Tausend Meilen entfernt, weniger als hundert Schritt durch das zitternde Wegetor, rannten Dutzende von Soldaten um die weißen Gebäude des Bauernhofs herum, kleine Männer mit Armbrusten, braunen Brustharnischen und bemalten Helmen, die wie die Köpfe riesiger Insekten aussahen. Hinter ihnen kam eine Frau mit roten Abzeichen, einem Silberblitz auf den Röcken und einem Armband um ihr Handgelenk; die daran befestigte silberne Koppel war mit dem Band um den Hals einer Frau in Grau verbunden. Danach kamen eine weitere Sul'dam und ihre Damane und noch ein weiteres Paar. Eine der Sul'dam deutete auf das Wegetor, und plötzlich umhüllte das Schimmern Saidars ihre Sul'dam.
»Runter!« schrie Elayne und ließ sich rückwärts fallen, außer Sicht des Bauernhofs, als ein silberblauer Blitz mit ohrenbetäubendem Brüllen durch das Wegetor schoß und sich wild in alle Richtungen ausbreitete. Ihre Haare sträubten sich. Alle Strähnen versuchten sich einzeln aufzurichten, und donnernde Erdfontänen brachen auf, wo immer einer der Ausläufer des Blitzes auftraf. Erde und Steine regneten auf sie herab.
Elaynes Hörvermögen kehrte jäh zurück, und sie nahm die Stimme eines Mannes von der anderen Seite der Öffnung in undeutlichem, gedehntem Tonfall wahr, der ihr ebenso eine Gänsehaut verursachte wie die Worte. »...müßt sie lebend gefangennehmen, ihr Narren!«
Plötzlich sprang einer der Soldaten unmittelbar vor ihr auf die Wiese. Birgittes Pfeil bohrte sich durch die auf seinen Lederbrustharnisch gepreßte Faust. Ein zweiter seanchanischer Soldat stolperte über den ersten, als dieser hinfiel, und Aviendhas Gürteldolch stak bereits in seiner Kehle, bevor er sich wieder aufrappeln konnte. Ein Pfeilhagel wurde von Birgittes Bogen abgeschossen. Sie hatte einen Stiefel auf die Zügel ihres Pferdes gestellt und lächelte grimmig, während sie schoß. Die Pferde warfen zitternd die Köpfe hoch und tänzelten, als wollten sie sich losreißen und davonlaufen, aber Birgitte stand nur da und schoß, so schnell sie die Pfeile einlegen konnte. Schreie von jenseits des Wegetors zeigten an, daß Birgitte Silberbogen noch immer mit jedem abgeschossenen Pfeil traf. Die Antwort erfolgte, schnell wie ein schlechter Gedanke. Schwarze Striche, Armbrustpfeile. So rasch, alles geschah so rasch. Aviendha fiel zu Boden, Blut lief über die Finger, die ihren rechten Arm umklammerten, aber sie ließ ihre Wunde sofort wieder los, kroch vorwärts, suchte auf dem Boden mit angespanntem Gesicht nach dem Angreal. Birgitte schrie auf. Sie ließ den Bogen fallen und umfaßte ihren rechten Oberschenkel, aus dem ein Pfeil ragte. Elayne spürte den Schmerz so stark, als wäre es ihr eigener.
Sie ergriff in ihrer halb auf dem Rücken liegenden Stellung verzweifelt einen weiteren Faden des Gewebes. Und erkannte nach einem Zug entsetzt, daß sie nicht mehr tun konnte, als ihn nur festzuhalten. Hatte sich der Faden bewegt? Hatte er sich überhaupt ein Stück gelöst? Wenn dem so war, wagte sie ihn nicht loszulassen. Der Faden zitterte in ihrem Griff.
»Lebend, sagte ich!« brüllte die seanchanische Stimme. »Niemand, der eine Frau tötet, bekommt etwas von dem erbeuteten Gold!« Der Regen von Armbrustpfeilen hörte auf.
»Ihr wollt mich gefangennehmen?« rief Aviendha. »Dann kommt und tanzt mit mir!« Jäh war sie vom Schimmern Saidars umgeben, selbst mit dem Angreal noch schwach, und Feuerkugeln sprangen vor dem Wegetor auf und stoben immer wieder hindurch. Keine sehr großen Kugeln, aber die Wucht des Aufpralls in Altara war beständig zu hören. Aviendha keuchte jedoch vor Anstrengung, und ihr Gesicht glänzte vor Schweiß. Birgitte hatte ihren Bogen wieder aufgenommen, jeder Zoll die Heldin der Legende. Während Blut ihr Bein hinablief und sie kaum stehen konnte, hatte sie schon wieder einen Pfeil halbwegs herausgezogen und suchte nach einem neuen Ziel.
Elayne versuchte, ihre Atmung zu beruhigen. Sie konnte um keinen Preis mehr Macht heranziehen. »Ihr beide müßt fliehen«, sagte sie. Elayne konnte nicht glauben, daß sie so eiskalt und ruhig klang. Sie wußte, daß sie hätte jammern sollen. Ihr Herz pochte heftig.
»Ich weiß nicht, wie lange ich das hier noch halten kann.« Das galt sowohl für das Gewebe insgesamt als auch für den einzelnen Faden, Entglitt er ihr? »Flieht, so schnell ihr könnt. Auf der anderen Seite der Berge solltet ihr sicher sein, aber jeder Meter, den ihr bewältigen könnt, nützt etwas. Geht!«
Birgitte grollte etwas in der Alten Sprache, aber nichts, was Elayne bekannt war. Es klang wie Sätze, die sie gern lernen würde. Wenn jemals die Gelegenheit dazu bestünde. Birgittes folgende Worte konnte Elayne jedoch verstehen. »Wenn du dieses verdammte Ding losläßt, bevor ich es dir sage, wirst du nicht mehr darauf warten müssen, daß Nynaeve dir die Haut abzieht. Ich werde es selbst tun — dann erst kommt sie an die Reihe. Sei einfach still und halte fest! Aviendha, komm hier herum — hinter dieses Ding! Kannst du es von der Rückseite aus aufrechterhalten? Komm her und steig auf eines dieser verdammten Pferde.«
»Solange ich sehen kann, wo ich weben muß«, erwiderte Aviendha und richtete sich taumelnd auf. Sie wankte seitwärts und fing sich nur mühsam wieder. Blut aus einer bösen Wunde floß ihren Ärmel hinab. »Ich denke, ich kann es.« Sie verschwand hinter dem Wegetor, und die Feuerkugeln barsten weiterhin. Man konnte von der anderen Seite durch ein Wegetor hindurchblicken, aber das Bild erschien dann wie ein Trugbild. Man konnte von jener Seite jedoch nicht hindurchgehen — der Versuch wäre extrem schmerzhaft —, und als Aviendha wieder erschien, wankte sie noch stärker. Birgitte half ihr, auf ihr Pferd zu steigen — rückwärts. Auch das noch!
Als Birgitte ihr dringliche Zeichen gab, machte Elayne sich nicht die Mühe, den Kopf zu schütteln. Sie fürchtete, was geschehen könnte, wenn sie es tat. »Ich bin mir nicht sicher, daß ich noch festhalten kann, wenn ich aufzustehen versuche.« In Wahrheit war sie sich nicht sicher, ob sie überhaupt aufstehen konnte. Es hatte nichts mehr mit Erschöpfung zu tun —ihre Muskeln hatten jede Kraft verloren. »Reitet, so schnell ihr könnt. Ich werde so lange festhalten wie möglich. Bitte, geht!«
Birgitte murmelte in der Alten Sprache Flüche — es mußten Flüche sein, denn nichts sonst klang jemals so! — und drückte Aviendha die Zügel der Pferde in die Hand. Sie hinkte zu Elayne, wobei sie zweimal beinahe hinfiel, und beugte sich herab, um sie an den Schultern zu fassen. »Du kannst festhalten«, sagte sie, wobei ihre Stimme voller Überzeugung war, die sie auch Elayne gefühlsmäßig vermittelte. »Ich bin vor dir noch niemals einer Königin von Andor begegnet, aber ich habe Königinnen wie dich gekannt. Ihr habt ein Rückgrat aus Stahl und das Herz einer Löwin. Du kannst es schaffen!«
Sie zog Elayne langsam hoch, wartete ihre Antwort jedoch nicht ab. Ihr Gesicht war angespannt, und der Schmerz in ihrem Bein hallte in Elaynes Kopf wider. Elayne zitterte unter der Anstrengung, das Gewebe festzuhalten. Sie war überrascht, sich aufrecht stehend wiederzufinden. Und lebend. Birgittes Bein pochte in ihrem Kopf wie wahnsinnig. Sie versuchte, sich nicht auf Birgitte zu stützen, aber ihre zitternden Glieder wollten sie nicht mehr allein tragen. Als sie auf die Pferde zuwankten, schaute sie beständig über die Schulter zurück. Sie konnte ein Gewebe festhalten, ohne hinzusehen — normalerweise konnte sie es —, aber sie mußte sich versichern, daß sie diesen einen Faden tatsächlich noch unter Kontrolle hielt, daß er ihr nicht entglitt. Das Wegetor erinnerte jetzt an kein ihr bekanntes Gewebe mehr, es wand sich wild und verflocht wirre Tentakel.