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Nynaeve äußerte leise grollend etwas über die Seanchaner, was ihrem Tonfall nach zu urteilen besonders drastisch gewesen sein mußte. »Nun, und ich werde nicht zulassen, daß du dich ausbrennst!« sagte sie laut. »Jetzt mach das rückgängig! Bevor das Ganze explodiert, wie Vandene sagte. Du wirst uns alle töten!«

»Es kann nicht rückgängig gemacht werden«, sagte Aviendha und legte eine Hand auf Nynaeves Arm. »Sie hat es angefangen, und jetzt muß sie es beenden. Du mußt tun, was sie sagt, Nynaeve.«

Nynaeve senkte die Augenbrauen. ›Muß‹ war ein Wort, das sie auf sich gemünzt gar nicht mochte. Sie war jedoch keine Närrin, so daß sie nach mehreren Blicken — auf Elayne, auf das Wegetor, auf Aviendha, auf die Welt im allgemeinen — die Arme um Elayne schlang und sie heftig an sich drückte.

»Sei vorsichtig, hörst du?« flüsterte sie. »Wenn du dich töten läßt, schwöre ich, daß ich dir bei lebendigem Leibe die Haut abziehen werde!« Elayne brach trotz allem in Lachen aus. Nynaeve schnaubte und schob sie an den Schultern auf Armeslänge von sich. »Du weißt, was ich meine«, grollte sie. »Und denk nicht, daß ich spaße, denn ich meine es durchaus ernst! Ich meine es ernst«, fügte sie sanfter hinzu.

»Paß auf dich auf.«

Es dauerte einen Moment, bis Nynaeve sich wieder gefaßt hatte. Sie blinzelte und straffte ihre blauen Reithandschuhe. Tränen schimmerten kaum wahrnehmbar in ihren Augen, obwohl das eigentlich nicht sein konnte. Nynaeve brachte andere Menschen zum Weinen, weinte aber selbst nicht. »Also dann«, verkündete sie laut. »Alise, wenn noch nicht alle bereit sind...« Sie wandte sich um und brach erstickt ab.

Alle, die inzwischen aufgestiegen sein sollten, waren tatsächlich aufgestiegen, selbst die Atha'an Miere. Die Behüter waren um die anderen Schwestern versammelt. Lan und Birgitte waren zurückgekehrt, und Birgitte beobachtete Elayne besorgt. Die Diener hatten die Packpferde in einer Reihe aufgestellt, und die Frauen der Schwesternschaft warteten geduldig. Die meisten von ihnen waren zu Fuß. Eine Anzahl Pferde, die zum Reiten hätten verwendet werden können, waren mit Säcken voller Nahrung und Bündeln Habe beladen. Frauen, die mehr mitgenommen hatten, als Alise erlaubt hatte — keine Frauen der Schwesternschaft — trugen ihre Bündel auf dem Rücken. Die schlanke Adlige mit der Narbe war durch ihre Last stark vornüber gebeugt und vermied es, Alise anzusehen. Alle Frauen, welche die Macht lenken konnten, betrachteten das Wegetor. Und alle Frauen, die Vandene von den Gefahren hatten sprechen hören, beobachteten den einzelnen zuckenden Faden, wie sie eine rote Viper beobachtet hätten.

Alise selbst brachte Nynaeve ihr Pferd und richtete ihren Hut mit den blauen Federn, während Nynaeve einen Fuß in den Steigbügel setzte. Nynaeve wandte die gedrungene Stute nordwärts, wobei sie eine zutiefst gekränkte Miene aufsetzte, während Lan auf Mandarb neben sie ritt. Elayne verstand nicht, warum sie Alise nicht einfach zurechtwies. Wenn man Nynaeves Erzählungen glauben durfte, hatte sie Frauen, die älter waren als sie, bereits in frühestem Alter zurechtgewiesen. Und sie war jetzt immerhin eine Aes Sedai. Das sollte sie jeder Frau der Schwesternschaft weit überlegen machen.

Als die Kolonne zu den Hügeln aufbrach, schaute Elayne zu Aviendha und Birgitte. Aviendha stand schweigend da, die Arme unter den Brüsten verschränkt, und hielt das Angreal der in ihr Haar gehüllten Frau mit einer Hand fest umklammert. Birgitte nahm Elayne Löwins Zügel ab, band sie mit denen ihres eigenen Pferdes zusammen, ging dann zu einem zwanzig Schritt entfernten Felsen und setzte sich hin.

»Ihr beide müßt...«, begann Elayne und hustete dann, als Aviendha überrascht die Augenbrauen wölbte. Es war unmöglich, Aviendha aus einem Gefahrengebiet fortzuschicken, ohne sie zu beschämen. Vielleicht war es überhaupt unmöglich. »Ich möchte, daß du mit den anderen gehst«, sagte sie zu Birgitte. »Und nimm Löwin auch mit. Aviendha und ich können uns auf ihrem Wallach abwechseln. Ich würde gern vor dem Schlafengehen noch einen Spaziergang machen.«

»Wenn du einen Mann jemals auch nur halb so gut behandelst wie dieses Pferd«, sagte Birgitte trocken, »wird er dir ein Leben lang treu sein. Ich glaube, ich werde einfach eine Weile sitzen bleiben. Ich bin heute lange genug geritten. Ich stehe dir nicht ständig zur Verfügung. Wir können das Spiel vor den Schwestern und den anderen Behütern spielen, um dir eine gewisse Verlegenheit zu ersparen, aber wir beide wissen es besser.« Elayne spürte trotz der spöttischen Worte Birgittes Zuneigung. Nein, etwas Stärkeres als Zuneigung. Ihre Augen brannten plötzlich. Ihr Tod würde Birgitte zutiefst verletzen — der Behüterbund sorgte dafür —, aber jetzt blieb sie wegen ihrer Freundschaft.

»Ich bin dankbar, zwei Freundinnen wie euch zu haben«, sagte sie schlicht. Birgitte grinste sie an, als hätte sie etwas Spaßiges gesagt.

Aviendha errötete jedoch vor Zorn und starrte Birgitte mit geweiteten Augen an, als sei die Gegenwart der Behüterin die Ursache für ihre geröteten Wangen. Sie wandte den Blick hastig zu den Menschen, die den ersten Hügel noch nicht erreicht hatten und noch ungefähr eine halbe Meile davon entfernt waren. »Du solltest besser warten, bis sie außer Sicht sind«, sagte sie, »aber du darfst auch nicht zu lange warten. Wenn du mit der Auflösung erst begonnen hast, werden die Stränge nach einiger Zeit allmählich ... glatt. Einen Strang loszulassen, bevor er sich aus dem Gewebe gelöst hat, ist genauso, als würde man das Gewebe loslassen. Es wird dann zu etwas Beliebigem zerfallen. Aber du brauchst dich auch nicht sonderlich zu beeilen. Jeder Faden muß so weit frei gezogen werden wie möglich. Je mehr Fäden sich lösen, desto leichter werden andere zu sehen sein, aber du mußt stets den am besten sichtbaren Faden herauspicken.« Sie lächelte herzlich und drückte ihre Finger fest auf Elaynes Wange. »Du wirst es richtig machen, wenn du vorsichtig bist.«

Es klang nicht so schwierig. Sie mußte nur vorsichtig sein. Es dauerte ziemlich lange, bis die letzte Frau über dem Hügel verschwand, die schlanke Adlige, die unter der Last ihrer Kleider gebeugt ging. Die Sonne schien überhaupt nicht untergehen zu wollen, obwohl schon Stunden vergangen sein mußten. Was hatte Aviendha mit ›glatt‹ gemeint? Das Wort hatte nicht so viele Bedeutungen — es mußte wohl lediglich bedeuten, daß die Stränge dann schwer festzuhalten waren.

Elayne fand es heraus, sobald sie erneut begann. ›Glatt‹ war ein lebendiger Aal, wenn man ihn mit Öl einrieb. Sie knirschte schon bei dem Versuch, den ersten Faden festzuhalten, mit den Zähnen, und dann sollte sie ihn auch noch herausziehen. Nur die Tatsache, daß es noch weitere zu lösen galt hinderte sie daran, erleichtert aufzuseufzen, als der Strang zu zücken begann und sich schließlich löste. Würden sie noch glatter, war sie sich nicht sicher, daß sie es schaffen könnte. Aviendha beobachtete sie genau, schwieg aber, obwohl sie Elayne stets ermutigend zulächelte, wenn diese es brauchte. Elayne konnte Birgitte nicht sehen — sie wagte es nicht, den Blick von ihrer Arbeit abzuwenden —, und doch konnte sie Birgitte spüren, als kleine Ansammlung felsenfesten Vertrauens in ihrem Kopf, genug Vertrauen, daß es sie erfüllte.

Schweiß lief ihr über das Gesicht, den Rücken und den Bauch hinab, bis sie sich auch selbst ›glatt‹ zu fühlen begann. Ein Bad wäre heute abend höchst willkommen. Nein, daran durfte sie jetzt nicht denken. Alle Aufmerksamkeit mußte den Fäden gelten. Sie zitterten in ihrem Griff, sobald sie einen berührte, aber sie lösten sich noch immer, und jedesmal, wenn ein Faden zu zucken begann, schien sich ein weiterer aus der Masse zu losen, zu plötzlich, um deutlich erkennbar zu sein, da zuvor nur eine feste Masse Saidar dagewesen war. Aus ihrem Blickwinkel erinnerte das Wegetor an ein schreckliches, verzerrtes Wesen am Grund eines Teichs, von zuckenden Ranken umgeben, die wuchsen, sich wanden und verschwanden, nur um durch neue ersetzt zu werden. Die für jedermann sichtbare Öffnung dehnte sich an den Rändern und veränderte beständig ihre Gestalt und sogar die Größe. Elaynes Beine begannen zu zittern, und die Anstrengung beeinträchtigte ihr Sehvermögen ebenso wie der Schweiß. Sie wußte nicht, wieviel länger sie noch weitermachen konnte. Sie biß die Zähne zusammen und kämpfte. Ein Faden nach dem anderen. Ein Faden nach dem anderen...