Sie löste die starre Segeltuchabdeckung eines der breiten Weidenkörbe und enthüllte einen Berg scheinbar achtlos hineingestopften Unrats, wovon einiges in Lumpen gehüllt war. Der größte Teil davon war vermutlich auch Unrat. Elayne umarmte Saidar und begann auszusortieren. Ein verrosteter Brustharnisch landete schnell auf dem Boden, zusammen mit einem zerbrochenen Tischbein, einer gesprungenen Platte, einem stark verbeulten Zinnkrug und einem Beutel aus modrigem Stoff, der beinahe in ihren Händen zerfiel.
Der Lagerraum, in dem sie die Schale der Winde gefunden hatten, war vollgestopft gewesen mit Dingen, die auf einen Abfallhaufen gehört hätten, durcheinandergeworfen mit noch weiteren Artefakten der Macht als nur der Schale, einige in wurmzerfressenen Fässern oder Kisten und einige nur achtlos aufgehäuft. Jahrhundertelang hatte die Schwesternschaft alle mit der Macht verbundenen Gegenstände verborgen, zu ängstlich, sie zu gebrauchen, und zu ängstlich, sie den Aes Sedai zu überlassen. Bis heute morgen. Dies war die erste Gelegenheit für Elayne, nachzusehen, was der Aufbewahrung wert war. Das Licht gebe, daß die Schattenfreunde nicht mit etwas Bedeutsamem entkommen waren. Sie hatten einiges mitgenommen, aber mit Sicherheit weniger als ein Viertel dessen, was der Raum einschließlich des Unrats enthalten hatte. Das Licht gebe, daß sie etwas fand, was sie gebrauchen konnten. Menschen waren gestorben, um diese Gegenstände aus dem Rahad herauszubringen.
Sie lenkte die Macht nicht, sondern hielt sie nur fest, während sie jeden Gegenstand einzeln heraushob. Ein angeschlagener Tonbecher, drei zerbrochene Teller, ein mottenzerfressenes Kinderkleid und ein alter Stiefel mit einem Loch in der Seite fielen zu Boden. Dann nahm sie eine Steinskulptur hervor, ein wenig größer als ihre Hand — es fühlte sich an wie Stein, könnte eine Skulptur sein, obwohl es aus einem unbestimmten Grund nicht wirklich gemeißelt aussah —, mit tiefblauen Kurvenlinien, annähernd wie Wurzeln geformt. Sie schien sich bei ihrer Berührung leicht zu erwärmen. Sie ... schwang ... mit Saidar mit. Eine bessere Beschreibung fiel Elayne nicht ein. Sie hatte keine Ahnung, wozu sie gedacht war, aber sie war ohne jeden Zweifel ein Ter'angreal. Sie legte die Skulptur auf die andere Seite, abseits des Berges aussortierter Sachen.
Dieser Berg wuchs weiterhin, aber auch auf dem anderen Stapel häuften sich — wenn auch langsamer —Dinge, die außer schwacher Wärme und dem Vermitteln der Empfindung, daß die Macht in ihnen widerhallte, nichts gemeinsam hatten. So beispielsweise ein kleines Kästchen, dessen Oberfläche sich wie Elfenbein anfühlte und mit gewundenen roten und grünen Streifen bedeckt war — sie stellte es vorsichtig ab, ohne den mit Scharnieren befestigten Deckel anzuheben, denn man konnte niemals wissen, was ein Ter'angreal vielleicht auslöste —; eine schwarze Rute, nicht dicker als ihr Finger und einen Schritt lang, fest, aber doch so biegsam, daß sie diese zu einem Kreis würde formen können; eine kleine, mit einem Stöpsel verschlossene Glasflasche, vielleicht aus Kristall, mit einer dunkelroten Flüssigkeit darin; die zwei Fuß hohe Figur eines gedrungenen, bärtigen Mannes mit vergnügtem Lächeln und einem Buch in der Hand, die aus vom Alter patinierter Bronze zu bestehen schien —Elayne brauchte beide Hände, um sie anzuheben —, und andere Dinge. Das meiste war jedoch Unrat. Und nichts davon war das, was sie wirklich wollte. Noch nicht.
»Ist das der richtige Zeitpunkt dafür?« fragte Nynaeve. Sie richtete sich hastig von der kleinen Ansammlung von Ter'angrealen auf, verzog das Gesicht und rieb sich die Hand an ihrem Rock ab. »Diese Rute fühlt sich an wie ... Kummer«, murrte sie. Die Frau mit dem harten Gesicht, die den Kopf des Packpferdes festhielt, betrachtete blinzelnd die Rute und wich zurück.
Elayne betrachtete die Rute ebenfalls — Nynaeves spontane Eindrücke über Gegenstände, die sie berührte, konnten nützlich sein —, aber sie hielt nicht in ihrer Tätigkeit inne. Es hatte in letzter Zeit gewiß zu viel Kummer gegeben, als daß sie noch mehr gebraucht hätten. Nicht daß Nynaeve ihre Eindrücke immer so deutlich in Worte fassen konnte. Die Rute war vielleicht an einem Ort gewesen, wo viel Leid zugefügt worden war, ohne selbst die Ursache dafür zu sein. Der Weidenkorb war fast leer. Einiges von dem, was sich auf der Seite anhäufte, würde aus Gründen des Gleichgewichts verteilt werden müssen. »Wenn sich irgendwo hier drinnen ein Angreal befindet, Nynaeve, würde ich es gerne finden, bevor Moghedien uns auf die Schultern tippt.«
Nynaeve brummte verstimmt, spähte aber auch in den Weidenkorb.
Während Elayne ein weiteres Tischbein fallen ließ —nun waren es drei, die nicht zueinander paßten —, warf sie einen Blick auf die Lichtung. Alle Packpferde hatten das Wegetor passiert, und jetzt wurden die Reittiere hindurchgeführt und füllten den freien Raum zwischen den Bäumen mit Geschäftigkeit und Lärm. Merilille und die übrigen Aes Sedai saßen bereits im Sattel und verbargen kaum ihre Ungeduld, endlich aufzubrechen, während Pol hastig die Satteltaschen ihrer Herrin festzurrte, aber die Windsucherinnen...
Zu Fuß und auf ihren Schiffen bewegten sie sich höchst anmutig, sie waren jedoch nicht an Pferde gewöhnt. Renaile wollte von der falschen Seite aus aufsteigen, und die für sie auserwählte sanfte Kastanienbraune tänzelte langsam im Kreis um den livrierten Diener herum, der mit einer Hand das Zaumzeug ergriff, während er sich mit der anderen verzweifelt die Haare raufte und vergeblich versuchte, die Windsucherin zu korrigieren. Zwei der Stalldienerinnen gaben sich alle Mühe, Dorile in den Sattel zu helfen, die der Wogenherrin des Clans Somarin diente, während eine dritte, die den Kopf des Grauen hielt, die angespannte Miene eines Menschen zeigte, der sich ein Lachen verkniff. Rainyn saß auf dem Rücken eines langbeinigen braunen Wallachs, hatte aber weder die Füße in die Steigbügel gestellt, noch hielt sie die Zügel in Händen; auch hatte sie erhebliche Schwierigkeiten, beides zu finden. Und diese drei taten sich anscheinend noch am leichtesten. Pferde wieherten, tänzelten und rollten mit den Augen, und Windsucherinnen stießen dermaßen laut Flüche aus, daß sie noch über einen Sturm hinweg hätten gehört werden können. Eine von ihnen schlug einen Diener mit der Faust nieder, und drei weitere Stallburschen versuchten, die Pferde wieder einzufangen, die sich losgerissen hatten.
Dann sah Elayne das, was sie zu sehen erwartet hatte, wenn Nynaeve in ihrer Aufmerksamkeit nachließ. Lan stand bei seinem schwarzen Schlachtroß Mandarb und blickte abwechselnd von den Bäumen zum Wegetor und zu Nynaeve. Birgitte kam kopfschüttelnd aus dem Wald, gefolgt von Cieryl, der sich aber Zeit ließ. Es gab dort draußen nichts, was sie hätte bedrohen oder ihnen Unannehmlichkeiten bereiten können.
Nynaeve beobachtete sie mit gewölbten Augenbrauen.
»Ich habe nichts gesagt«, bemerkte Elayne. Sie umfaßte einen kleinen Gegenstand, der in Stoffetzen eingewickelt war. Sie wußte sofort, was sich darin befand.
»Gut für dich«, grollte Nynaeve nicht allzu leise. »Ich kann Frauen nicht ausstehen, die ihre Nase in die Angelegenheiten anderer Leute stecken.« Elayne schwieg dazu und war stolz, sich nicht auf die Zunge beißen zu müssen.
Sie wickelte die Stoffetzen ab, und eine kleine Bernsteinbrosche in der Form einer Schildkröte kam zum Vorschein. Es sah zumindest wie Bernstein aus, was es vielleicht einstmals gewesen war, aber als sie sich durch die Brosche der Quelle öffnete, strömte Saidar in sie, ein Strom vergleichbar mit dem, was sie selbst mühelos heraufbeschwören konnte. Es war kein starkes Angreal, aber weitaus besser als nichts. Damit sollte sie doppelt soviel Macht handhaben können wie Nynaeve, und Nynaeve selbst würde es auch besser gelingen. Sie ließ den zusätzlichen Strom Saidar los, steckte die Brosche mit einem erfreuten Lächeln in ihre Gürteltasche und suchte weiter. Wenn ein Angreal darin war, könnten vielleicht noch mehr darin enthalten sein. Und jetzt, wo sie eines zur Erforschung besaß, könnte sie vielleicht herausfinden, wie man ein Angreal gestaltete. Das hatte sie sich schon immer gewünscht. Es kostete sie Mühe, die Brosche nicht erneut hervorzunehmen und auf der Stelle mit der Erforschung zu beginnen.