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Zu dem Zeitpunkt begann Aviendha zu erzählen, wie sehr Rand es anscheinend mochte, ihren Hals zu küssen. Beiläufig erwähnte sie, wie sehr es ihr auch gefallen hatte. Es hatte Elayne ebenfalls gefallen, als er es bei ihr getan hatte, aber wie sehr sie sich auch daran gewöhnt hatte, über solche Dinge zu sprechen —sich mit einem unguten Gefühl daran gewöhnt hatte —, sie wollte in diesem Moment nicht darüber reden. Sie war verärgert über Rand. Es war unfair, aber wenn er nicht gewesen wäre, hätte sie Nynaeve sagen können, sie solle aufhören, Lan wie ein Kind zu behandeln, das über seine eigenen Füße stolpern könnte, und solle sich um ihre eigenen Pflichten kümmern. Sie hätte ihn beinahe auch für das Verhalten des Frauenzirkels und das der anderen Schwestern und der Windsucherinnen verantwortlich gemacht. Schuld zu übernehmen, ist eines der Dinge, für die Männer da sind, erinnerte sie sich an einen Ausspruch von Lin, wobei sie gelacht hatte. Sie verdienen es in aller Regel, selbst wenn du nicht genau weißt, wieso. Es war nicht fair, und dennoch wünschte sie, Rand befände sich ausreichend lange in ihrer Nähe, daß sie ihn ohrfeigen könnte, nur einmal. Ausreichend lange, daß sie ihn küssen könnte, ihn sanft ihren Hals küssen lassen könnte. Ausreichend lange...

»Er wird einen Rat befolgen, selbst wenn er ihn nicht gern hört«, sagte sie jäh mit errötendem Gesicht. Licht, trotz all ihres Geredes über Schamgefühl besaß Aviendha auf manchen Gebieten keines. Und anscheinend galt das für sie inzwischen ebenfalls! »Aber wenn ich ihn zu drängen versuchte, blieb er stur, selbst wenn ich eindeutig recht hatte. Hat er sich bei dir genauso verhalten?«

Aviendha sah sie an und verstand anscheinend. Elayne war sich nicht sicher, ob ihr das gefiel oder nicht. Zumindest wurde nicht mehr von Rand und seinen Küssen gesprochen. Zumindest eine Zeitlang. Aviendha wußte einiges über Männer — sie war als Tochter des Speers mit ihnen gereist und hatte an ihrer Seite gekämpft —, aber sie hatte niemals etwas anderes als eine Far Dareis Mai sein wollen, und es gab ... Widersprüche. Selbst als Kind hatte sie mit ihren Puppen stets Speerkampf und Angriff gespielt. Sie hatte niemals geflirtet, verstand es gar nicht, und sie verstand auch nicht, warum sie diese Empfindung hatte, als Rands Blick auf sie fiel, oder hundert andere Dinge, die Elayne zu lernen begonnen hatte, als sie zum ersten Mal merkte, daß ein Junge sie anders ansah als die anderen Jungen. Aviendha erwartete von Elayne, daß sie ihr alles beibrachte, und Elayne versuchte es. Sie konnte mit Aviendha wirklich über alles sprechen. Wenn nur nicht Rand das so häufig angeführte Beispiel gewesen wäre. Wäre er dagewesen, hätte sie ihn geohrfeigt. Und geküßt. Und ihn dann erneut geohrfeigt.

Es war überhaupt kein erfreulicher Ritt. Es war ein elender Ritt.

Nynaeve stattete noch einige weitere kurze Besuche ab, bevor sie schließlich kam und verkündete, daß der Bauernhof der Schwesternschaft unmittelbar voraus läge, hinter einem niedrigen, abgerundeten Hügel. Reanne hatte die Reisezeit zu pessimistisch eingeschätzt. Nach dem Stand der Sonne war es erst zwei Uhr.

»Wir werden sehr bald dort ankommen«, belehrte Nynaeve Elayne und schien den mürrischen Blick nicht zu bemerken, den diese ihr zuwarf. »Lan, bitte bring Reanne hierher. Es wird wohl am besten sein, wenn man auf dem Hof als erstes ein vertrautes Gesicht sieht.« Lan riß sein Pferd herum, und Nynaeve wandte sich kurz im Sattel um und sah die Schwestern festen Blickes an. »Ich möchte nicht, daß Ihr sie erschreckt. Haltet den Mund, bis wir eine Gelegenheit bekommen, unser Kommen zu erläutern. Und verbergt Eure Gesichter. Zieht die Kapuzen Eurer Umhänge über den Kopf.« Sie drehte sich wieder um, ohne auf eine Antwort zu warten, und nickte zufrieden. »So. Alles ist geregelt und in bester Ordnung. Ich schwöre dir, Elayne, ich weiß nicht, worüber du so stöhnst. Jedermann tut genau das, was er tun soll, soweit ich es erkennen kann.«

Elayne knirschte mit den Zähnen. Sie wünschte, sie wären bereits in Caemlyn, wo sie hinwollten, wenn dies hier vorüber war. Sie hatte dort schon lange überfällige Pflichten zu erfüllen. Hauptsächlich mußte sie sich darum kümmern, die stärkeren Häuser davon zu überzeugen, daß der Löwenthron trotz ihrer langen Abwesenheit ihr gehörte — das und einen oder zwei Mitbewerber aus dem Feld zu schlagen. Es hätte vielleicht keine Mitbewerber gegeben, wenn sie dagewesen wäre, als ihre Mutter verschwand, als sie starb, aber die Geschichte Andors besagte, daß es inzwischen welche gäbe. Irgendwie erschien diese Aufgabe soviel leichter als dies hier.

4

Ein stiller Ort

Der Bauernhof der Schwesternschaft lag in einer breiten, von drei niedrigen Hügeln umgebenen Mulde, eine Ansammlung von mehr als einem Dutzend großer, weiß getünchter Gebäude mit Flachdächern, die in der Sonne leuchteten. Vier große Scheunen waren an den Hang des höchsten Hügels gebaut, der oben abgeflacht war und auf der Seite jenseits der Scheunen in steilen Klippen abfiel. Einige wenige hohe Baume, die nicht ihr ganzes Laub verloren hatten, spendeten im Hof etwas Schatten. Nördlich und östlich führten Olivenhaine von dem Hof fort und sogar die Hänge der Hügel hinauf. Eine gemächliche Geschäftigkeit umgab den Bauernhof, auf dem trotz der Nachmittagshitze weit über hundert Menschen zu sehen waren, welche die alltäglichen Aufgaben ausführten, wenn auch in aller Ruhe.

Die Örtlichkeit hätte fast als kleines Dorf denn als Bauernhof gelten können, nur daß keine Männer oder Kinder zu sehen waren. Das hatte Elayne auch nicht erwartet. Dies war eine Zwischenstation für Frauen der Schwesternschaft, die Ebou Dar verlassen wollten, damit sich nicht zu viele gleichzeitig in der Stadt aufhielten, was aber geheim war, so geheim wie die Schwesternschaft selbst. In der Öffentlichkeit war dieser Bauernhof im Umkreis von zweihundert oder mehr Meilen als Zufluchtsort für Frauen bekannt, als ein Ort der Besinnung und für eine gewisse Zeit —wenige Tage, eine Woche, manchmal länger —, als Zufluchtsstätte vor den Sorgen der Welt. Elayne konnte die Heiterkeit in der Luft fast spüren. Sie hätte vielleicht bedauert so viele Fremde an diesen ruhigen Ort gebracht zu haben, wenn sie nicht auch neue Hoffnung gebracht hätte.

Das erste Erscheinen der Pferde, als sie um den geneigten Hügel herumritten, bewirkte weitaus weniger Aufsehen, als sie erwartet hatte. Einige der Frauen hielten inne, um sie zu beobachten, aber mehr nicht. Ihre Kleidung war sehr unterschiedlich — Elayne sah sogar hier und dort Seide schimmern —, einige trugen Körbe und andere Eimer oder große weiße Bündel mit Wäsche. Eine Frau hielt zwei gebundene Enten an den Füßen in jeder Hand. Adlige und Handwerkerinnen, Bäuerinnen und Bettlerinnen waren hier alle gleichermaßen willkommen, und jede leistete während ihres Aufenthalts ihren Anteil an der anfallenden Arbeit. Aviendha berührte Elaynes Arm und deutete auf die Kuppe eines der Hügel, die wie ein sich zu einer Seite neigender, umgekehrter Trichter aussah. Elayne beschattete ihre Augen mit einer Hand und sah kurz darauf eine Bewegung. Kein Wunder, daß niemand überrascht war. Wächter konnten von dort oben aus jedermann, der sich näherte, schon auf weite Entfernung sehen.

Eine Frau kam ihnen kurz vor den Gebäuden des Hofes entgegen. Sie war im Stil einer Ebou Dari gekleidet, mit tiefem Halsausschnitt, und ihre dunklen Röcke und die bunten Unterröcke waren ausreichend kurz, daß sie diese wegen des Staubs nicht raffen mußte. Sie trug keinen Hochzeitsdolch. Die Regeln der Schwesternschaft verboten eine Heirat, da jede zu viele Geheimnisse bewahren mußte.

»Das ist Alise«, murmelte Reanne und verhielt ihr Pferd zwischen Nynaeve und Elayne. »Sie führt im Moment den Hof. Sie ist sehr gescheit.« Dann fügte sie wie als Nachgedanken noch leiser hinzu: »Alise erträgt Narren nicht leicht.« Als Alise herankam, richtete sich Reanne im Sattel auf und straffte die Schultern, als stünde ihr eine Prüfung bevor.