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Der Sturm bricht los
Die Sonne war erst auf halbem Wege vom Zenit zum Horizont, als sie den gut ausgetretenen, gewundenen Pfad zur Spitze des steilen Hügels über den Scheunen emporstiegen. Renaile hatte diesen Punkt ausgewählt. Es machte nach dem, was Elayne über die Beeinflussung des Wetters wußte und was sie von einer Windsucherin des Meervolks gelernt hatte, um sicher zu sein, durchaus Sinn. Um etwas jenseits der unmittelbaren Umgebung verändern zu können, mußte man über weite Entfernungen arbeiten, was bedeutete, daß man über eine weite Strecke freie Sicht haben mußte, was auf dem Meer viel leichter war als an Land, es sei denn, man befand sich auf einem Berg oder Hügelkamm. Weiterhin mußte man geschickt vorgehen, um wolkenbruchartigen Regen oder Wirbelwinde oder nur das Licht wußte, was sonst, zu verhindern. Was auch immer man tat — die Wirkung verbreitete sich wie Wellen von einem in einen Teich geworfenen Stein. Sie wollte auf keinen Fall den Kreis anführen, der die Schale benutzen würde.
Der Boden auf dem kahlen Hügelkamm war flach, eine rauhe Felsplatte, fünfzig Schritte lang und breit, mit viel Platz für alle, die hiersein sollten, wie auch für einige, die strenggenommen nicht hiersein sollten. Von mindestens fünfzig Schritt oberhalb des Bauernhofs aus hatte man meilenweit eine großartige Aussicht über die von Gehöften, Weiden, Wäldern und Olivenhainen geprägte Landschaft. Viel zu viele Brauntöne und versengte Gelbtöne mischten sich mit wenigen Schattierungen von Grün, schrien ihnen die Notwendigkeit dessen entgegen, was sie zu tun beabsichtigten, und doch berührte Elayne diese Schönheit. Trotz des wie leichter Nebel in der Luft liegenden Staubs konnte sie so weit sehen! Das Land war hier bis auf jene wenigen Hügel überwiegend flach. Ebou Dar lag südlich gerade außer Sicht, selbst wenn sie die Macht umarmte, und doch schien es, als sollte sie es sehen können, wenn sie sich nur ein wenig bemühte. Mit ein wenig Anstrengung konnte sie gewiß den Eldar sehen. Eine phantastische Aussicht. Aber nicht alle hatten Gefallen daran.
»Eine Stunde vergeudet«, murrte Nynaeve und sah dabei Reanne von der Seite an. Und auch fast jedermann sonst. Da Lan nicht mitgekommen war, wollte sie die Gelegenheit anscheinend nutzen, ihre Launen an anderen auszulassen. »Fast eine Stunde. Vielleicht sogar mehr. Vollkommen vergeudet. Alise ist vermutlich ausreichend fähig, aber man sollte meinen, Reanne wüßte, wer da wäre! Licht! Wenn diese törichte Frau abermals in meiner Gegenwart ohnmächtig wird...!« Elayne hoffte, daß sie sich noch ein wenig länger beherrschte. Es würde ein gewaltiger Sturm werden, wenn sie ihren Gefühlen freien Lauf ließe.
Reanne versuchte, eine eifrige, heitere Miene beizubehalten, aber sie bewegte unruhig die Hände und zupfte ständig ihre Röcke zurecht oder glättete sie. Kirstian umklammerte ihre Röcke nur, schwitzte und schien sich jeden Moment übergeben zu wollen. Wenn jemand sie ansah, irgend jemand, zitterte sie. Die dritte Frau der Schwesternschaft, Garenia, war eine saldaeanische Händlerin mit breiter Nase und vollen Lippen, eine kleine, schmalhüftige Frau, stärker als die beiden anderen, die nicht viel älter als Nynaeve aussah. Auf ihrem blassen Gesicht glänzte öliger Schweiß, und ihre dunklen Augen weiteten sich, wann immer ihr Blick auf eine Aes Sedai fiel. Elayne dachte, daß sie vielleicht bald erfahren würde, ob einem Menschen wirklich die Augen aus dem Kopf fallen konnten. Zumindest hatte Garenia aufgehört zu jammern, was sie den ganzen Weg den Hügel hinauf getan hatte.
Tatsächlich wären vielleicht noch andere stark genug gewesen — möglicherweise; die Schwesternschaft achtete nicht sehr darauf —, aber die letzten beiden waren vor drei Tagen fortgegangen. Niemand sonst auf dem Bauernhof kam ihnen auch nur annähernd nahe, weshalb Nynaeve noch immer angewidert war. Einer der Gründe. Der andere Grund bestand darin, daß Garenia als eine der ersten ohnmächtig im Hof aufgefunden worden war. Und sie war die ersten beiden Male, als sie wieder zu sich kam, erneut ohnmächtig geworden, sobald ihr Blick auf eine der Schwestern fiel. Da Nynaeve Nynaeve war, würde sie natürlich nicht zugeben, daß sie einfach Alise hätte bitten sollen, die sich noch immer auf dem Bauernhof befand. Oder Alise hätte sagen sollen, was sie suchte, bevor die Frau danach fragte. Nynaeve erwartete niemals, daß jemand oben von unten unterscheiden konnte. Außer ihr selbst.
»Wir könnten jetzt schon fertig sein!« grollte Nynaeve. »Wir könnten abgeschlossen haben, was...« Sie zitterte fast unter der Anstrengung, die MeervolkFrauen nicht grimmig anzustarren, die sich nahe dem östlichen Rand der Felsplatte versammelten. Renaile, die eindringlich gestikulierte, schien Anweisungen zu erteilen. Elayne hätte viel darum gegeben, diese verstehen zu können.
Nynaeves finstere Blicke schlossen Merilille, Careane und Sareitha, welche die seidenumwickelte Schale noch immer fest umklammerte, gewiß mit ein. Adeleas und Vandene waren unten bei Ispan geblieben. Jene drei Schwestern standen schwatzend zusammen und achteten überhaupt nicht auf Nynaeve, bis sie diese direkt ansprach, während Merililles Blick manchmal zu den Windsucherinnen schweifte, sich aber dann wieder losriß. Ihre heitere Maske verzerrte sich leicht, und sie leckte sich mit der Zungenspitze über die Lippen.
Hatte sie dort unten einen Fehler gemacht, als sie sie Geheilt hatte? Merilille hatte Verträge ausgehandelt und bei Streitigkeiten zwischen Nationen vermittelt. Nur wenige in der Weißen Burg waren besser darin als sie. Aber Elayne erinnerte sich, einmal eine Geschichte gehört zu haben, eine Art Witz über eine Domani-Händlerin, einen Lademeister des Meervolks und eine Aes Sedai. Nicht viele Menschen erzählten Witze über Aes Sedai. Es könnte gefährlich sein. Die Händlerin und der Lademeister fanden am Strand einen gewöhnlichen Felsen und verkauften ihn sich gegenseitig immer wieder, wobei sie jedesmal auf unbestimmte Weise einen Gewinn machten. Dann kam eine Aes Sedai vorbei. Die Domani überzeugte die Aes Sedai davon, den schlichten Felsen für den doppelten Preis, den sie zuletzt bezahlt hatte, zu kaufen. Woraufhin der Atha'an Miere die Aes Sedai davon überzeugte, denselben Felsen von ihm für noch einmal das Doppelte zu kaufen. Es war nur ein Witz, aber er verdeutlichte, was die Menschen glaubten. Vielleicht hätten die älteren Schwestern keinen besseren Vertrag mit dem Meervolk ausgehandelt.
Aviendha ging geradewegs zum Rand der Felswand, sobald sie den Hügelkamm erreicht hatten, und blieb dann dort nach Norden blickend regungslos wie eine Statue stehen. Kurz darauf erkannte Elayne, daß sie keineswegs die Aussicht bewunderte. Aviendha starrte lediglich vor sich hin. Elayne sammelte mit den drei Angrealen in Händen ein wenig unbeholfen ihre Röcke und gesellte sich zu ihrer Freundin.
Die Felswand fiel in fünfzig Fuß hohen Stufen zu den Olivenhainen hin ab, steile Reihen welligen grauen Gesteins, die bis auf einige wenige verdorrte Büsche kahl waren. Der Abgrund erschien nicht wirklich bedrohlich, aber es war doch etwas anderes, als von einem Baumwipfel zu Boden zu blicken. Seltsamerweise fühlte Elayne sich ein wenig benommen, als sie hinabblickte. Aviendha schien nicht zu bemerken, daß sich der Rand der Felswand direkt unter ihren Zehen befand.
»Beunruhigt dich etwas?« fragte Elayne leise.
Aviendha blickte weiterhin in die Ferne. »Ich habe dich enttäuscht«, sagte sie schließlich. Ihre Stimme klang tonlos und leer. »Ich konnte das Wegetor nicht angemessen gestalten, und alle haben gesehen, wie ich dich beschämt habe. Ich habe einen Diener für ein Schattenwesen gehalten und mich daraufhin töricht verhalten. Die Atha'an Miere verachten mich und betrachten die Aes Sedai, als wäre ich deren Hund, der auf ihren Befehl bellt. Ich habe behauptet, ich könnte die Schattenläuferin zum Reden bringen, aber keine Far Dareis Mai darf Gefangene befragen, ehe sie zwanzig Jahre mit dem Speer verheiratet ist; sie darf nur dabei zusehen, ehe sie zehn Jahre mit dem Speer verheiratet ist. Ich bin schwach und verweichlicht, Elayne. Ich kann es nicht ertragen, dich weiterhin zu beschämen. Wenn ich dich erneut enttäusche, werde ich sterben.«