Sie erkannte allmählich, daß sie schrie. Grauweiße Vögel schwirrten in einem breiten Band über ihre Köpfe, doch sie übertönte deren Schreie. Sie atmete tief ein und versuchte, sich zu beruhigen. Sie konnte nicht gut schreien. Es drang stets als Kreischen hervor. Alle sahen sie an, die meisten erstaunt. Aviendha nickte anerkennend. Aber sie hätte natürlich ebenso reagiert, wenn Elayne ein Messer in Merililles Herz versenkt hätte. Aviendha hielt zu ihren Freundinnen, was auch immer geschah. Merililles cairhienische Hellhäutigkeit war zu Totenblässe geworden.
»Ich meine, was ich sage«, belehrte Elayne sie in weitaus kühlerem Tonfall, was noch tiefere Totenblässe bei Merilille zu bewirken schien. Sie meinte jedes Wort ernst. Sie konnten es sich nicht leisten, daß solche Gerüchte unter ihnen in Umlauf waren. Sie würde sie auf die eine oder andere Art beenden, obwohl der Frauenzirkel höchstwahrscheinlich in Ohnmacht fallen würde.
Sie hoffte, daß dies das Ende war. Es hätte das Ende sein sollen. Aber als Merilille ging, nahm Sareitha ihren Platz ein, und auch sie nannte einen Grund, warum man den Frauen der Schwesternschaft nicht trauen könnte. Ihr Alter. Selbst Kirstian behauptete, älter zu sein als jede andere lebende Aes Sedai, während Reanne noch gut einhundert Jahre älter und nicht einmal die Älteste der Schwesternschaft war. Ihr Titel ›Älteste‹ wurde den ältesten von ihnen in Ebou Dar verliehen, und die strenge Anordnung, der sie folgten, um Aufmerksamkeit zu vermeiden, beinhaltete eine Anzahl noch älterer Frauen an anderen Orten.
Elayne schrie nicht mehr. Sie achtete sehr darauf, nicht zu schreien. »Wir werden die Wahrheit letztendlich erfahren«, belehrte sie Sareitha. Sie bezweifelte die Worte der Frauen der Schwesternschaft nicht, aber es mußte einen Grund dafür geben, warum sie weder alterslos wirkten noch so alt aussahen, wie sie zu sein behaupteten. Wenn sie es nur herausfinden könnte. Etwas sagte ihr, daß die Lösung auf der Hand lag, aber nichts Offensichtliches beantwortete ihre Frage. »Letztendlich«, wiederholte sie bestimmt, als die Braune erneut den Mund öffnete. »Das wird genügen, Sareitha.« Die Braune nickte unsicher und blieb zurück. Keine zehn Minuten später nahm Sibella ihren Platz ein.
Jedesmal, wenn eine der Frauen der Schwesternschaft herankam, um reihum die Bitte vorzutragen, von Ispan entlastet zu werden, kam bald darauf auch eine der Schwestern heran, um dieselbe Bitte auszusprechen. Alle außer Merilille, die noch immer blinzelte, wann immer Elayne sie ansah. Vielleicht hatte Schreien doch einen Nutzen. Es versuchte gewiß niemand sonst, die Schwesternschaft so unmittelbar anzugreifen.
Vandene begann beispielsweise damit, über das Meervolk zu sprechen, darüber, wie man die Auswirkungen des mit ihnen abgeschlossenen Vertrages umkehren könnte und warum es notwendig sei, sie so weitgehend wie möglich umzukehren. Sie sprach recht sachlich, ohne ein Wort oder eine Geste des Vorwurfs. Nicht daß es nötig gewesen wäre. Das Thema an sich genügte, wie vorsichtig auch immer es behandelt wurde. Die Weiße Burg, so sagte sie, behielt ihren Einfluß auf die Welt nicht durch Waffengewalt oder Überzeugungskraft bei und auch nicht durch Ränkeschmieden oder Intrigen, obwohl sie letzteres nur nebenbei erwähnte. Die Weiße Burg beeinflußte Ereignisse eher im üblichen Maße, weil jedermann sie als abgesondert und überragend ansah, höhergestellt als Könige oder Königinnen. Das wiederum hing von jeder Aes Sedai ab, die auf diese Art betrachtet wurde, als geheimnisvoll und abgesondert und anders als alle anderen. Eine andere Natur. In der bisherigen Geschichte der Burg wurden Aes Sedai, denen das nicht gelang — und es gab nur wenige — der Öffentlichkeit so weit wie möglich vorenthalten.
Es dauerte eine Weile, bis Elayne erkannte, daß es bei der Unterhaltung nicht mehr um Angriffe auf das Meervolk ging, sondern worauf sie in Wirklichkeit abzielte. Eine andere Natur, geheimnisvoll und abgesondert, war zu ungenau. Jedenfalls für Nicht-Aes Sedai. In Wahrheit würden die Schwestern rauher mit Ispan umgehen, als der Frauenzirkel sich überwinden könnte, nur nicht in der Öffentlichkeit. Der Streit hätte vielleicht mehr Gewicht gehabt, wenn er weitergeführt worden wäre, aber so schickte Elayne Vandene ebenso rasch fort wie alle anderen. Adeleas ersetzte sie, unmittelbar nachdem Sibella belehrt worden war, daß wahrscheinlich keine der Schwestern verstehen würde, was Ispan murmelte, wenn niemand vom Frauenzirkel es verstand. Was sie murmelte! Licht! Die Aes Sedai wechselten sich noch wiederholt ab, und obwohl Elayne wußte, was sie wollten, war es manchmal schwer, den Zusammenhang gleich zu erkennen. Als Careane ihr zu erzählen begann, daß jene Steine in Wahrheit einst Zehen gewesen waren, vermutlich Zehen einer Statue irgendeiner kriegerischen Königin, die fast zweihundert Fuß hoch gewesen war...
»Ispan bleibt, wo sie ist«, belehrte sie Careane kühl, ohne auf mehr zu warten. »Nun, falls Ihr mir nicht wirklich erzählen wollt, warum die Shiotaner daran dachten, eine solche Statue aufzustellen...« Die Grüne hatte gesagt, alte Berichte behaupteten, sie hätte kaum mehr als eine Rüstung getragen, die noch dazu äußerst knapp gewesen sei! Eine Königin! »Nein? Also, wenn es Euch nichts ausmacht, würde ich mit Aviendha gern unter vier Augen sprechen. Vielen Dank.« Aber selbst ihre Wortkargheit hielt die Frau natürlich nicht auf. Elayne war überrascht, daß sie jetzt nicht noch Merililles Dienerin schickten.
Nichts von alledem wäre geschehen, wenn Nynaeve dort gewesen wäre, wo sie sein sollte. Elayne war zumindest sicher, daß Nynaeve den Frauenzirkel und die Schwestern kurz nacheinander gleichermaßen hätte bezwingen können. Sie war gut im Bezwingen. Dem stand nur entgegen, daß Nynaeve sich fest an Lans Seite geheftet hatte, noch bevor sie die erste Lichtung verließen. Die Behüter kundschafteten voraus, an beiden Seiten des Weges und manchmal auch als Nachhut, und ritten nur so lange zur Kolonne zurück, um über das zu berichten, was sie gesehen hatten, oder um Anweisungen zu geben, wie ein Bauernhof oder eine Schafherde zu umgehen war. Birgitte entfernte sich weit und verbrachte niemals mehr als wenige Augenblicke mit Elayne. Lan entfernte sich noch weiter. Und wo Lan hinging, ging auch Nynaeve hin.
»Es macht doch niemand Schwierigkeiten, oder?« fragte sie mit düsterem Blick zum Meervolk, als sie Lan das erstemal zurückfolgte. »Nun, dann ist es gut«, fuhr sie fort, bevor Elayne Gelegenheit zu einer Antwort bekam. Sie riß ihre rundbäuchige Stute wie eine Rennreiterin herum, ließ die Zügel knallen, galoppierte hinter Lan her, wobei sie ihren Hut mit einer Hand festhielt und holte ihn in dem Moment ein, als er gerade um die Flanke des Hügels vor ihnen verschwand. Danach kehrte tatsächlich Ruhe ein. Reanne hatte ihren Besuch abgestattet und Merilille den ihren, und alles schien geregelt.
Als Nynaeve das nächstemal auftauchte, hatte Elayne erfolgreich eine Reihe verschleierter Versuche abgewehrt, Ispan den Schwestern zu übergeben. Aviendha hatte mit Kurin gesprochen, und die Windsucherinnen wurden allmählich zornig, aber als Elayne ihr die Vorfälle erklärte, sah Nynaeve sich nur stirnrunzelnd um. Natürlich war im Moment jedermann an seinem Platz. Die Atha'an Miere blickten tatsächlich finster drein, aber der Frauenzirkel blieb hinter ihnen, und was die Schwestern betraf, so hätte keine Gruppe von Novizinnen wohlerzogener und unschuldiger aussehen können. Elayne hätte am liebsten geschrien!
»Du kommst gewiß mit allem zurecht«, sagte Nynaeve. »Du hattest die entsprechende Ausbildung zur Königin. Dies kann nicht annähernd so... Der Teufel hole den Mann! Er verschwindet schon wieder! Du kommst zurecht.« Fort war sie und galoppierte auf dieser armseligen Stute davon, als sei sie ein Schlachtroß.