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Die Schale der Winde stand inmitten der Felsplatte auf ihrer abgewickelten weißen Umhüllung, eine nahezu flache, schwere Scheibe aus reinem Kristall von zwei Fuß Durchmesser, auf deren Innenseite dicht umherwirbelnde Wolken eingearbeitet waren. Ein reich verziertes Stück und doch schlicht, wenn man bedachte, was sie — hoffentlich — zu bewirken vermochte. Nynaeve nahm ihren Platz in der Nähe der Schale ein, das Angreal um ihr Handgelenk geschlossen. Sie bewegte die Hand und wirkte überrascht, daß die Ketten ihr anscheinend kein Unbehagen bereiteten. Das Angreal schien wie für sie gemacht. Die drei Frauen der Schwesternschaft waren bereits da, Kirstian und Garenia hinter Reanne zusammengedrängt und anscheinend verängstigter denn je, wenn das noch möglich war. Die Windsucherinnen standen fast zwanzig Schritte entfernt hinter Renaile aufgereiht.

Elayne raffte ihre geteilten Röcke, trat zu Aviendha, die nahe der Schale stand, und betrachtete das Meervolk mißtrauisch. Beabsichtigten sie, ein Aufhebens zu machen? Genau das hatte sie befürchtet, seit das erste Mal erwähnt wurde, daß sich Frauen auf dem Bauernhof befänden, die vielleicht ausreichend stark waren, sich der Verbindung anzuschließen. Die Atha'an Miere beharrten so auf ihren Rängen, daß es die Weiße Burg beschämte, und Garenias Anwesenheit bedeutete, daß Renaile din Calon Blauer Stern, Windsucherin der Herrin der Schiffe der Atha'an Miere, nicht Teil des Kreises sein würde. Nicht sein sollte.

Renaile betrachtete forschend die Frauen um die Schale. Sie schien sie abzuschätzen, ihre Fähigkeiten zu beurteilen. »Talaan din Gelyn«, rief sie plötzlich barsch, »nehmt Euren Platz ein!« Es klang wie ein Peitschenhieb! Sogar Nynaeve zuckte zusammen.

Talaan verbeugte sich tief, berührte ihre Brust und lief dann zu der Schale. Sobald sie sich bewegte, rief Renaile erneut barsch: »Metarra din Junalle, nehmt Euren Platz ein!« Metarra, rundlich, aber doch kräftig, eilte hinter Talaan her. Beide waren noch zu jung, um sich den vom Meervolk sogenannten ›Salznamen‹ verdient zu haben.

Einmal begonnen, ratterte Renaile alle Namen rasch herunter; sie setzte auch Rainyn und die beiden anderen Windsucherinnen in Bewegung, die alle schnell reagierten, wenn auch nicht so hastig wie die Neulinge. Der Anzahl ihrer Medaillons nach zu urteilen, standen Naime und Rysael rangmäßig höher als Rainyn, würdevolle Frauen mit einer ruhigen Befehlshaltung, aber merklich schwächer im Gebrauch der Macht. Dann hielt Renaile nur einen Herzschlag lang inne, und doch stach dieser Moment aus der raschen Aufzählung hervor. »Tebreille din Gelyn Südwind, nehmt Euren Platz ein! Caire din Gelyn Fließende Woge, übernehmt das Kommando!«

Elayne empfand einen Moment der Erleichterung, daß Renaile nicht auch sie selbst genannt hatte, aber dieser Moment dauerte nur so lange, wie Renailes Innehalten gedauert hatte. Tebreille und Caire wechselten einen Blick, Tebreille grimmig und Caire selbstgefällig, bevor sie zur Schale traten. Acht Ohrringe und eine Vielzahl von einander überlappenden Medaillons wiesen die Windsucherinnen als Wogenherrinnen der Clans aus. Allein Renaile stand über ihnen. Nur Dorile unter den auf der Felsplatte befindlichen Meervolk-Leuten kam ihnen gleich. In mit Brokat versehene gelbe Seide gehüllt, war Caire ein wenig größer. Tebreille, in ebenfalls mit Brokat verbrämter grüner Seide, hatte das etwas strengere Gesicht, aber beide waren überaus hübsche Frauen, und man mußte nicht ihre Namen wissen, um zu erkennen, daß sie blutsverwandt waren. Sie hatten dieselben großen, fast schwarzen Augen, dieselbe gerade Nase, das gleiche kräftige Kinn. Caire deutete schweigend auf den Platz zu ihrer Rechten. Tebreille sagte ebenfalls nichts; noch zögerte sie, den ihr von ihrer Schwester angewiesenen Platz einzunehmen, aber ihr Gesicht war starr. Mit ihr umgab jetzt ein Kreis von dreizehn Frauen fast Schulter an Schulter die Schale. Caires Augen funkelten beinahe. Tebreilles Augen wirkten trüb. Elayne wurde an ein weiteres Sprichwort Linis erinnert. Kein Dolch ist schärfer als der Haß einer Schwester.

Caire sah sich in dem Kreis der Frauen um die Schale um, der noch kein geschlossener Kreis war, als versuche sie, sich jedes Gesicht zu merken. Elayne kam zu sich, übergab Talaan hastig das letzte Angreal, die kleine Elfenbeinschildkröte, und erklärte, wie es benutzt wurde. Die Erklärung war einfach, und doch konnte jedermann, der es ohne Erklärung zu benutzen versuchte, Stunden damit vergeuden. Sie konnte jedoch keine fünf Worte äußern.

»Ruhe!« brüllte Caire. Die tätowierten Fäuste in die Hüften gestemmt und die bloßen Füße auseinander stehend, hätte sie an Deck eines in die Schlacht segelnden Schiffes gehört. »Niemand hier wird ohne meine Erlaubnis sprechen. Talaan, Ihr erstattet sofort Bericht, wenn Ihr auf Euer Schiff zurückgekehrt seid.« Nichts an Caires Tonfall ließ vermuten, daß sie zu ihrer eigenen Tochter sprach. Talaan verbeugte sich tief, berührte ihre Brust und murmelte etwas Unhörbares. Caire schnaubte verächtlich — sie funkelte Elayne auf eine Art und Weise an, die ihren Wunsch vermuten ließ, sie könnte sie auch zur Berichterstattung verpflichten —, bevor sie mit einer Stimme fortfuhr, die man sicherlich noch am Fuße des Hügels hören konnte. »Heute werden wir tun, was seit der Zerstörung der Welt nicht mehr getan worden ist, als unsere Vorfahren gegen die entfesselte Natur gekämpft haben. Sie haben durch die Schale der Winde und die Gnade des Lichts überlebt. Heute werden wir die Schale der Winde benutzen, die uns mehr als zweitausend Jahre lang verloren war und uns jetzt zurückgegeben wurde. Ich habe das alte Wissen studiert, die Aufzeichnungen aus der Zeit, als unsere Vorfahren zum erstemal das Meer und das Weben der Winde kennenlernten und unserem Blut das Salz zugeführt wurde. Ich weiß alles, was über die Schale der Winde bekannt ist, mehr als jede andere.« Sie blickte zu ihrer Schwester, ein zufriedener Blick, den Tebreille ignorierte, was Caire noch mehr zufriedenzustellen schien. »Ich werde, wenn es dem Licht gefällt, heute tun, wozu die Aes Sedai nicht imstande sind. Ich erwarte, daß Ihr alle bis zuletzt standhaltet. Ich werde kein Versagen dulden.«

Die übrigen Atha'an Miere hatten diese Ansprache anscheinend erwartet und fanden sie angemessen, aber die Frauen der Schwesternschaft sahen Caire erstaunt an. Elaynes Ansicht nach war Anmaßung nicht annähernd die richtige Bezeichnung. Caire erwartete allen Ernstes, daß es dem Licht gefiele, und es ihr zutiefst mißfallen würde, wenn dem nicht so wäre! Nynaeve blickte gen Himmel und öffnete den Mund. Caire kam ihr zuvor. »Nynaeve«, verkündete die Windsucherin laut, »Ihr werdet jetzt Eure Fähigkeit im Verbinden unter Beweis stellen. Macht Euch an die Arbeit, Frau, schnell!«

Nynaeve schloß fest die Augen. Ihr Mund ... verzerrte sich. Sie wirkte, als stünde sie vor einem Zusammenbruch. »Vermutlich bedeutet das, daß ich die Erlaubnis zu sprechen habe!« murmelte sie —glücklicherweise zu leise, als daß Caire auf der anderen Seite des Kreises es hätte hören können. Sie öffnete die Augen wieder und setzte ein schwaches Lächeln auf, das sich auf grausige Weise von ihrem übrigen Gesichtsausdruck unterschied. Sie war das pure Unbehagen.

»Als erstes muß die Wahre Quelle umarmt werden, Caire.« Das Licht Saidars schien plötzlich hell um Nynaeve. Elayne spürte, daß sie das Angreal in ihrer Hand bereits benutzte. »Ihr wißt vermutlich, wie man dies tun muß.« Nynaeve ignorierte, daß Caire jäh die Lippen zusammenpreßte, und fuhr fort. »Elayne wird mir jetzt bei der Demonstration helfen. Wenn wir Eure Erlaubnis haben?«

»Ich bereite mich darauf vor, die Quelle zu umarmen«, warf Elayne schnell ein, bevor Caire sie unterbrechen konnte, »aber ich umarme sie noch nicht wirklich.« Sie hielt inne; die Windsucherinnen beugten sich vor und beobachteten sie, obwohl in Wirklichkeit noch nichts zu sehen war. Selbst Kirstian und Garenia vergaßen ihre Angst soweit, daß sie Interesse zeigten. »Während ich in diesem Stadium verharre, vollführt Nynaeve den Rest.«