»Jetzt werde ich mich nach ihr ausstrecken...« Nynaeve hielt inne und sah Talaan an. Elayne hatte keine Gelegenheit gehabt, ihr etwas Wesentliches zu sagen. »Es ist genauso wie mit dem Angreal«, sagte Nynaeve an den schlanken Neuling gewandt. Caire grollte, und Talaan versuchte, Nynaeve mit gesenktem Kopf zu beobachten. »Ihr öffnet Euch durch ein Angreal zur Quelle, genauso wie ich mich durch Elayne zur Quelle öffnen werde. Als wolltet Ihr das Angreal und die Quelle gleichzeitig umarmen. Es ist wirklich nicht sehr schwer. Seht gut zu, und Ihr werdet es erkennen. Wenn Ihr bereit seid, Euch in den Kreis einzubringen, dann tretet einfach hinzu. Auf diese Weise werde ich die Quelle, wenn ich sie durch Euch umarme, auch durch das Angreal umarmen.«
Ob Konzentration oder nicht — Schweißperlen traten auf Elaynes Stirn. Die Hitze hatte nichts damit zu tun. Die Wahre Quelle lockte. Sie pulsierte, und Elayne pulsierte mit ihr. Sie forderte. Je länger sie eine Haaresbreite von der Berührung der Macht trennte, desto stärker würden das Verlangen und die Notwendigkeit. Sie begann leicht zu zittern. Vandene hatte ihr gesagt, daß die Erwartung um so schlimmer wurde, je länger man die Macht lenkte.
»Achtet auf Aviendha«, wies Nynaeve Talaan an. »Sie weiß, wie man...« Sie gewahrte Elaynes Gesicht und stieß hastig hervor: »Achtet darauf!«
Es war nicht genau das gleiche, als wenn man ein Angreal benutzte, wenn es dem auch sehr nahe kam. Es war auch nicht vorgesehen, es eilig zu tun. Nynaeves Berührung war, milde ausgedrückt, nicht sanft. Elayne fühlte sich, als würde sie geschüttelt. Physisch geschah nichts, aber in ihrem Kopf sprang sie scheinbar umher und stürzte dann einen steilen Hang hinab. Schlimmer noch, sie wurde mit quälender Langsamkeit auf die Umarmung Saidars zu gedrängt. Es dauerte kürzer als einen Herzschlag und schien doch Stunden, Tage zu dauern. Sie wollte schreien, aber sie konnte nicht atmen. Dann floß die Eine Macht jäh durch sie hindurch, wie ein berstender Damm, ein Ansturm von Leben und Freude, von Entzücken, und der Atem wich in langen Zügen des Vergnügens und einer solch großen Erleichterung aus ihr, daß ihre Beine zitterten. Sie konnte nur mühsam ein Keuchen unterdrücken. Sie zog sich taumelnd hoch und sah Nynaeve finster an, und Nynaeve zuckte entschuldigend die Achseln. Zweimal an einem Tag! Die Sonne mußte grün werden.
»Ich kontrolliere jetzt ihren wie auch meinen Strom Saidar«, fuhr Nynaeve fort, ohne Elaynes Blick wirklich zu begegnen, »und werde es weiterhin tun, bis ich Elayne loslasse. Befürchtet nun nicht, daß derjenige, der den Kreis anführt«, sie warf Caire einen finsteren Blick zu und schnaubte, »Euch dazu bringen kann, zuviel Macht heranzuziehen. Dies ist einem Angreal sehr ähnlich. Das Angreal fängt zusätzliche Macht vor Euch ab, und ungefähr auf die gleiche Weise könnt Ihr in einem Kreis nicht dazu gebracht werden, zuviel Macht heranzuziehen. Tatsächlich könnt Ihr in einem Kreis nicht ganz soviel Macht heranziehen wie son...«
»Das ist gefährlich!« unterbrach Renaile sie und drängte sich grob zwischen Caire und Tebreille hindurch. Ihr finsterer Blick schloß auch Nynaeve, Elayne und die Schwestern, die abseits vom Kreis standen, mit ein. »Ihr sagt, daß eine Frau eine andere einfach ergreifen, gefangenhalten, benutzen kann? Wie lange wißt Ihr Aes Sedai das schon? Ich warne Euch — wenn Ihr es bei einer von uns anzuwenden versucht...« Jetzt wurde sie unterbrochen.
»So geht das nicht, Renaile.« Sareitha berührte Garenia, und sie und Kirstian stoben auseinander, um ihr Platz zu machen. Die junge Braune sah Nynaeve unsicher an, faltete dann die Hände und nahm einen belehrenden Tonfall an, als spräche sie zu einer Schulklasse. Damit kehrte auch ihre Haltung zurück. Vielleicht sah sie Renaile in diesem Moment tatsächlich als Schülerin an. »Die Burg hat dies viele Jahre lang, schon lange vor den Trolloc-Kriegen, studiert. Ich habe jede Seite gelesen, die von jener Forschung in der Burg-Bibliothek überdauert hat. Es wurde überzeugend bewiesen, daß sich eine Frau nicht gegen den Willen einer anderen Frau mit ihr verbinden kann. Es kann einfach nicht geschehen. In diesem Fall passiert nichts. Bereitwillige Hingabe ist notwendig, genau wie das eigene Umarmen Saidars.« Sie klang vollkommen überzeugt, aber Renaile runzelte noch immer die Stirn. Zu viele Menschen wußten, wie Aes Sedai den Eid, der das Lügen verbot, umgehen konnten.
»Und warum hat die Burg es erforscht?« fragte Renaile. »Warum war die Weiße Burg daran so interessiert? Vielleicht forscht Ihr Aes Sedai noch immer daran?«
»Das ist lächerlich.« Sareithas Stimme klang verärgert. »Wenn Ihr es wissen wollt, hat die Auseinandersetzung mit Männern, die die Macht lenken können, sie dazu geführt. Die Zerstörung der Welt war damals für einige noch eine lebendige Erinnerung. Vermutlich erinnern sich nicht mehr sehr viele Schwestern daran — es gehörte nicht zu der notwendigen Unterweisung seit der Zeit vor den Trolloc-Kriegen —, aber Männer können auch in den Kreis mit eingebracht werden, und da der Kreis nicht bricht, selbst wenn man schläft... Nun, Ihr könnt die Vorteile erkennen. Das war leider ein grundlegendes Versäumnis. Um wieder auf uns zurückzukommen, behaupte ich erneut, daß es unmöglich ist, eine Frau in einen Kreis zu zwingen. Wenn Ihr meine Worte anzweifelt, versucht es selbst. Ihr werdet es sehen.«
Renaile nickte und akzeptierte damit letzteres. Man konnte nur wenig mehr tun, wenn eine Aes Sedai eine einfache Tatsache feststellte. Und doch fragte sich Elayne: Was stand auf jenen Seiten, welche die Zeit nicht überdauert hatten? Sie hatte in einem Moment eine leichte Veränderung an Sareithas Tonfall bemerkt. Sie hatte Fragen. Später, wenn weniger Zuhörer dabei waren.
Als sich Renaile und Sareitha zurückzogen, zupfte Nynaeve ihre geteilten Röcke zurecht; durch die Unterbrechung eindeutig irritiert, öffnete sie erneut den Mund.
»Fahrt mit Eurer Demonstration fort, Nynaeve«, befahl Caire barsch. Ihr dunkles Gesicht war vielleicht so unbewegt wie die Oberfläche eines zugefrorenen Teichs, aber sie war ebenfalls nicht sehr erfreut.
Nynaeve bewegte bereits die Lippen, bevor ein Laut hervordrang, und als sie sprach, geschah es eilig, als befürchte sie, daß sie womöglich abermals unterbrochen würde.
Der nächste Teil der Lektion bestand darin, die Kontrolle über den Kreis weiterzugeben. Das mußte gleichfalls freiwillig geschehen, und selbst als sich Elayne zu Nynaeve ausstreckte, hielt sie den Atem an, bis sie die kaum merkliche Veränderung spürte, die bedeutete, daß jetzt sie die in sie hineinfließende Macht kontrollierte. Und jene, die in Nynaeve hineinfloß, natürlich ebenfalls. Sie war sich nicht sicher gewesen, daß es funktionieren würde. Nynaeve konnte mühelos einen Kreis bilden, wenn auch nicht sehr geschickt, aber die Führung weiterzugeben, schloß auch eine Art Verzicht mit ein. Nynaeve hatte normalerweise erhebliche Schwierigkeiten damit, Kontrolle abzugeben oder in einen Kreis eingebracht zu werden, genauso wie es ihr einst schwergefallen war, sich Saidar zu überlassen. Dies war auch der Grund dafür, warum Elayne im Moment die Führung beibehielt. Sie würde an Caire weitergegeben werden müssen, und Nynaeve schaffte es vielleicht nicht, sie zweimal loszulassen. Die Entschuldigungen mußten für sie weitaus leichter gewesen sein.
Elayne verband sich als nächstes mit Aviendha, damit Talaan tatsächlich erkennen konnte, wie dies mit einem Angreal geschah, soweit man es überhaupt sehen konnte, und es funktionierte einwandfrei. Aviendha lernte sehr schnell und verschmolz auf Anhieb mit der Verbindung. Talaan lernte ebenfalls schnell, wie sich herausstellte, und fügte ohne Zögern ihren noch stärkeren, durch das Angreal heraufbeschworenen Machtstrom hinzu. Elayne führte die Frauen eine nach der anderen in den Kreis, und sie selbst erschauderte beinahe unter dem gewaltigen Strom der Macht, die in sie hineinströmte. Niemand zog bisher auch nur annähernd soviel Macht heran wie sie selbst, aber die Machtströme summierten sich, besonders wenn ein Angreal im Spiel war. Elaynes Wahrnehmung steigerte sich mit jeder zusätzlichen Menge Saidar. Sie konnte die schweren Düfte in den durchbrochenen goldenen Dosen riechen, welche die Windsucherinnen um den Hals trugen, und sie voneinander unterscheiden. Sie konnte jede Falte und jede Naht an jedermanns Kleidung genauso deutlich ausmachen, als würde sie ihre Nase auf den Stoff pressen, wenn nicht noch deutlicher. Sie war sich der geringsten Luftbewegung auf ihrer Haut und in ihrem Haar bewußt, Liebkosungen, die sie ohne die Macht niemals wahrgenommen hätte.