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Elaynes Mund wurde trocken. Das klang zu sehr nach einem Versprechen. Sie ergriff fest Aviendhas Arm und zog sie vom Rand des Abgrunds zurück. Aiel konnten fast so seltsam sein, wie sie vom Meervolk beurteilt wurden. Sie glaubte nicht, daß Aviendha springen würde — nicht wirklich —, aber sie würde kein Risiko eingehen. Zumindest versuchte Aviendha sich ihr nicht zu widersetzen.

Alle übrigen schienen mit sich selbst oder miteinander beschäftigt zu sein. Nynaeve hatte begonnen, zu den Atha'an Miere zu sprechen, beide Hände fest um ihren Zopf geschlossen und das Gesicht von der Anstrengung, nicht zu schreien, beinahe so dunkel wie deren Gesichter, während sie ihr mit geringschätziger Anmaßung zuhörten. Merilille und Sareitha bewachten noch immer die Schale, und Careane versuchte recht erfolglos, mit den Frauen der Schwesternschaft ins Gespräch zu kommen. Reanne antwortete ihr, wenn sie auch unbehaglich blinzelte und ihre Lippen benetzte, aber Kirstian stand zitternd und schweigend da, während Garenia die Augen fest zupreßte. Elayne sprach dennoch leise. Dies ging niemanden sonst etwas an.

»Du hast niemanden enttäuscht, mich am allerwenigsten, Aviendha. Nichts, was du jemals getan hast, hat mich beschämt, und nichts, was du tun wirst, könnte mich jemals beschämen.« Aviendha sah sie zweifelnd an. »Und du bist ungefähr so schwach und verweichlicht wie ein Fels.« Das mußte das seltsamste Kompliment sein, das sie jemals jemandem gemacht hatte, und doch wirkte Aviendha aufrichtig erfreut. »Ich wette, daß sich selbst das Meervolk vor dir zu Tode ängstigt.« Noch ein seltsames Kompliment, aber es ließ Aviendha lächeln, wenn auch nur schwach. Elayne atmete tief durch. »Was Ispan betrifft...« Es gefiel ihr nicht, hierüber auch nur nachzudenken. »Ich dachte ebenfalls, ich könnte tun, was nötig ist, aber nur daran zu denken läßt meine Hände schwitzen und meinen Magen rumoren. Ich würde es verderben, selbst wenn ich es versuchte. Das haben wir also gemeinsam.«

Aviendha vollführte die Geste in der Zeichensprache der Töchter des Speers, die ›du erstaunst mich‹ bedeutete. Sie hatte begonnen, Elayne einige Gesten der Zeichensprache beizubringen, obwohl sie sagte, es sei verboten. Anscheinend änderte sich das bei Nächstschwestern, die noch mehr werden wollten. Aber nicht wirklich. Aviendha dachte anscheinend, ihre Erklärung sei vollkommen eindeutig gewesen. »Ich meinte nicht, daß ich es nicht kann«, sagte sie laut, »nur daß ich nicht weiß, wie ich es anstellen soll. Wahrscheinlich hätte ich sie getötet, wenn ich es versucht hätte.« Plötzlich lächelte sie stärker und herzlicher als zuvor und berührte leicht Elaynes Wange. »Wir haben beide unsere Schwächen«, flüsterte sie, »aber das ist keine Schande, solange nur wir beide davon wissen.«

»Nein«, sagte Elayne kraftlos. Sie wußte einfach nicht wie »Natürlich nicht.« Diese Frau barg mehr Überraschungen als jeder fahrende Sänger. »Hier«, sagte sie und drückte Aviendha die von ihrem Haar umhüllte Frauenfigur in die Hand. »Benutze sie im Kreis.« Es war nicht leicht, das Angreal aus der Hand zu geben. Sie hatte es selbst benutzen wollen, aber Aviendha, ihre Freundin, ihre Nächstschwester, benötigte trotz ihres Lächelns Ermunterung. Aviendha wandte die kleine Elfenbeinfigur in ihren Händen um. Elayne konnte fast sehen, wie sie zu entscheiden versuchte, auf welchem Wege sie die Figur zurückgeben könnte. »Aviendha, du weißt, wie es sich anfühlt, wenn du soviel Saidar festhältst wie möglich? Stell dir vor, doppelt soviel festzuhalten. Stell es dir wirklich vor. Ich möchte, daß du sie benutzt. Einverstanden?«

Aiel zeigten vielleicht kaum Empfindungen, aber jetzt weiteten sich Aviendhas grüne Augen. Sie hatte bei ihrer Suche über Angreale gesprochen, aber sie hatte zuvor wahrscheinlich niemals daran gedacht, wie es wäre, eines zu benutzen. »Doppelt soviel«, murmelte sie. »Soviel festzuhalten. Das kann ich mir nicht einmal vorstellen. Dies ist ein sehr großes Geschenk, Elayne.« Sie berührte erneut Elaynes Wange und drückte ihre Fingerspitzen daran. Das war die Aiel-Entsprechung eines Kusses und einer Umarmung.

Was auch immer Nynaeve dem Meervolk zu sagen hatte, es dauerte nicht lange. Sie verließ sie schon bald wieder, wobei sie heftig an ihren Röcken zerrte. Als sie sich Elayne näherte, sah sie Aviendha und den Rand des Abgrunds gleichermaßen grimmig an. Normalerweise leugnete sie, daß sie nicht schwindelfrei war, aber nun achtete sie darauf, daß die beiden anderen Frauen zwischen ihr und dem Abgrund blieben. »Ich muß mit dir reden«, murrte sie und führte Elayne ein kleines Stück auf dem Hügelkamm entlang und weiter vom Rand fort. Nur ein kleines Stück, aber weit genug von allen anderen entfernt, so daß niemand sie belauschen konnte. Sie atmete mehrere Male tief durch, bevor sie leise zu sprechen begann, wobei sie Elayne nicht ansah.

»Ich ... ich habe mich wie eine Närrin benommen. Daran ist dieser verdammte Mann schuld! Wenn er nicht bei mir ist, kann ich an kaum etwas anderes denken, und wenn er da ist, kann ich überhaupt nicht denken! Du ... du mußt mir sagen, wenn ich ... wenn ich mich töricht verhalte. Ich verlasse mich auf dich, Elayne.« Sie sprach weiterhin leise, aber ihr Tonfall wurde fast klagend. »Ich kann es mir nicht leisten, meinen Verstand wegen eines Mannes zu verlieren, nicht jetzt.«

Elayne war so erschrocken, daß sie einen Moment nichts sagen konnte. Nynaeve gab zu, töricht gewesen zu sein? Sie hätte beinahe nachgesehen, ob die Sonne grün geworden war! »Es ist nicht Lans Fehler, und das weißt du, Nynaeve«, sagte sie schließlich. Sie verdrängte die Erinnerungen an ihre eigenen, kürzlich gehegten Gedanken an Rand. Dies war nicht dasselbe. Doch die Gelegenheit war ein Geschenk des Lichts. Morgen würde Nynaeve sie wahrscheinlich ohrfeigen, wenn sie behauptete, Nynaeve sei töricht. »Beherrsche dich, Nynaeve. Hör auf, dich wie ein albernes Kind zu verhalten.« Bestimmt keine Gedanken an Rand! Sie hatte Rand nicht so sehr angehimmelt! »Du bist eine Aes Sedai, und du sollst uns anführen. Anführen! Und nachdenken!«

Nynaeve faltete die Hände über der Taille und ließ den Kopf hängen. »Ich werde es versuchen«, murmelte sie. »Ich werde es wirklich versuchen. Aber du weißt nicht, wie das ist. Ich ... es tut mir leid.«

Elayne hätte fast ihre Zunge verschluckt. Nynaeve entschuldigte sich noch zusätzlich? Nynaeve war beschämt? Vielleicht war sie krank?

Es hielt natürlich nicht an. Nynaeve betrachtete plötzlich stirnrunzelnd das Angreal und räusperte sich. »Du hast Aviendha eines gegeben, nicht wahr?« fragte sie mit Nachdruck. »Nun, sie ist gewiß vertrauenswürdig. Schade, daß wir dem Meervolk eines überlassen müssen. Ich wette, daß sie anschließend versuchen werden, es zu behalten! Nun, sollen sie es versuchen! Welches ist meines?«

Elayne reichte ihr seufzend das Armband mit den damit verbundenen Ringen, und Nynaeve schritt davon, während sie das Schmuckstück an ihre linke Hand anlegte und allen Frauen laut zurief, sie sollten ihre Plätze einnehmen. Manchmal war es schwer, die Anführerin Nynaeve von der Tyrannin Nynaeve zu unterscheiden. Zumindest, solange sie tatsächlich anführte.