Er dachte oft, Faile könne seine Gedanken lesen, normalerweise wenn er es am wenigsten wollte, und sie bewies es erneut, als sie ihre rabenschwarze Stute Schwalbe dicht neben seinen Braunen führte. Ihr eng geschnittenes Reitgewand war fast so dunkel wie die Stute, und doch schien sie die Hitze besser zu vertragen als er. Sie roch leicht nach Kräuterseife und sauberem Schweiß — nach sich selbst. Nach Entschlossenheit. Der Blick ihrer schrägstehenden Augen wirkte sehr entschlossen, und auch mit ihrer kühn geschwungenen Nase erinnerte sie sehr an ihren Namensvetter, den Falken.
»Ich möchte keine Löcher in dieser edlen blauen Jacke sehen, Gemahl«, sagte sie weich und nur für seine Ohren bestimmt, »und diese Burschen benehmen sich so, als würden sie Fremde vielleicht einfach beschießen, bevor sie fragen, wer sie sind. Wie willst du zudem zu Alliandre gelangen, ohne deinen Namen in die Welt hinauszuposaunen? Denk daran, daß dies im stillen geschehen muß.« Sie sagte nicht, daß sie gehen sollte, daß die Torwächter eine Frau allein für einen Flüchtling vor den Wirren halten würden, daß sie die Königin, die den Namen ihrer Mutter benutzte, erreichen könnte, ohne zuviel Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, aber das war auch nicht nötig. Er hatte all das und mehr jeden Abend von ihr gehört, seit sie Ghealdan betreten hatten. Er war teilweise hier, weil Alliandre in ihrem vorsichtig gehaltenen Brief an Rand ... Unterstützung? ... Treue? ... anbot. Auf jeden Fall war ihr Wunsch nach Geheimhaltung vorrangig gewesen.
Perrin bezweifelte, daß selbst Aram, der wenige Schritt hinter ihnen auf seinem langbeinigen Grauen saß, ein Wort von dem gehört haben konnte, was Faile gesagt hatte. Berelain führte ihre weiße Stute auf Perrins andere Seite. Schweiß glänzte auf ihren Wangen. Durch eine Wolke von Rosenduft hindurch roch sie ebenfalls entschlossen. Ihm erschien es wie eine Wolke. Welch Wunder, daß ihr grünes Reitgewand nicht mehr Haut offenbarte als nötig.
Berelains beide Begleiterinnen blieben zurück, obwohl Annoura, ihre Aes Sedai-Beraterin, ihn unter ihrer Kappe aus dünnen, schulterlangen, mit Perlen geschmückten Zöpfen mit unlesbarer Miene forschend betrachtete. Nicht ihn und die beiden Frauen an seiner Seite. Besonders ihn. Sie schwitzte nicht. Er wünschte, er wäre nahe genug, um den Geruch der Grauen Schwester mit der Hakennase wahrnehmen zu können. Anders als die anderen Aes Sedai hatte sie niemandem etwas versprochen. Was auch immer solche Versprechen wert waren. Lord Gallenne, Befehlshaber von Berelains Beflügelten Wachen, war anscheinend eifrig damit beschäftigt, Bethai durch ein an sein einziges Auge gehobenes Fernglas zu betrachten und sich auf eine Weise mit seinen Zügeln zu schaffen zu machen, an der Perrin inzwischen erkannte, daß er tief in Überlegungen versunken war. Wahrscheinlich darüber, wie man Bethai gewaltsam einnehmen könnte. Gallenne erwog die schlechteste Möglichkeit stets als erste.
»Ich bin immer noch der Meinung, daß ich diejenige sein sollte, die sich Alliandre nähert«, sagte Berelain. Auch das hatte Perrin jeden Tag gehört. »Deswegen bin ich immerhin gekommen.« Das war einer der Gründe. »Annoura wird sofort eine Audienz gewährt bekommen und mich mit hineinbringen.« Ein zweites Wunder. Ihre Stimme hatte überhaupt nicht kokett geklungen. Sie schien dem Glätten ihrer roten Lederhandschuhe ebensoviel Aufmerksamkeit zu widmen wie ihm.
Welche? Das Problem bestand darin, daß er keine der Frauen erwählen wollte.
Seonid, die zweite Aes Sedai, die auf den Hügelkamm geritten war, stand ein Stück abseits bei ihrem kastanienbraunen Wallach neben einem hohen, von der Dürre ausgetrockneten Schwarzholzbaum und betrachtete nicht Bethai, sondern den Himmel. Die beiden helläugigen Weisen Frauen in ihrer Begleitung bildeten einen scharfen Kontrast dazu, die Gesichter im Gegensatz zu ihrem hellen Teint sonnengebräunt und hellhaarig, während sie dunkelhaarig war, groß, während sie klein war, ganz zu schweigen von ihren dunklen Röcken und weißen Blusen im Gegensatz zu ihrem edlen blauen Tuch. Halsketten und Armbänder aus Gold, Silber und Elfenbein schmückten Edarra und Nevarin, während Seonid nur ihren Großen Schlangenring trug. Sie waren jung, während sie alterslos war. Die Weisen Frauen und Seonid waren sich jedoch in ihrer Selbstbeherrschung gleich, und auch sie betrachteten den Himmel.
»Seht Ihr etwas?« fragte Perrin, womit er die Entscheidung hinausschob.
»Wir sehen den Himmel, Perrin Aybara«, antwortete Edarra ruhig, während ihr Schmuck leise klimperte, als sie die dunkle, über ihre Ellbogen geschlungene Stola richtete. Die Hitze schien die Aiel ebensowenig zu berühren wie die Aes Sedai. »Wenn wir mehr sähen, würden wir es Euch sagen.« Er hoffte es. Er glaubte es. Zumindest wenn es etwas wäre, wovon sie glaubten, daß Grady und Neald es vielleicht auch sehen könnten. Die beiden Asha'man würden es nicht geheimhalten. Er wünschte, sie wären hier anstatt im Lager.
Vor inzwischen mehr als einer halben Woche hatte ein durchbrochenes Gewebe der Einen Macht, das hoch über den Himmel zog, erhebliche Unruhe unter den Aes Sedai und den Weisen Frauen bewirkt. Und bei Grady und Neald. Eine Entwicklung, die wiederum noch größere Unruhe bewirkt hatte — Panik in dem Maße, wie Aes Sedai sie wahrscheinlich verspüren konnten. Asha'man, Aes Sedai und Weise Frauen behaupteten alle, sie könnten die Macht noch lange, nachdem das Gewebe verschwunden war, spüren, aber niemand wußte, was es bedeutete. Neald sagte, es erinnere ihn an Wind, obwohl er nicht sagen konnte warum. Niemand wollte eine entschiedenere Meinung äußern, und doch mußten die Verlorenen in großem Umfang am Werk sein, wenn die männliche und weibliche Hälfte der Macht sichtbar waren. Die Frage, was sie vorhatten, hatte Perrin in den vergangenen Nächten wach gehalten.
Er schaute wider Willen gen Himmel und sah natürlich nichts außer einem Paar Tauben. Plötzlich geriet ein Falke in Sicht, und eine der Tauben verschwand in einem Federregen. Die andere floh mit aufgeregtem Flügelschlag in Richtung Bethai.
»Seid Ihr zu einer Entscheidung gelangt, Perrin Aybara?« fragte Nevarin mit scharfem Unterton in der Stimme. Die grünäugige Weise Frau schien noch jünger zu sein als Edarra, vielleicht nicht älter als er selbst, doch sie besaß nicht im gleichen Umfang die Gelassenheit der blauäugigen Frau. Ihre Stola glitt ihre Arme herab, als sie die Hände in die Hüften stemmte, und er erwartete halbwegs, daß sie ihm mit dem Finger drohen würde. Oder mit der Faust. Sie erinnerte ihn an Nynaeve, obwohl sie einander gewiß nicht ähnelten. Nevarin hätte Nynaeve unbeholfen wirken lassen. »Was nützt unser Rat, wenn Ihr nicht zuhören wollt?« fragte sie. »Was nützt er?«
Faile und Berelain saßen aufrecht in ihren Sätteln, beide so stolz wie möglich, und beide rochen erwartungsvoll und verunsichert zugleich. Und verärgert darüber, daß sie verunsichert waren. Dieser Flecken gefiel ihnen beiden nicht. Seonid war zu weit entfernt, als daß er sie hätte riechen können, aber ihre zusammengepreßten Lippen verrieten hinreichend ihre Stimmung. Edarras Befehl, nicht zu sprechen, bis sie angesprochen wurden, erzürnte sie. Dennoch wollte sie gewiß, daß er den Rat der Weisen Frauen annahm. Sie sah ihn angespannt an, als könnte ihr nachdrücklicher Blick ihn in die Richtung drängen, die er einschlagen sollte. In Wahrheit wollte er sie erwählen, aber er zögerte. Wie weit war ihr Treueschwur Rand gegenüber wirklich belastbar? Nach dem, was er bisher gesehen hatte, stärker, als er geglaubt hätte, aber dennoch — wie weit konnte er einer Aes Sedai trauen? Die Ankunft von Seonids beiden Behütern gewährte ihm noch eine kurze Bedenkzeit.