht gewesen wäre.
Famelle, eine von nur vier Frauen des Kreises, die noch kein Grau oder Weiß im Haar aufwiesen, und Eldase, eine Frau mit kämpferischem Blick, wenn sie nicht gerade eine Aes Sedai betrachtete, hielten Ispan an den Armen fest. Sie konnten sich anscheinend nicht entscheiden, ob sie die Frau fest genug halten sollten, daß sie in aufrechter Haltung blieb, oder ob sie den Griff lockern sollten mit dem Ergebnis, daß die Schwarze Schwester ruckartig vorwärts gelangte, halbwegs in die Knie ging und dann wieder hochgezogen wurde, bevor sie vollständig hinfiel.
»Verzeiht Aes Sedai«, murmelte Famelle Ispan ständig mit leicht tarabonischem Akzent zu. »Oh, es tut mir leid, Aes Sedai.« Eldase zuckte jedes Mal zusammen und stöhnte leise, wenn Ispan stolperte. Gerade so, als hätte Ispan nicht dabei geholfen, zwei der Ihren — und nur das Licht wußte, wie viele andere noch — zu ermorden. Sie machten Aufhebens um eine Frau, die sterben würde. Die Morde in der Weißen Burg, an denen Ispan beteiligt gewesen war, genügten, um sie zu verurteilen.
»Bringt sie irgendwo dort drüben hin«, befahl Elayne ihnen und winkte sie von dem Wegetor auf die Lichtung. Sie gehorchten, vollführten unbeholfene Hofknickse, ließen Ispan dabei um ein Haar fallen und murmelten an Elayne und die Schwarze Schwester gewandt Entschuldigungen. Reanne und die übrigen eilten voran, während sie die Schwestern um Merilille besorgt im Auge behielten.
Der Kampf der Blicke zwischen den Aes Sedai und den Frauen der Schwesternschaft, dem Frauenzirkel und den Windsucherinnen und den Atha'an Miere und fast allen anderen im Umkreis begann fast augenblicklich von neuem. Elayne biß die Zähne zusammen. Sie würde sie nicht anschreien. Nynaeve hatte mit Schreien ohnehin stets mehr Erfolg. Aber sie hätte am liebsten jede einzelne von ihnen geschüttelt, damit sie wieder zur Vernunft kämen, sie geschüttelt, bis ihre Zähne geklappert hätten. Einschließlich Nynaeve, die alle anweisen sollte, anstatt in den Wald zu starren. Aber was war, wenn Rand sterben mußte, wenn sie keine Möglichkeit fand, ihn zu retten?
Plötzlich brannten Tränen in ihren Augen. Rand würde sterben, und sie konnte nichts tun, um seinen Tod zu verhindern. Schäle den Apfel in deiner Hand, Mädchen, nicht den auf dem Baum, schien Linis leise Stimme ihr ins Ohr zu flüstern. Weinen kann man hinterher. Vorher sind Tränen nur Zeitverschwendung.
»Danke, Lini«, murmelte Elayne. Ihre alte Kinderfrau war manchmal lästig, weil sie niemals zugab, daß einer ihrer Schützlinge wirklich erwachsen geworden war, aber sie erteilte stets gute Ratschläge. Daß Nynaeve ihre Pflichten vernachlässigte, war für Elayne kein Grund, es ihr gleichzutun.
Diener führten unmittelbar hinter dem Frauenzirkel Pferde durch das Wegetor, allen voran die Packpferde. Keines dieser vorderen Tiere war mit etwas so Nichtigem wie Kleidung beladen. Wenn die Reitpferde auf der anderen Seite des Wegetors zurückgelassen werden mußten, konnten sie immer noch über den Fluß gebracht werden, aber was die ersten Packpferde trugen, durfte nicht den Verlorenen überlassen werden. Elayne bedeutete der Frau mit dem lederartigen Gesicht, welche die ersten Tiere anführte, mit ihr zur Seite zu treten, um den anderen aus dem Weg zu gehen.