Irgendwohin, weit fort von hier. Menschen, die flohen, liefen so weit und so schnell sie konnten. Irgendwohin, wo sie sich sicher fühlten. Es hatte keinen Zweck, Madic loszuschicken, um Fragen zu stellen oder hier irgend jemanden unter Druck zu setzen. Sie wären nicht töricht genug gewesen, jemanden zurückzulassen, der ihren Bestimmungsort kannte. Nicht in Tar Valon. Bei al'Thor? Bei dieser Bande aufständischer Aes Sedai? Er hatte dort überall Spione, wovon einige nicht einmal wußten, daß sie ihm dienten. Alle würden ihm dienen — vor dem Ende. Er würde nicht zulassen, daß seine Pläne jetzt noch durch törichte Fehler verdorben würden.
Plötzlich hörte er noch etwas anderes als den donnernden Trommelschlag seines eigenen Zorns. Ein brodelndes Geräusch. Er blickte neugierig zu Madic —und trat von der sich auf dem Boden ausbreitenden Lache zurück. Anscheinend hatte er in seinem Zorn mehr als nur das schmiedeeiserne Gitter mit der Wahren Macht umklammert. Bemerkenswert, wieviel Blut man aus einem menschlichen Körper pressen konnte.
Er ließ das, was von dem Mann übriggeblieben war, ohne Bedauern fallen. Sein einziger Gedanke war, daß gewiß die Aes Sedai dafür verantwortlich gemacht würden, wenn Madic gefunden wurde. Ein weiterer kleiner Beitrag zu dem zunehmenden Chaos in der Welt. Er riß ein Loch in das Gewebe des Musters und Reiste mit der Wahren Macht. Er mußte diese Frauen finden, bevor sie die Schale der Winde benutzten. Und wenn das mißlang... Er mochte Menschen nicht, die seine sorgfältig erdachten Pläne störten. Jene, die es taten und noch am Leben waren, lebten nur, um dafür zu bezahlen.
Der Gholam betrat vorsichtig den Raum, die Nasenflügel beim Geruch noch immer warmen Blutes bereits bebend. Die bleifarbene Verbrennung auf seiner Wange glühte wie ein Kohlestück. Der Gholam schien einfach ein schlanker Mensch zu sein, ein wenig größer als der Durchschnitt seiner Zeit, und doch war er niemals etwas begegnet, das ihm Schaden zufügen konnte. Bis er auf diesen Mann mit dem Medaillon traf. Er entblößte die Zahne in einem höhnischen Lächeln. Er sah sich neugierig im Raum um, aber da war nur der zerquetschte Körper auf dem Boden. Und ein ... Gefühl von ... etwas. Nicht die Eine Macht, aber etwas, was ihm ... ein Kribbeln verursachte, wenn auch nicht ganz auf dieselbe Art. Neugier hatte ihn hierher geführt. Das Gitter vor dem Fenster war teilweise verbogen, und es war an den Seiten herausgebrochen. Der Gholam erinnerte sich anscheinend an etwas, das ihm ein ähnliches Kribbeln verursacht hatte, aber vieles von dem, woran er sich erinnerte, war undeutlich und verschwommen. Die Welt hatte sich offenbar im Handumdrehen verändert. Es hatte eine Welt der Kriege und des Tötens in großem Umfang gegeben, mit Waffen, die über Meilen reichten, über Tausende von Meilen, und dann war da ... dies. Doch der Gholam hatte sich nicht verändert. Er war noch immer die gefährlichste Waffe von allen.
Seine Nasenflügel bebten erneut, obwohl er jene, welche die Macht lenken konnten, nicht durch den Geruch aufspürte. Die Eine Macht war unterhalb und Meilen entfernt im Norden benutzt worden. Sollte er den Frauen folgen oder nicht? Der Mann, der ihn verwundet hatte, war nicht bei ihnen. Dessen hatte er sich vergewissert, bevor er seinen äußerst günstigen Standort verlassen hatte. Derjenige, der ihn befehligte, wollte den Mann, der ihn verwundet hatte, vielleicht ebensosehr tot sehen wie die Frauen, aber die Frauen waren ein leichteres Ziel. Die Frauen waren ebenfalls genannt worden, und im Moment war er unter Kontrolle. Er war in seinem ganzen Dasein gezwungen worden, dem einen oder anderen Menschen zu dienen, aber sein Geist wollte nicht unterjocht werden. Er mußte den Frauen folgen. Er wollte ihnen folgen. Der Moment des Todes, wenn er die Fähigkeit, die Macht zu lenken, mit dem Leben schwinden spürte, bewirkte eine Ekstase. Verzückung. Aber er hatte auch Hunger, und er hatte Zeit. Wohin auch immer sie fliehen würden — er konnte ihnen dorthin folgen. Er ließ sich mit einer fließenden Bewegung neben dem entstellten Körper nieder und begann sich zu nähren. Frisches Blut, warmes Blut, war eine Notwendigkeit, aber menschliches Blut hatte stets den lieblichsten Wohlgeschmack.
3
Ein erfreulicher Ritt
Bauernhöfe, Weideland und Olivenhaine bedeckten den größten Teil des Landes um Ebou Dar. Vereinzelte kleine Wälder erstreckten sich über wenige Meilen, und obwohl das Land weitaus flacher war als die Rhiannon-Berge im Süden, hob und senkte es sich doch um hundert Fuß oder mehr, was genügte, um in der Nachmittagssonne tiefe Schatten zu werfen. Alles in allem bot das Land mehr als ausreichenden Schutz vor den unerwünschten Blicken anderer Reisender —beispielsweise ein seltsamer Händlerzug, fast fünfzig berittene Leute und ebenso viele zu Fuß, besonders wenn sie Behüter bei sich hatten, die abgelegene Wege durch das Unterholz finden sollten. Elayne entdeckte außer wenigen Ziegen, die auf einigen Hügeln grasten, keine Anzeichen menschlicher Besiedelung.
Sogar die Pflanzen und Bäume, die an Hitze gewöhnt waren, begannen zu verdorren und abzusterben, und doch hätte sie es zu einem anderen Zeitpunkt vielleicht genossen, einfach nur die Landschaft zu betrachten. Diese Landschaft hätte tausend Meilen von dem Land entfernt sein können, das sie gesehen hatte, als sie das andere Ufer des Eldar hinabgeritten war. Die Hügel bildeten seltsame, wulstige Umrisse, als wären sie von großen, unvorsichtigen Händen zusammengepreßt worden. Scharen bunter Vögel flogen bei ihrem Vorüberziehen auf, und ein Dutzend Arten Kolibris schwirrten vor den Pferden davon, schwebende Edelsteine auf vibrierenden Flügeln. Dichte Kletterpflanzen hingen an einigen Stellen wie dicke Seile herab, und es gab Bäume mit Bündeln schmaler Wedel sowie Blätter, die wie grüne Federstaubwedel aussahen und so lang wie ein Mensch waren. Eine Handvoll Pflanzen, von der Hitze betrogen, mühte sich, Blüten zu treiben, hellrot und lebhaft gelb, einige doppelt so groß wie Elaynes Hände. Ihr Duft war üppig und ... ›schwül‹ kam ihr in den Sinn. Sie sah einige Steine, die, worauf sie hätte wetten mögen, einst Zehen einer Statue gewesen waren, obwohl sie sich nicht vorstellen konnte, warum jemand eine solch große Statue mit bloßen Füßen gestalten sollte. Ein anderes Mal führte der Weg durch einen Wald mit dicken, geriffelten Steinen unter den Bäumen — die verwitterten Stümpfe von Säulen, viele umgestürzt und alle wegen des Materials schon lange fast bis zum Boden von ortsansässigen Bauern abgebaut. Es war trotz des Staubs, den die Pferdehufe von der verdorrten Erde aufwirbelten, ein erfreulicher Ritt. Die Hitze berührte sie natürlich nicht, und es gab kaum Fliegen. Alle Gefahren lagen hinter ihnen. Sie waren den Verlorenen entkommen, und es war ausgeschlossen, daß diese oder ihre Diener sie jetzt noch einholen konnten. Es hätte ein erfreulicher Ritt sein können, wenn nicht...
Zuerst erfuhr Aviendha, daß ihre Nachricht über Feinde, die kommen, wenn man sie am wenigsten erwartet, nicht überbracht worden war. Elayne war zunächst einmal erleichtert, vom Thema Rand ablenken zu können. Es war keine erneute Eifersucht, aber sie merkte immer mehr, daß sie haben wollte, was Aviendha mit ihm geteilt hatte. Keine Eifersucht. Neid. Sie hätte Eifersucht fast vorgezogen. Dann begann sie ihrer Freundin zuzuhören, die in leiser Eintönigkeit vor sich hin murmelte — und die Haare in ihrem Nacken wollten sich aufstellen.
»Das kannst du nicht tun«, protestierte sie und führte ihr Pferd näher an Aviendhas heran. Sie vermutete, daß Aviendha wirklich nicht viel Mühe hätte, Kurin zu schlagen oder etwas Ähnliches mit ihr zu tun. Das galt ohnehin, wenn die anderen Meervolk-Frauen dabei stillhielten. »Wir dürfen keinen Krieg gegen sie beginnen, sicherlich nicht, bevor wie die Schale benutzt haben. Und auch nicht deswegen«, fügte sie rasch hinzu. »Gewiß nicht.« Sie würden bestimmt keinen Krieg beginnen, weder bevor noch nachdem sie die Schale benutzt hätten, was nicht einfach war, weil sich die Windsucherinnen mit jeder Stunde anmaßender benahmen. Nicht einfach, weil... Sie atmete tief durch und fuhr eilig fort. »Wenn sie mir deine Botschaft tatsächlich übermittelt hätte, dann hätte ich nicht gewußt, was du meintest. Ich verstehe, warum du nicht deutlicher werden konntest, aber das siehst du doch ein, oder?«